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Ankunft: Ablehnung und Hilfsbereitschaft

Björn Zech


Ein Vertriebenentransport nach Ankunft im Westen.
Ein Vertriebenentransport nach Ankunft im Westen. Foto: Sudetendeutsches Archiv, München.

Im Westen angekommen

Im Westen angekommen, waren Flüchtlinge und Vertriebene zwar in Sicherheit, aber nicht unbedingt willkommen: „Flüchtlingsschweine“, „Pollacken“, „Rucksackdeutsche“ oder „40kg-Zigeuner“ sind einige der Bezeichnungen, mit denen sie „begrüßt“ und gleich wieder ausgegrenzt wurden. Offizielle Begriffe wie „Heimatverwiesene“, „Neubürger“, „Ausgewiesene“ oder „Aufzunehmende“ bemühten sich zwar um mehr Präzision und Neutralität, waren aber viel zu bürokratische Wortgebilde, um ihren Weg in die Lebenswirklichkeit der Menschen zu finden.1 Statt freundlich empfangen zu werden, stießen die „Fremden“ auf Ablehnung.

Die Flüchtlinge und Vertriebenen befanden sich nun in einem kriegszerstörten Land, das mit der Aufnahme von Millionen mittelloser Menschen vor immense Herausforderungen gestellt wurde. Das gilt insbesondere für Nordrhein-Westfalen. Zuwanderung aus dem Osten war hier seit der Industrialisierung zwar nichts Neues, und auch vor 1945 waren viele Arbeitsmigranten nicht freiwillig gekommen – etwa die Zwangsarbeiter in den beiden Weltkriegen. Alle früheren Zuwanderungswellen waren jedoch vom Bedarf an Arbeitskräften bestimmt und erfolgten, während die Industriegesellschaft an Rhein oder Ruhr auf- oder ausgebaut wurde. Die Zwangsmigration nach 1945 endete dagegen in einer in Trümmern und Not lebenden „Zusammenbruchgesellschaft“2, die in den Industrieregionen Nordrhein-Westfalens nach dem Bombenkrieg besonders ausgeprägt war.

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Die Neuankömmlinge wurden auf ihrer ersten Station im Westen registriert, ärztlich untersucht und desinfiziert. Viele empfanden diese Behandlung als entwürdigend.
Die Neuankömmlinge wurden auf ihrer ersten Station im Westen registriert, ärztlich untersucht und desinfiziert. Viele empfanden diese Behandlung als entwürdigend. Foto: Stadtarchiv Furth im Wald.

Zuzugssperren in Ruhrgebietsstädte

Für diese Regionen wurden daher zunächst Zuzugssperren verhängt und die Flüchtlingsströme und Vertriebenentransporte vorwiegend in die ländlichen Regionen Niedersachsens, Bayerns oder Schleswig-Holsteins gelenkt, wo es weniger Bombenschäden und eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln gab. Wer ohne Zuzugsgenehmigung nach Nordrhein-Westfalen einreiste, konnte sich nicht beim Einwohnermelde- oder Arbeitsamt registrieren und hatte damit auch keinen Anspruch auf die dringend notwendige Lebensmittelkarte.3 Viele reisten dennoch als sogenannte „illegale Zuwanderungen“4 ein – oft um bei hier lebenden Verwandten oder Freunden Unterschlupf zu finden. Erst im Herbst 1946 kam es verstärkt auch zu offiziellen Ansiedlungen, vor allem in den Kleinstädten und Dörfern der Randgebiete Ost-Westfalen, Lippe oder dem Sauerland.

