Tatsächlich stand der Ruhrbergbau Ende 1947 vergleichsweise gut da: Die Nachkriegsengpässe in der Kohlenversorgung nahmen ab, das im Krieg zerstörte Transportsystem funktionierte wieder einigermaßen, die Belegschaftsstärken hatten zugenommen und die Versorgung der Bergleute und ihrer Familien besserte sich mit der Einführung von Sonderzulagen allmählich. Mit der Gründung der Deutschen Kohlenbergbauleitung (DKBL) hatten die von den Alliierten beschlagnahmten Bergwerke wieder eine deutsche Verwaltung erhalten, die allerdings weiterhin unter alliierter Kontrolle stand.2 Gleichwohl produzierten die Bergwerke Ende 1947 im Vergleich zu 1938 nur die Hälfte der Kohle und ein Drittel des Kokses.3 Die Förderziffern blieben auch danach schwankend und hielten mit den Anforderungen einer Wirtschaft im Wiederaufbau nicht Schritt. Die Anlagen waren über und unter Tage veraltet, Kapitalinvestitionen für eine dringend gebotene Modernisierung erfolgten wegen der unsicheren Eigentumslage zunächst nicht: Briten und weite Kreise der deutschen Bevölkerung hatten sich nach Kriegsende für eine Sozialisierung der Industrie ausgesprochen. Das Führungspersonal war nur noch unvollständig vorhanden, da die Briten die Organisationen des Ruhrbergbaus aufgelöst hatten und seine Führungskräfte teilweise im Gefängnis, teilweise untergetaucht waren.4 Da sich auch viele Betriebsführer und Steiger während der Entnazifizierungsprozesse bedeckt hielten, waren es oftmals die Arbeitnehmervertreter, die die Betriebe wieder in Gang setzten.5 Als erste Gewerkschaft durfte sich daher im Dezember 1946 die Gewerkschaft der Bergarbeiter, der Industrieverband Bergbau, wieder gründen, der ein Jahr später dann auch bei der DKBL mitwirkte.6 Vor allem aber mangelte es an Arbeitskräften.
7 Schon im Frühjahr 1945 forderten die Briten, in deren Besatzungszone NRW lag, Zechen, Arbeitsämter und Knappschaft auf, ehemalige Bergleute aufzufinden und in den Bergbau zurückzuführen. Im Sommer 1945 folgte die „Operation Coalscuttle“ (Kohlenschütte): Die Briten durchsuchten ihre Kriegsgefangenenlager in Deutschland und entließen jeden ins Ruhrgebiet, der angab, Bergmann zu sein oder auf einer Zeche gearbeitet zu haben. Bis Ende August wurden so 35.000 Männer gewonnen.8 Von denen, die sich meldeten, war aber nur ein Teil tatsächlich grubentauglich. Andere hatten sich als Bergleute ausgegeben um entlassen zu werden und setzten sich unterwegs ab.9 Auch die Dienstverpflichtungsaktionen der Arbeitsämter brachten nicht den gewünschten Erfolg: Bis März 1946 hatten sie dem Bergbau zwar 60.000 Männer zugeführt, von denen allerdings am Ende des Monats nur noch 18.000 übrig waren.10
und zu verjüngen, zählte zu den dringendsten Aufgaben. Mit der Befreiung der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter hatte sich die Belegschaftsstärke im Ruhrbergbau von über 250.000 auf etwa die Hälfte reduziert, das Durchschnittsalter der Bergleute lag 1946 bei 43 Jahren.Schon im August 1945 schlugen daher unter anderem die Krupp-Werke Essen vor, doch lieber auf Freiwillige zurückzugreifen, etwa aus dem Kreis der Flüchtlinge und Vertriebenen: „Vorzugsweise sollte man heimatlose Leute nehmen, vielleicht solche aus den heute russischen Gebieten, die gewillt sind, den Bergmannsberuf zu ergreifen.“11 Auch die Arbeitsverwaltungen bemühten sich von Anfang an, Flüchtlinge für den Bergbau zu gewinnen, obwohl die Flüchtlingsströme wegen fehlender Unterkünfte zunächst an NRW vorbeigelenkt wurden. Für bergbautaugliche Flüchtlinge und Vertriebene galt die Zuzugssperre allerdings nur bedingt. Seit Oktober 1945 erfasste das Landesarbeitsamt bergbautaugliche Flüchtlinge gesondert, die sich auf jederzeitigen Abruf ins Ruhrgebiet bereithalten mussten.12
