Diese Erfolgsbilanz war nach Kriegsende nicht absehbar. Bis 1945 hatte sich ein wesentlicher Teil des deutschen Maschinenbaus auf Mitteldeutschland konzentriert. Vor allem Werkzeugmaschinen und Textilmaschinen kamen aus Thüringen und Sachsen, wobei der sächsische Textilmaschinenbau in bestimmten Bereichen geradezu ein Monopol hatte. Etwa 35 % der weltweiten Textilmaschinenausfuhr war sächsischen Ursprungs.4 Bis etwa 1900 hatte sich allein Chemnitz zum weltweit größten Zentrum des Textilmaschinenbaus entwickelt. Hartmann, Schönherr, Haubold, Schubert & Salzer, Schimmel und Voigt sowie Hunderte von Spezialfirmen bedienten die ganze Palette des Baus von Spinn-, Web-, Strick-, Wirk- und Stickmaschinen sowie von Anlagen für die Textilveredlung.5 Nicht minder bedeutend war der Werkzeugmaschinenbau. Auf diesem Sektor produzierten in den 1920er Jahren in Chemnitz über 300 Fabriken mit rund 40.000 Beschäftigten. Das Kriegsende mit der folgenden Teilung Deutschlands in Besatzungszonen machte das ganze Ausmaß dieser Ungleichverteilung sichtbar. Besonders deutlich zeigte es sich im Textilmaschinenbau.
Während in der britischen Zone mit dem rheinischen Textilmaschinenbau immerhin 22 % der deutschen Herstellungskapazitäten beheimatet waren, befanden sich in der amerikanischen und französischen Zone jeweils nur 7 %. In der sowjetischen Zone dagegen konzentrierte sich mit 63 % der weitaus größte Teil.6 Lieferungen von dort aber waren wegen der Kriegszerstörungen, der Demontagen und der Hemmungen durch die Zonengrenze „so gut wie ausgeschlossen“.7 Auf sie aber war gerade die Textilindustrie im Westen angewiesen, da sie überdurchschnittlich große Maschinenschäden zu verzeichnen hatte: In Mönchengladbach beispielsweise waren 77 % der Betriebe betroffen und lag der Zerstörungsgrad der Anlagen bei 54 % – gegenüber nur 54 % der Betriebe und 45 % der Anlagen in der Gesamtindustrie.8 Zur zumindest teilweisen Behebung des Mangels gab es zunächst keine andere Lösung, als die vorhandenen Maschinen zu reparieren. Anfang 1947 erhielten neun Betriebe das „große Permit“ zur Reparatur von Maschinen – während gleichzeitig Befürchtungen laut wurden, „dass die Reparaturbetriebe und die Zubehörhersteller manche Investitionen machen, die beim Zustandekommen eines einheitlichen deutschen Wirtschaftsgebietes ohne trennende ‚Besatzungsgrenzen’ in erheblichstem Umfange abzubuchen“ sein werden. Dennoch – intakte Maschinen waren erforderlich und ein Verzicht auf das Reparaturprogramm nicht möglich.9
10 Mit dem Export ganzer Maschinen würde sich allerdings noch mehr erreichen lassen als mit Ersatzteillieferungen. So stand 1948 hinter der Forderung nach einem raschen Ausbau der Textilmaschinenindustrie auch der Wunsch nach einer einträglichen Exportindustrie: „Deutschland soll es endlich erlaubt werden, für den Export Waren herzustellen, die die Welt wirklich braucht, und dazu gehören unter anderem in erster Linie moderne und leistungsfähige Textilmaschinen“.11
Es fehlte an Ersatzteilen für die Maschinen in Westdeutschland, aber auch für Maschinen aus deutscher Produktion im Ausland. In der Behebung dieses Mangels sah man bereits 1946 Chancen für die Erwirtschaftung von Exporterlösen, aus denen die unverzichtbaren Nahrungsmitteleinfuhren bezahlt werden konnten.Entsprechend der ungleichen Verteilung der einzelnen Sparten der Textilproduktion auf bestimmte Regionen Deutschlands waren in den westlichen Textilbetrieben manche Maschinenarten wenig oder gar nicht vorhanden und mussten für den Aufbau einer neuen Produktion erst beschafft werden. In begrenztem Umfang geschah dies durch den Kauf gebrauchter Maschinen aus dem Ausland, vermehrt aber durch Lieferungen aus der eigenen westdeutschen Textilmaschinen- und -zubehörindustrie. Einheimische Firmen nutzten die neue Chance und stießen in Produktionsbereiche vor, mit denen sie sich vor 1945 nicht befasst hatten. Die Firma Gottlieb Eppinger aus Denkendorf bei Stuttgart beispielsweise war 1925 als mechanische Werkstätte für Werkzeugschleifmaschinen gegründet worden. 1946 begann sie mit der Produktion von Strumpfautomaten und erlangte in den 25 Jahren bis 1971 auf diesem Gebiet Weltgeltung: Sie unterhielt Vertretungen in 46 Ländern. Die Fabrik in Denkendorf und ein Zweigwerk in Herbertingen/Kreis Saulgau beschäftigten 1.200 Mitarbeiter. Diese Leistung war natürlich aus den Nichts heraus nicht möglich. Im Nachruf auf den 1971 verstorbenen Firmengründer Gottlieb Eppinger findet sich der bezeichnende Satz, der Verstorbene habe sich als Gemeinderat und Mitglied des Kreistages „mit Energie und Hingabe“ der Heimatvertriebenen angenommen.12 Höchstwahrscheinlich kam das Fachwissen für die neue Produktion aus dem Kreis dieser Neubürger im Südwesten.