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Auf dem Land

Mit der Einquartierung der Flüchtlinge und Vertriebenen auf dem Land zeigte sich, dass ihre Aufnahme nicht nur materielle Probleme wie Unterbringung, Versorgung und Arbeitsbeschaffung nach sich zog. Viele Dörfer waren vom Krieg völlig unberührt geblieben, doch das Eintreffen von Flüchtlingen und Vertriebenen machte den Einheimischen bewusst, dass nun auch sie vor einer Krisen- und Umbruchsituation standen.5 Zahlreiche Dorfbewohner empfanden die große Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen als Bedrohung der geschlossenen Lebenswelt des Dorfes und seiner „alteingewurzelten Lebensordnung“.6 Die Flüchtlinge und Vertriebenen ließen die Einwohnerzahlen mitunter sprunghaft ansteigen, wodurch die Dörfer ihr Gesicht veränderten und ihre alte soziale Geschlossenheit verloren. Oft waren die neuen Einwohner Angehörige der jeweils anderen Konfession, die mit der Zeit eigene Kirchen bauten. Andere gingen gar nicht in die Kirche und trugen damit zur fortschreitenden Säkularisierung bei. Neben der Religionszugehörigkeit brachten Flüchtlinge auch fremde Bräuche, Dialekte und Lebenserfahrungen mit. Wenn sie ihre alten Berufe ausübten, beschleunigten sie die Vergewerblichung und Industrialisierung des ländlichen Raumes.7 Dadurch halfen die Flüchtlinge andererseits bei der Bewältigung der landwirtschaftlichen Strukturkrise der fünfziger Jahre. Insgesamt wurden sie in den ländlichen Gemeinden zu einem „gewichtigen Modernisierungsfaktor“.8 Diese massive Umgestaltung der Dorfgemeinschaften als Folge der Zuwanderung ging bereits in den fünfziger Jahren als „Revolution des Dorfes“9 in die Literatur ein.

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In der Stadt

Die schrittweise Ansiedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen in den Ruhrgebietsstädten erfolgte in dem Maße, in dem insbesondere der Bergbau neue Arbeitskräfte rekrutierte. Flüchtlinge und Vertriebene waren eine „manövrierbare Masse“10, die mit einfachen Mitteln dem Bedarf des Arbeitsmarktes entsprechend gelenkt werden konnte und sich daher gut dazu eignete, Lücken in den Belegschaften zu schließen. Ihre Aufnahme in den Industriestädten hatte weit weniger soziale oder kulturelle Verwerfungen zur Folge als auf dem Land, insbesondere im durch Arbeitsmigration geprägten Ruhrgebiet.11 Dennoch stießen sie auch hier auf Ablehnung: Nahrung und Wohnraum waren knappe Ressourcen und zusätzliche Konkurrenten nicht erwünscht.12 Dazu kamen die Vorbehalte Lagerbewohnern gegenüber, denn Aufnahme in der Stadt bedeutete vor allem ein Leben in Sammellagern oder Notunterkünften – oft bis weit in die fünfziger Jahre hinein.13 Wer in intimer Nähe vieler fremder Menschen in einem solchen Lager lebte und noch dazu zerschlissene Kleidung trug, musste nach Meinung vieler Einheimischer moralisch verwahrlost sein.14 Dieser Ansicht schlossen sich selbst einzelne Behördenvertreter an. So erklärte ein Vertreter des nordrhein-westfälischen Sozialministeriums im Flüchtlingsausschuss des Landtages, wie seiner Meinung nach mit diesen „asoziale[n] Einwanderer[n]“ zu verfahren sei: Neben der polizeilichen Überwachung der Lager seien vor allem Arbeit und Erziehung die geeigneten Instrumente, um Flüchtlinge „wieder zu ordentlichen Menschen zu machen.“15 Ungeachtet solcher Entgleisungen bemühten sich die behördlichen Stellen jedoch in der Regel um eine zügige und konfliktfreie Eingliederung und richteten dazu spezielle Flüchtlingsämter ein.16