Flüchtlingen und Vertriebenen in den Ruhrbergbau: Mit Hilfe des Roten Kreuzes versuchten sie, im Rahmen der Familienzusammenführung einen Teil der Männer, die die Russen und Polen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten als Arbeitskräfte zurückbehalten hatten, ins Revier zu holen. Dazu richtete die Außenstelle Bergbau des Landesarbeitsamtes sogar eine Tarnadresse in Nordrhein-Westfalen ein.13 Im Ruhrgebiet selbst riefen die Briten die „Operation SUDS“ ins Leben: 11.000 Sudetendeutsche sollten im District IV (Essen) als Bergleute eingesetzt werden, die ersten von ihnen schon am 11. August eintreffen.14 Alles war vorbereitet – der Transport, die medizinische Untersuchung, die Kontaktaufnahme mit den Wohnungsämtern – aber das Unternehmen scheiterte letztlich an der Wohnungsfrage.15 Drei Viertel der Bergarbeiterwohnungen waren kriegszerstört.16 Es gab noch nicht einmal genug Wohnraum für die Einheimischen, geschweige denn für Zehntausende von Neubergleuten. Bereits im Herbst 1945 hatten die Briten mit dem Gedanken gespielt, „80000 für die Produktion nicht notwendig erscheinender Menschen zugunsten von 30000 Bergleuten mit Familien aus den Flüchtlingslagern, vor allem aus Schleswig-Holstein“, aus dem Revier zu evakuieren. 17 Wegen der zu erwartenden Widerstände in der Bevölkerung und der nicht lösbaren Transportprobleme ließen sie diesen Plan jedoch wieder fallen.
um eine gezielte Zuweisung vonMangelnder Wohnraum blieb auch in den folgenden Jahren ein Problem, das die Rekrutierung neuer Bergleute immer wieder ausbremste. Dennoch waren schon bis 1948 die Hälfte der durch die zentrale Sammelstelle in Essen-Heisingen geschleusten Neubergleute Flüchtlinge und Vertriebene, die unter anderem in ehemaligen Zwangsarbeiterlagern mehr als provisorisch untergebracht wurden.18
Mit der Währungsreform vom Juni 1948 besserte sich zwar die allgemeine Versorgungslage in Westdeutschland. Der Bergbau profitierte davon jedoch kaum: Kohle musste billig bleiben, damit die anderen Industrien schnell aufgebaut werden konnten. Sie unter Preis zu verkaufen behinderte jedoch Investitionen in die Zechen und in den Wohnungsbau. Andererseits konnten durch die Währungsreform und das Flüchtlingsgesetz von 1948 staatliche Wohnungsbauprogramme aufgelegt werden, die auch dem Bergbau zu Gute kamen, etwa durch die Instandsetzung beschädigter Arbeiterwohnungen oder die Schaffung von Wohnraum für Flüchtlinge und Vertriebene. Das ermöglichte erste größere Rekrutierungs- und Umsiedlungsaktionen aus den Aufnahmeländern in die Industrien NRWs, die auch dem Bergbau bis Mitte der 1950er Jahre Zigtausende von Flüchtlingen und Vertriebenen zuführen sollten.19
Eine der ersten Gruppen, die planmäßig und im großen Stil angeworben wurden, waren Jugendliche, die die Belegschaften verjüngen, ihre Qualifikation verbessern und zu neuen, leistungsfähigen Belegschaften zusammenwachsen sollten.20 Politik und Arbeitsverwaltungen sahen hier gleichzeitig eine Chance, sowohl die Flüchtlingsaufnahmeländer zu entlasten als auch den Jugendlichen Perspektiven zu bieten, die sie dort nicht hatten, denn in den ländlich strukturierten Aufnahmegebieten waren Arbeits- und Ausbildungsplätze rar. Ab 1949 richteten Arbeitsämter und DKBL Patenbezirke für die einzelnen Bergwerksgesellschaften ein, wo Ausbildungssteiger regelmäßig Informationsveranstaltungen, Filmabende und Vorkurse für Schulabgänger abhielten.21 Das System der Patenbezirke erwies sich bald als erfolgreich: Zwischen 1949 und 1951 wuchs die Anzahl der jährlich im Ruhrbergbau eingestellten Jugendlichen von 3.312 auf 9.199.22 Insgesamt verdreifachte sich zwischen 1947 und 1950 der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an den Bergbau-Belegschaften.23
24 Die Bundesregierung reagierte darauf mit dem Import von Kohle und Heizöl aus dem Ausland und läutete damit langfristig das Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus ein. Gleichzeitig forderte und erhielt die DKBL aber auch massive Investitionshilfen, um durch eine Modernisierung der Tagesanlagen, eine Vergrößerung der Kraftwerksanlagen und eine Mechanisierung der Arbeit unter Tage die Produktivität nachhaltig zu steigern sowie durch einen forcierten Wohnungsbau Raum für den weiteren Ausbau der Belegschaften zu schaffen.25 NRW blieb bei der Förderung seiner traditionellen Industrien.
