In diesen Zahlen spiegeln sich der große Bedarf an Kleidung sowie die Umstrukturierung der Bekleidungsindustrie als Ergebnis des Verlustes der Ostgebiete, der deutschen Teilung und des Zustroms von Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen nach Westdeutschland, schließlich die besondere Rolle dieser Industrie beim wirtschaftlichen Wiederaufbau.
Vor dem Krieg trug die ostdeutsche Bekleidungsindustrie maßgeblich auch zur Versorgung Westdeutschlands bei. Drei Zentren spielten hier eine besondere Rolle: Berlin, Breslau und Stettin. Berlin hatte – typisch für viele Hauptstädte – in fast allen Zweigen der Herstellung konfektionierter Kleidung eine führende Stellung und in der Fabrikation von Damenoberbekleidung nahezu ein Monopol. Bis 1939 lag der Umsatzanteil bei 85 %.2 Innerhalb der Stadt befand sich der Produktionsschwerpunkt in den Stadtteilen, die nach 1945 zum Ostsektor gehörten.3 In Breslau und Stettin wurde vor allem Herrenoberbekleidung gefertigt. Der Anteil beider Städte lag mit zusammen 20 % etwa gleichauf mit Berlin, wobei Breslau noch vor Stettin rangierte. Dort beschäftigten Mitte der 1920er Jahre etwa 200 Betriebe des Bekleidungsgewerbes rund 40.000 Menschen, z. T. fabrikmäßig in eigenen Werkstätten, viele aber auch in Heimarbeit.4
Abnehmer der Stettiner und Breslauer Konfektion waren die Industriegebiete an Saar, Rhein und Ruhr. Speziell das Ruhrgebiet erhielt seine Kleidung vorwiegend aus Breslau.5 Die Bevölkerungsverschiebung nach Westen und der Verlust der ostdeutschen Produktionsstandorte machten einen Neuaufbau der Bekleidungsindustrie im Westen unumgänglich. Ostdeutsche Unternehmer und Fachkräfte spielten dabei eine wesentliche Rolle: „Mit der Ausweisung der Firmeninhaber, der Direktricen, der Zuschneider, der Zwischenmeister und der Heimarbeiter ist keineswegs die Leistung zugrunde gegangen. Die Breslauer und Stettiner Firmen siedelten sich neu an.“6 Diese Neuansiedlung stärkte einerseits wie etwa in Ostwestfalen-Lippe alte Standorte der Textil- und Bekleidungsindustrie.7 Auf der anderen Seite ließ sie dort, wo der neuen Industrie Produktionsräume zur Verfügung gestellt wurden8, oder in Städten, die der Krieg nicht allzu sehr zerstört hatte, neue Bekleidungszentren entstehen. Wichtig war, vor allem bei geschlossenen Ansiedlungen, die Initiative und Unterstützung der Behörden. So wurde Lübeck in Schleswig-Holstein, wo es bis dahin überhaupt keine bekleidungsindustrielle Tradition gab, zu einem neuen Standort der Bekleidungsindustrie mit zahlreichen Niederlassungen von Firmen aus Königsberg, Danzig, besonders Stettin, aber auch Breslau, Sachsen und dem Sudetenland.9
Zum bedeutendsten Bekleidungszentrum des Ruhrgebiets entwickelte sich Gelsenkirchen. Die „Stadt der tausend Feuer“ war eine der typischen schwerindustriellen Großstädte des Reviers: Kohle und Eisen, mit Abstand gefolgt von Glas und Chemie, dominierten ihre Wirtschaft. Die Nachteile dieser Struktur bewegten den Sonderbeauftragten für den Wiederaufbau Dr. Fritz Wendenburg, der während seiner Tätigkeit in Breslau 1939-45 die dortige Bekleidungsindustrie kennen gelernt hatte, Breslauer und andere Bekleidungsbetriebe in Gelsenkirchen anzusiedeln. Als Leiter des Amtes für Wirtschaftsförderung holte er sie in einer systematischen Suchaktion zusammen mit Firmen aus Liegnitz, Stettin und Lodz in die Stadt, wo sie in wenigen Jahren das fünfte Standbein der Gelsenkirchener Industrie bildeten.13 Zu Beginn der 1950er Jahre beschäftigten sie in über 50 Firmen rund 6-7.000 Personen, vor allem angelernte Frauen.14 Begeistert schrieb ein Redakteur des Rheinischen Merkur bereits im September 1948:
„Mut und Energie haben gesiegt. Die [...] Ruhrkohle-Großstadt ist ein gewichtiges Zentrum der Bekleidungsindustrie geworden. [...] Wo – in einem ausgebrannten Warenhaus – vor wenigen Monaten noch Trümmerhaufen lagen, sausen heute vollautomatische Nähmaschinen in endloser Reihe und stoßen in einer für den Laien unvorstellbar kurzen Zeit Feilgenhauer-Modelle15 am Fließband aus, etwa 3000 ‚Erica’-Mäntel, 5000 Mädchenkleider ‚Vroni’ oder 7000 andere Entwürfe. Das leise Surren der Motoren der Dürkopp-Spezialkonstruktionen geht unter im Klang von Radiomusik, welche die Gruppenleiterinnen, Zuschneiderinnen und Rotorbüglerinnen beschwingt.“16
Als „Gelsenkirchener System“ wurde diese erfolgreiche Ansiedlungspolitik, bei der die Stadt die Firmen bei der Beschaffung von Betriebsräumen, Wohnungen und später Grundstücken für Neubauten stark unterstützte, weit über Gelsenkirchen hinaus bekannt.17 Hergestellt wurde vor allem „praktische und preiswerte Gebrauchskleidung.“ In Fachkreisen sprach man vom „Gelsenkirchener Genre“18 oder einem „Mittelgenre ohne Extravaganz vom Mantel und flotter Straßenbekleidung bis zu kessen Sport- und Kindersachen.“19 Durch die Ansiedlungspolitik der Stadt war dreierlei erreicht worden: eine sehr wirksame und spürbare Flüchtlingshilfe, ein Gegengewicht zur Schwerindustrie und neue Arbeitsplätze für viele bis dahin nicht im Erwerbsleben stehende Frauen und Mädchen.20
21 Aber auch dafür mussten die jungen Mädchen und alleinstehenden Frauen aus dem Revier erst angelernt werden.22 Zwar hatten sie fast alle durch die Mutter oder in den zahlreich angebotenen Nähkursen der Vereine, Kirchen oder Haushaltungsschulen die Fertigung von Näharbeiten und Kleidungsstücken gelernt. Die Arbeit als Näherin oder Zuschneiderin in der industriellen Fertigung unterschied sich davon jedoch deutlich. Als Bügler wurden überwiegend fachfremde männliche Arbeitskräfte eingesetzt. Da in der Nachkriegszeit noch mit schwerem Eisen gebügelt wurde, erhielten sie analog den Bergleuten Schwerstarbeiterzulagen und hatten dadurch die Möglichkeit, gehaltvollere Nahrung zu bekommen.
Bis zur Währungsreform und dem Einsetzen des Marshallplans im Jahre 1948 mangelte es an Maschinen und Rohstoffen wie Meterware und Knöpfen oder Futter. Die bisherigen Handelsbeziehungen mit Zulieferfirmen und Kunden mussten neu geknüpft werden. Hauptlieferanten von Stoffen wurden Aachener und Mönchengladbacher Firmen, die sich ebenfalls in der britischen Besatzungszone befanden. Manch ehemaliger Geschäftspartner saß jetzt jedoch in einer anderen Besatzungszone und statt Binnenhandel zu treiben, galt es, einen komplizierten Außenhandel zu organisieren. Vor allem aber fehlten qualifizierte Fachkräfte. Schneidermeisterinnen und -meister standen nicht in der Zahl zur Verfügung wie an traditionellen Bekleidungsstandorten. Auf eine Wiederbelebung des alten Heimarbeiter- und Zwischenmeistersystems wurde daher weitgehend verzichtet, die Produktion von vornherein vorwiegend industriell aufgezogen.Dem Aufschwung der späten 1940er und frühen 50er Jahre folgte die Modernisierung und Rationalisierung der Produktion. Spätestens jetzt kamen, wie in der Wäsche- und Arbeitskleidungsproduktion oder in Teilen der Herrenkonfektion in den 1920er und 30er Jahren erprobt, auch bei der Oberbekleidungsfertigung Fließbänder zum Einsatz. Der gesamte Produktionsablauf wurde beschleunigt und vertaktet. Größere Unternehmen verfügten über mehrere Bänder, an denen zum Teil verschiedene Produktionsserien liefen. Der Arbeitsprozess, die Herstellung von Bekleidung wurde analysiert und in möglichst kleine funktionsspezifische Einzelschritte zergliedert und diese zeitlich koordiniert. Jeder Arbeitsschritt bekam eine genaue zeitliche Vorgabe und die einzelne Arbeitskraft erledigte nur einen Arbeitsschritt. Die ständige Wiederholung des Bewegungsmusters sollte die Fingerfertigkeit erhöhen und damit Zeit sparen. Die Beschäftigten waren jetzt ein Kostenfaktor, der möglichst gering zu halten war. Alle menschlichen Regungen und Bedürfnisse wurden dabei nur als störend empfunden. Die Entlohnung der Beschäftigten verlief über Akkord, der, anders als in anderen Branchen, keine Obergrenze kannte.