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Neue Heimat NRW

Letztlich gelang es den Flüchtlingen und Vertriebenen recht schnell, sich in Nordrhein-Westfalen eine neue Heimat zu schaffen.17 Dabei war für die meisten Menschen, die nach Nordrhein-Westfalen kamen, nicht von vornherein absehbar, dass sie tatsächlich für immer bleiben würden. Viele von ihnen hatten auf ihrer Flucht zahlreiche Zwischenstationen18 durchlaufen, von denen die ersten immer fremdbestimmt19 und damit „Zufallsheimaten“20 waren. Der Weg ins Ruhrgebiet war dagegen oft das Ergebnis gezielter Planungen und bewusster Entscheidungen – um zu Verwandten zu ziehen oder im Bergbau zu arbeiten. Fanden sich tatsächlich Wohnung und Arbeit, zeichnete sich für viele damit ab, dass das Ruhrgebiet mehr als eine von vielen Zwischenstationen werden konnte. Die Ankunft im Revier bedeutete in der Regel „das Ende ihrer unsicheren Jahre“.21

Durch einige ausgewählte Biografien beleuchtet „Aufbau West“ die Verschiedenartigkeit der Fluchten und Aufnahmen – auch die der im Bombenkrieg evakuierten Einheimischen, die bei ihrer Rückkehr viele Wege und Erfahrungen von Flüchtlingen und Vertriebenen teilten. Dabei wird immer wieder sichtbar, dass es ungeachtet der eher ablehnenden Haltung Flüchtlingen und Vertriebenen gegenüber22 auch eine Menge Hilfsbereitschaft gab. Zahlreiche Einheimische entwickelten gerade aus ihrer eigenen Verlusterfahrung viel Verständnis für die Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen. Neben Privatleuten versuchten auch deutsche und internationale Hilfsorganisationen, Flüchtlinge und Vertriebene mit dem Notwendigsten auszustatten. Die populärste unter ihnen, die amerikanische Cooperative for American Remittances to Europe (C.A.R.E. genannt), wurde mit dem von ihr verteilten CARE-Paket zum Symbol für internationale Unterstützung in der Nachkriegszeit.

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Fußnoten

  1. Lehmann 1991, S. 15.
  2. Zum Begriff „Zusammenbruchgesellschaft“: Kleßmann 1991, S. 37 f.
  3. Mende 1989, S. 81. Selbst den empfangsberechtigten Einheimischen blieben die Karten oft verwehrt. Vgl. dazu Plumpe 1997, S. 159.
  4. Plato 1985, S. 176.
  5. Schulze 1990, S. 98.
  6. Ebd.
  7. Ebd., S. 97.
  8. Ebd.
  9. Erker 1988. Vgl. auch: Schulze 1990, S. 98. Vgl. auch: Neundörfer 1948, S. 105–126 sowie Lemberg 1950.
  10. Kleinert 1990, S. 46.
  11. Lehmann 1991, S. 39; Plato 1985, S. 186.
  12. Ihr Verhältnis zu den Einheimischen wurde gelegentlich als „Opferkonkurrenz“ bezeichnet: Die einen klagten darüber, dass sie durch Flucht und Vertreibung alles verloren hatten, inklusive der Heimat, während die anderen dagegen aufrechneten, dass auch sie durch Evakuierung und Bombenschäden alles verloren hatten – mit Ausnahme der Heimat. Vgl. dazu Bade 1990, S. 7.
  13. Lehmann 1991, S. 57.
  14. Lehmann 1991, S. 10, verweist auf: Henning 1951.
  15. Niederschrift der ersten Sitzung des Flüchtlingsausschusses des Landtags von Nordrhein-Westfalen, abgedruckt in: Zentralamt für Arbeit in der britischen Zone (Hg.): Die Flüchtlinge in der britischen Zone, Bielefeld 1948, S. 26, zitiert nach: Kleinert 1990, S. 37.
  16. Ackermann 1990, S. 14.
  17. Plato 1985, S. 210.
  18. Ebd., S. 177.
  19. Ebd., S. 180.
  20. Lehmann 1991, S. 20.
  21. Plato 1985, S. 188.
  22. Kleinert 1990, S. 55 oder Lehmann 1991, S. 30; positiver beurteilt dagegen von Plato das Verhältnis von Flüchtlingen, Vertriebenen und Einheimischen, vgl. Plato 1985, S. 184.

 

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