Die Britische Zone im Gebiet des 1946 gebildeten Land Nordrhein-Westfalen war kein unmittelbares Aufnahmeland für die „Ostflüchtlinge“, die systematisch erst 1946 mit der Aktion „Swallow“ (Schwalbe) in Sammeltransporten herangeführt werden. Im Zuge des „Bevölkerungsausgleichs“ zwischen den Bundesländern wurden 1950 bis 1953 – durch nicht immer freiwillig – vor allem arbeitsfähige junge Männer nach Nordrhein-Westfalen umgesiedelt.1 Wie in der Britischen Zone üblich,2 wurde keine Sonderverwaltung eingerichtet.
In den Veröffentlichungen überwog zunächst die administrative Regelung praktischer Fragen.3 Hinzu kamen bald bis in die ersten 1970er Jahre hinein vom Sozialministerium herausgegebenen „Kulturhefte“, die die kulturelle Integration erleichtern sollten, aber auch Sympathien für die durchweg unbeliebten Zuwanderer, die Wohnungs- und Versorgungslage verschärften, wecken sollten.
Mit dem „Bundesgesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge“ (Bundesvertriebenengesetz) wurde 1953 die lange vorherrschende Bezeichnung „Flüchtling“ für die Deutschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches, die mit der Potsdamer Erklärung 1945 unter polnische bzw. sowjetische „Verwaltung“ gestellt worden waren, und aus den mittelalterlichen wie neuzeitlichen deutschsprachigen Siedlungsgebieten im gesamten östlichen Europa als „Vertriebene“ bestimmt – im Unterschied zu den „Flüchtlingen“ aus der DDR, über deren Integration es keine vergleichbare begleitende sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Forschung gegeben hat.4 Die deutschen Aussiedler, die seit Ende der 1950er Jahre als „privilegierte Migranten“5 aus dem östlichen Europa auch nach Nordrhein-Westfalen kommen, haben im Kontext der aktuellen Migrations- und Integrationsforschung dagegen weitere Beachtung erfahren. Es fehlte an eigenständigen Forschungseinrichtungen. Die 1952 eingerichtete „Ostdeutsche Forschungsstelle“ an der Pädagogischen Akademie Dortmund setzte eher heimatkundliche und „volkskundliche“ Lehrerforschung der Vorkriegszeit fort, erforschte jedenfalls nicht die „Eingliederung“ der Vertriebenen.6
Die wissenschaftliche Beschäftigung konzentrierte sich zunächst auf die ökonomische und soziale Bewältigung des Vertriebenenproblems, wobei die traditionelle deutsche „Soziologie der Volksgemeinschaft“ methodisch überwog.7 Die im Rahmen bundesweiter Länderstudien entstandene Untersuchung von Gertrude Stahlberg summierte und beschloss 1957 die Masse dieser Untersuchungen, auch wenn noch Lokalstudien wie die Dissertation von Sänger über Witten8 folgten. Bevölkerungsgeographisch untersuchten Karlheinz Hottes und Teubert 1977 die Verteilung der Vertriebenen und Flüchtlinge. Die von Claudia Averbeck bearbeitete Karte führt 1997 die bevölkerungsgeographische Darstellung fort.9
Die begleitende Literatur war weitgehend als „Erfolgsgeschichte“ aus der Sicht der jungen Bundesrepublik Deutschland konzipiert.10 Das gilt vor allem für das von Eugen Lemberg und Friedrich Edding herausgegebene dreibändige Gemeinschaftswerk „Die Vertriebenen in Westdeutschland“ (1959), das zahlreiche Vertreter der deutschen Vertriebenen beteiligte. Seit Anfang der 1960er Jahre stagnierte die Flüchtlingsforschung, auch wenn aus dem Ausland mit den Arbeiten des Niederländers Jolles (1965) und des US-Amerikaners Schoenberg (1970) Anstöße gegeben wurden, die allerdings von den Betroffenen abgelehnt oder ignoriert wurden. Der Grundtenor war, die „Eingliederung“ der Vertriebenen sei abgeschlossen, sozialwissenschaftliche Flüchtlingsforschung sei nicht mehr notwendig.