platzte Weihnachten 1950 die erste Energiekrise: Die Lichter gingen aus, die Industrie musste ihren Stromverbrauch drosseln, die Bundesbahn schränkte ihren Reiseverkehr ein. Die Koreakrise verschärfte die Versorgungslage weiter, denn nun kam auch die bislang von Demontagen bedrohte Stahlindustrie wieder in Schwung und erhöhte den Kohlenbedarf zusätzlich.Mittlerweile hatte sich auch die Rechtslage geklärt: 1947 wurden britische und amerikanische Besatzungszone zur Bizone zusammengelegt, das bislang britische Kontrollorgan des Bergbaus, die North German Coal Control (NGCC) zum gemeinsamen Kontrollorgan (UK/US Coal Control Group) erweitert. Durch den Einfluss der Amerikaner verlagerte sich in der Frage der Neuordnung des Bergbaus der Schwerpunkt weg von der Sozialisierung und hin zur Entflechtung und Mitbestimmung. Französische Bemühungen führten zu einer schrittweisen Einbindung der deutschen Montanindustrie in die 1952 gegründete „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, der Keimzelle der heutigen EU.26 Die Entflechtung regelten zwei Gesetze der Militärregierung in den Jahren 1948 und 1950. Die Montanmitbestimmung trat 1951 als Bundesgesetz in Kraft und wurde in den Gesellschaften, die sich nach der Entflechtung bis 1954 neu gründeten, umgesetzt.27 Damit waren Unternehmer und Arbeitnehmer nun gemeinsam für die Entwicklung der Industrie verantwortlich und trotz massiver Differenzen in vielen Punkten am Aufbau neuer, stabiler Stammbelegschaften gleichermaßen interessiert: Nur mit gut ausgebildeten und sesshaften Bergleuten ließ sich die Produktivität der Betriebe und das Einkommen der Belegschaften erhöhen, das Unfallrisiko gering halten und – das war vor allem für die Arbeitnehmervertreter wichtig – wieder eine schlagkräftige Interessenvertretung aufbauen.28
29 Zusätzlich bereiste Heinrich Kost, Direktor der DKBL, 1952 die Flüchtlingslager und legte im Jahr darauf einen Plan vor, wie die dort noch untergebrachten arbeitsfähigen Flüchtlinge und Vertriebenen auf die Industrien verteilt werden könnten. Ziel war, die Lager möglichst schnell zu leeren, um Platz für die vielen neuen DDR-Flüchtlinge zu schaffen und gleichzeitig viele dieser DDR-Flüchtlinge, die zu einem hohen Prozentsatz aus jungen Männern bestanden, für den Bergbau zu gewinnen.30 Als quasi letztes Aufgebot griff die DKBL 1953 auf die Siebenbürger Sachsen zurück, die in Österreich seit Kriegsende festsaßen. Mit dem Versprechen, für sie und ihre Familien geschlossene Siedlungen zu bauen, wenn sie sich für 20 Jahre im Bergbau verpflichteten, holte die DKBL im Rahmen der „Kohleaktion“ mehrere hundert Siebenbürger Sachsen in die westdeutschen Bergbaureviere und baute für sie drei Siedlungen in Aachen-Setterich, Oberhausen-Osterfeld und Herten-Langenbochum.31 Damit war das Reservoir der Flüchtlinge und Vertriebenen für den Bergbau erschöpft. 1954 wurden die Großbedarfsträgerprogramme für diese Industrie zurückgefahren, weil „nicht genügend bergbautaugliche Umsiedler namhaft gemacht werden konnten“.32 1955 schloss die Bundesregierung mit Italien das erste „Gastarbeiter“-Anwerbeabkommen. Drei Jahre später setzte mit der ersten Kohlenkrise der Strukturwandel im Bergbau ein.