Der „eigentliche und schlimmste Engpaß“ in der Textilproduktion des Westens war die viel zu geringe Garnerzeugung, ohne deren Beseitigung „keine Aussicht, der Textilnot Herr zu werden“, bestand. Da auch auf dem Gebiet der Spinnmaschinen der sächsische Maschinenbau vor dem Krieg dominierte, nun aber nicht lieferfähig war, gab es nur eine Lösung, nämlich „im Westen den Bau von Spinnereimaschinen aufzuziehen“.17 Als einem der ersten Betriebe gelang es in Bremen der Firma Schiermeyer, „den in aller Welt bewährten sächsischen Streichgarnspinnerei-Maschinenbau für den Bedarf der Westzonen zu beleben.“ Gebaut wurden Krempeln und Selfaktoren. Die Initiative kam von dem Tuchfabrikanten Wilhelm Tempel, ursprünglich Eigentümer der Tuchfabrik Carl Müller in Spremberg (Niederlausitz). Die Ingenieure, „seit Jahrzehnten anerkannte Fachleute“, kamen aus Sachsen, was „die besten Voraussetzungen für Qualitätsarbeit“ bot.18
Der Textilmaschinenbau, aber auch der eingangs genannte Werkzeugmaschinenbau und andere Sparten konzentrierten sich nun in Westdeutschland mit einer Vielfalt, wie sie früher für Mitteldeutschland charakteristisch war. Wie viele Firmen letztlich die westdeutsche Wirtschaft bereicherten, ist noch nicht erforscht.20 Man kann aber davon ausgehen, dass erst dieser, durch die Politik der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED maßgeblich verursachte Ost-West-Transfer den Maschinenbau zur westdeutschen Schlüsselindustrie und Westdeutschland zum Exportweltmeister von Maschinen werden ließ. Der Transfer betraf im Übrigen nicht nur die Firmen und ihre Fachkräfte, sondern auch das Personal von Fachschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen einschließlich der Fachzeitschriften. So erschienen in den Nachkriegsjahren bis 1950 sämtliche deutschen Textilzeitschriften in Westdeutschland. Erst 1951 wurde diese Lücke seitens der DDR durch die Herausgabe der „Textil- und Faserstofftechnik“, 1957 umbenannt in „Deutsche Textiltechnik“, geschlossen.21
Die durch die Teilung erzwungene doppelgleisige Entwicklung der Wirtschaft in Deutschland verhinderte nach der Vereinigung auch auf dem Gebiet des Maschinenbaus eine Wiederbelebung der alten regionalen Arbeitsteilung zwischen West und Ost. Der ostdeutsche Maschinen- und insbesondere der Textilmaschinenbau war kapitalschwach, technologisch teilweise nicht auf dem neuesten Stand und vor allem nicht im Weltmarkt verankert, da er auf den Bedarf der RGW-Staaten22 ausgerichtet war. Gegenüber den westdeutschen und westeuropäischen Maschinenbauern hatte er nach der Wende zwangsläufig das Nachsehen.23
Heinz Gaschütz
Oswald Tietz
Alois Jendro
Annemarie Spaleck
Adolf Hergeth
Emil Jäger
Otto Spaleck