Vorbilder fanden die Bekleidungsfabrikanten in den USA. Studien brachten Wissen über rationelle Fertigungsmethoden und konnten in den neuen Kleiderfabriken gemäß dem amerikanischen fordistischen Vorbild umgesetzt werden. In Gelsenkirchen war es Harald Feilgenhauer, der mit seinen „amerikanischen Methoden“ für manche der Branche als Vorbild galt. Angeregt durch Studienreisen in die USA, baute er nach der Enteignung des väterlichen Betriebes in Dresden zusammen mit seinen Eltern in Gelsenkirchen bis 1950 einen der modernsten mittelständischen Betriebe mit rund 1.000 Beschäftigten auf. In der Bekleidungsunion Feilgenhauer fand die Produktion nun in großen Fabriksälen statt, deren Zuschnitt, Farbe und Gestaltung die Arbeitsbereitschaft unterstützen sollten. Auch betriebliche Sozialleistungen, wie die Betriebskantine mit subventioniertem Essen oder die Werksärztin, übernahm er nach amerikanischem Vorbild.23
Dass die immer besser sitzende Fertigkleidung bei den Käuferinnen und Käufern zunehmend Anklang fand, unterstützte die erfolgreiche Entwicklung hin zu einer industriellen Produktionsstruktur. Das deutsche „Fräuleinwunder“ musste und wollte nicht mehr selbst schneidern. Nachdem der Grundbedarf an Kleidung gedeckt war, kurbelte der Wunsch, nach der neuesten Mode gekleidet zu sein, das Käuferinneninteresse weiter an, bis der der „Fresswelle“ folgende „Kleiderhunger“ schließlich gestillt war.
Das stärkste Wachstum der Bekleidungsindustrie fand bis Mitte der 1950er Jahre statt und ging einher mit wachsenden Anforderungen an die Beschäftigten in den Kleiderfabriken. Die Presse veröffentlichte Bilder von großen Nähsälen mit unzähligen Arbeitsplätzen an der Nähmaschine, die hintereinander angeordnet und auf ein Transportband ausgerichtet waren. Auffällig ist die Enge der jeweiligen Arbeitsplätze. Expandierte ein Betrieb in den Jahren des Bekleidungsbooms, wurden weitaus mehr Arbeitsplätze eingerichtet, als dafür beim Bau des Gebäudes vorgesehen war. Die ergonomische Ausgestaltung der Arbeitsplätze war in der Produktion nicht vorgesehen. Die Näherinnen saßen auf Holz- oder Küchenstühlen. Die Nähtische oder Bügelblöcke konnten in den wenigsten Fällen individuell eingestellt werden. Die Folgen waren berufstypische Verschleißerscheinungen des Bewegungsapparates. Hinzu kamen der Lärm der (Näh-) Maschinen, Transportbänder und Schiebekästen sowie der Stress, sich auch bei schlechter Befindlichkeit an das Tempo des Taktbandes anpassen zu müssen oder von der Toilette geholt zu werden, wenn das Band zu stoppen drohte. Dabei herrschte immer die Angst, nicht die nötige Stückzahl zu erreichen. Um dann wieder den Anschluss zu erreichen, wurde unter Umständen auch die Pause durchgearbeitet. Die Folge war ein hoher Krankenstand in der Branche. Dem wachsenden Leistungsdruck in der Kleiderfabrik konnten nur noch junge, unverbrauchte Arbeitskräfte standhalten. Ende der 1950er Jahre wurden die Arbeitsmediziner auf die Bedingungen in der Bekleidungsindustrie aufmerksam. Bei Betriebsbesichtigungen traten zum Teil erschütternde Zustände zutage von Arbeiterinnen, die während der Pause, als das Band angehalten wurde, vor Erschöpfung an ihren Arbeitsplätzen sitzen blieben und deren Hände zwar ruhten, aber deren überanstrengte Nerven immer noch dem Takt des Fließbandes gehorchten.24
25 Neu für die Gelsenkirchener war aber nicht nur der Streik an sich, sondern die starke Präsenz der streikenden Frauen in der Öffentlichkeit und die Art, wie sie sich präsentierten – etwa als Kinderwagen schiebende oder Rollschuh fahrende Streikposten.