Bis 1953 brachten die so genannten „Großbedarfsträger“-Programme, eine Mischung aus Umsiedlung und Arbeitsvermittlung, durch die die Flüchtlingsaufnahmeländer entlastet und so genannte „Großbedarfsträger“ wie der Bergbau, die Stahlindustrie, die Bundesbahn und die Bundespost mit zusätzlichen Arbeitskräften versorgt werden sollten, Tausende neuer Bergleute ins Revier.Zählt man alle Zugänge im Bergbau zwischen 1948 und 1953, dem Jahr, in dem die DKBL aufgelöst wurde und die Förderung wieder den Stand von 1938 erreichte, so wurden per Monat durchschnittlich zwischen 5 und 6.000 neue Bergleute angelegt und die Belegschaften unter Tage um insgesamt 391.000 Neuzugänge erweitert. Der Nettozugewinn betrug allerdings nur 75.000 Personen, da die meisten Neubergleute, wie auch die von auswärts angeworbenen Berglehrlinge nach Abschluss ihrer Lehre, den Bergbau recht schnell wieder verließen.33 Die hohe Fluktuation blieb ein Dauerproblem, das sich ab 1953 eher verschärfte als abmilderte, während die Nettozugewinne weiter sanken: „Während die Zahl der Beschäftigten im Ruhrbergbau seit Beendigung des Krieges bis 1953 von Jahr zu Jahr anstieg, war in den Jahren 1954 und 1955 ein Rückgang zu verzeichnen. Auf Grund der allgemeinen guten Beschäftigungslage wechselten wertvolle Arbeitskräfte zu anderen Industriezweigen über, weil zweifellos ein genügender Anreiz für den Bergbau fehlte.“34 Mit dem Aufschwung erst der Stahl-, dann der Konsumgüterindustrie boten sich deutlich attraktivere Alternativen, die insbesondere die Flüchtlinge und Vertriebenen auch wahrnahmen. Sie hatten zum größten Teil keinen Bergbauhintergrund, und die Arbeit im Bergbau bedeutete für die meisten einen sozialen Abstieg, den sie allenfalls vorübergehend gewillt waren hinzunehmen.35 Abschreckend waren außerdem das durch einen rüden Umgangston bestimmte schlechte Sozialklima, die Unübersichtlichkeit der Lohnberechnung und eine oftmals unzureichende Einführung in die Arbeit.36
Das war auch der DKBL schon bekannt, und so hatte sie, wenngleich sie die Methoden der Betriebsführung nicht anzutasten wagte, zumindest „eine wirklich um den Menschen bemühte soziale und kulturelle Betreuung“37 gefordert. Eine solche Betreuung fand statt und hatte zwei Schwerpunkte, die beide auf „Sesshaft-Machung“ abzielten: Zum einen sollten über den Wohnungsbau nicht nur Heime, sondern auch Heimaten geschaffen, zum anderen über eine Modernisierung und Popularisierung der bergmännischen Traditionen neue und alte Bergleute in die Kultur der Industrie eingebunden werden.
Die Versorgung mit Wohnraum konnte nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Förderung des Bergarbeiterwohnungsbaus vom 23.10.1951 endlich forciert werden. Das Gesetz sah eine Verbraucherabgabe von 2 DM auf den Verkaufspreis der Tonne Kohle vor, die dem Bergarbeiterwohnungsbau zu Gute kam. Der „Kohlepfennig“ erbrachte bis zu seinem Auslaufen Ende 1959 1.412 Millionen DM. Im Ruhrbergbau entstanden durch ihn 163.000 Wohnungen für Bergleute, darunter fast 50.000 Eigenheime.38 Die Eigenheimförderung spielte eine große Rolle, da man sich erhoffte, dass das eigene Heim die Bindung an den Bergbau fördern würde.39 Die Architektur sollte diese gewünschte „Verwurzelung“ unterstützen: Bevorzugt wurde der seit den 1920er Jahren verbreitete Kleinsiedlerhaustyp mit Giebelhäusern, Nutzgärten und Ställen sowie einer großen Wohnküche, der in seiner gediegenen Bescheidenheit das Ziel der „Heimatschaffung“ offenbar besser zum Ausdruck brachte als modernere Alternativen.40
„Auf den Bergmann kommt es an“ war Losung und Lösung nicht nur für die unmittelbare Nachkriegszeit, sondern bis weit in die 1950er Jahre. Mehr Kohle gab es nur mit mehr Bergleuten, und mehr Bergleute gab es bis Mitte der 1950er Jahre vor allem aus dem Kreis der Flüchtlinge und Vertriebenen. Zwischen 1950 und 1961 hatte – trotz Fluktuation – jeder vierte bis fünfte Bergmann einen Flüchtlingshintergrund.47 Nur mit ihnen konnte der Bergbau seine Aufgabe als Schlüsselindustrie erfüllen – und nicht zuletzt wegen ihnen modernisierte er seine Sozialpolitik und entwickelte eine Kulturpolitik, die dem Revier erstmals auch eine kulturelle Identität gab.
Heinz Preuß
Gernot Bauer (Name geändert)
Klaus Kath
Hans Bartesch
Hubert Formella
Eberhard Lipski
Konrad Berger