führte in den 1950er Jahren zu Verhandlungen zwischen den Arbeitgebern und der zuständigen Gewerkschaft Textil Bekleidung über die Regelung der Fließbandarbeit und zumutbare Akkordbestimmungen. Auch die insgesamt schlechte Bezahlung der Branche – die Bekleidungsindustrie lag damals auf Rang 39 der Lohnskala von 41 Industriegruppen – sollte verbessert werden. In diesem Zusammenhang kam es 1961 zu einem bedeutenden Streik in Gelsenkirchen. In der Auseinandersetzung um Arbeitszeitverkürzung von 43 auf 40 Wochenstunden blieben die Tarifverhandlungen ergebnislos und Beschäftigte der Gelsenkirchener Bekleidungsindustrie setzten mit ihren Arbeitsniederlegungen eine Stunde Arbeitszeitverkürzung sowie Lohnerhöhungen durch. Dieser Streik war sowohl für die Gelsenkirchener Bekleidungsfabrikanten als auch für die Gewerkschaft Textil Bekleidung vor Ort ein Novum: Erstmals führte sie einen Arbeitskampf in einem Bereich, der nicht nur als schwer organisierbar galt. Man war sich auch nicht sicher, ob die (verheirateten) Frauen die Arbeit tatsächlich niederlegen würden. Aber sie taten es und korrigierten das lange in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild von der leichten, für Frauen geeigneten Tätigkeit in der Bekleidungsindustrie, indem sie die schwere Arbeitsbelastung durch die fließende Fertigung, die wenigen und kurzen Pausen sowie die schlechte Bezahlung bekannt machten. Dabei kam ihnen die Unterstützung der Mehrheit der Presse zu Gute: „Auch Näherinnen können kämpfen“, lautete etwa die Überschrift eines Artikels in der Westfälischen Rundschau.Obwohl in den 1960er Jahren deutliche Verbesserungen der Löhne und Gehälter in der Bekleidungsindustrie durchgesetzt werden konnten, reichte der Verdienst der einzelnen Frau kaum für eine eigenständige Existenz. Die Folge waren Abwanderungen in andere Branchen, die mehr bezahlten oder bessere Arbeitsbedingungen boten. Die Bekleidungsunternehmer beklagten seit den 1960er Jahren den Arbeitskräftemangel, der mit zu Verlagerungen von Bekleidungsstandorten in (kostengünstigere) ländliche Gebiete führte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der Niedergang der Bekleidungsindustrie bereits begonnen: 1957 nahm die Nachfrage nach Bekleidung erstmals ab. Das Jahr 1958, im Revier als Jahr der beginnenden Kohlekrise bekannt, war zugleich ein Jahr der „Textilkrise“. Im Mai 1958 berichtete die Westfälische Rundschau von Kurzarbeit in fast allen Gelsenkirchener Bekleidungsunternehmen.26 Die Zahl der Beschäftigten sank zwischen 1957 und 1958 um rund 800 auf 4.400 Personen. Auch das Umsatzvolumen ging im gleichen Zeitraum um 13 Millionen auf 86 Millionen zurück.27 Von den 47 Gelsenkirchener Bekleidungsunternehmen mussten fünf schließen. Im Krisenjahr 1958 kam es allerdings auch zu einer erfolgreichen Unternehmensgründung in Wattenscheid. Klaus Steilmann übernahm seinen ersten Betrieb, eine Bekleidungsfabrik mit 40 Beschäftigten, die bis dahin Herrenanzüge herstellten. Bereits im zweiten Geschäftsjahr lag der Umsatz bei 7 Millionen DM. Mit der Produktion von höherwertigen Damenmänteln, Kostümen und Kinderkleidung konnte er weiter expandieren. Es folgte die Übernahme von weiteren Betrieben. Die Zentrale blieb in Wattenscheid, wo Steilmann 1961 einen Neubau errichtete.28
Heute gibt es in Gelsenkirchen nur noch wenige Arbeitsplätze in der Bekleidungsindustrie. Die Branche organisiert die Herstellung von Bekleidung nun im Rahmen eines globalisierten Produktionsprozesses. Vor allem die Frauenarbeitsplätze in der Fertigung sind zunehmend nach Osteuropa und Asien verlagert worden.
Klaus Steilmann
Marianne Jedamczik
Lotte Neumann
Gertrud Jung