Das war insofern richtig, als in den 1950er Jahren mit dem Lastenausgleichsgesetz von 1952 und dem Bundesvertriebenengesetz von 1953 die wesentlichen gesetzgeberischen Grundlagen geschaffen und die unmittelbare Not des Lebens in den Barackenlagern11 behoben worden war. Zudem hatte das Bundesvertriebenenministerium mit der 1957 bis 1961 erschienenen „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Mitteleuropa“ die Grundlinien der Geschichte der „Vertreibung“ vorgegeben.12 Die Vertriebenenverbände und Landsmannschaften waren als soziale Interessengruppen wesentlich mit der Wahrnehmung von Entschädigungsansprüchen nach dem Lastenausgleichsgesetz befasst, die landsmannschaftlichen Gruppen auch mit Familienzusammenführung und den Anfängen von „Kulturarbeit“, zunächst zur Stärkung des – wider alle politische Vernunft von Bundesregierung und Opposition geförderten – Rückkehrwillens, nach den Ostverträgen vor allem im „Rechtskampf“ für die Grenzen von 1937. Bezeichnenderweise schuf das Land Nordrhein-Westfalen erst 1963 mit dem „Haus des deutschen Ostens“ in Düsseldorf eine zentrale kulturelle Institution.13
Früh waren dagegen in Nordrhein-Westfalen Flüchtlingsbeiräte eingerichtet worden, um die Vertriebenen aktiv in den Integrationsprozess einzubeziehen.14 Am 2. Juni 1948 hatte das Land ein richtungweisendes Flüchtlingsgesetz erlassen. Das Ende des zumindest äußerlichen gesellschaftlichen Konsenses bezüglich einer „Rückkehr in die Heimat“ und Grenzrevisionsforderungen gegenüber Polen mit der Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland 1965 zur deutschen Ostgrenze bedeutete den Anfang der politischen Marginalisierung der organisierten Vertriebenen, die sich mit den Ostverträgen verstärken sollte. Walter Först hatte 1970 in seiner „Geschichte Nordrhein-Westfalens“ das Vertriebenenproblem ignoriert.15 Um das Jahr 1980 begann nicht nur in Nordrhein-Westfalen eine Neubeschäftigung mit dem Thema aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive, hier wesentlich durch Peter Hüttenberger (1938-1992) an der Universität Düsseldorf initiiert, nach Ablauf der Archivsperrfristen eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen. In deren Rahmen untersuchten Uwe Kleinert und Falk Wiesemann die Auswirkungen der Flüchtlingszuwanderung auf den Arbeitsmarkt und die Wirtschaftsentwicklung bis 196116 sowie Johannes-Dieter Steinert Aufbau und Rolle der Vertriebenenverbände im Bundesland bis 1954.17 Falk Wiesemann hat darüber hinaus in mehreren Aufsätzen die größeren Zusammenhänge der Flüchtlingspolitik skizziert.18 Die Beschäftigung mit dieser Problematik an der Universität Düsseldorf endet Anfang der 1990er Jahre mit Volker Ackermanns Habilitationsschrift über deutsche Vertriebene und Flüchtlinge 1945 bis 1961, die nicht auf Nordrhein-Westfalen beschränkt ist, aber weitgehend auf nordrhein-westfälischem Archivmaterial beruht.
In diesen landesgeschichtlichen Kontext gehört auch die von der Bezirksregierung Arnsberg veranlasste Untersuchung über die Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen im Regierungsbezirk bis 1949 durch Hartmut Kupitz (1989), die naturgemäß weitgehend die Verwaltungsperspektive wiedergibt. Hinzu kommt seit den 1980er Jahren eine Reihe von gedruckten wie ungedruckten lokalgeschichtlichen Untersuchungen, sei es aus der Perspektive der Geschichte der Kommune, sei es aus der Perspektive örtlicher Vertriebenenorganisationen. Diese Arbeiten sind nicht flächendeckend, bieten aber durchaus interessantes, weil oft konkretes Material.19 Als „Flüchtlingsstadt“ wurde nur Espelkamp eingerichtet. Hinzu kommen Selbstdarstellungen des Bundes der Vertriebenen und der in Nordrhein-Westfalen beheimateten Landsmannschaften.20 In sozialgeschichtlichen Arbeiten erscheint die Vertriebeneneingliederung immer wieder als Teilaspekt.21
Von einer ganz anderen Voraussetzung, der „oral history“, geht dagegen Alexander von Plato aus, der seine Darstellung der Vertriebenen im Ruhrgebiet auf lebensgeschichtlichen Interviews aufbaut. Sein grundlegender Beitrag über die „Fremde Heimat“ zeigt, dass sich Vertriebene und Flüchtlinge im Ruhrgebiet zwar in einen fremden Raum, aber auch wie die „Alteingesessenen“ in „eine neue Zeit mit neuen Anforderungen und Normen […]“ integrieren mussten.22
Seit Ende der 1980er Jahre hat Klaus Bade Vertriebene und Aussiedler in zahlreichen Arbeiten in einen weiteren migrationsgeschichtlichen Kontext gestellt.23 Leider konnte eine auf das Land bezogene historische Migrationsforschung in Nordrhein-Westfalen nicht institutionalisiert worden. Seit Anfang der 1990er Jahre stagniert die Forschung zur Integration der Vertriebenen in Nordrhein-Westfalen wieder. Der Schwerpunkt hat sich auf die Integration der Vertriebenen in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR verlagert.24 Vor allem für Westfalen gibt es immer wieder neue Forschungsunternehmungen, so hat die Historische Kommission für Westfalen einen einschlägigen Tagungsband angekündigt.
Die Vertriebenpolitik des Landes seit 1960 war weitgehend Kulturpolitik im Aufgabenbereich des Sozialministeriums, während sich die Integrationspolitik sich auf neue Zuwanderungsgruppen, vor allem Aussiedler und Ausländer, konzentriert hat und konzentriert. Der kulturpolitische Aspekt ist seit dem Großprojekt von Lemberg und Edding „Die Vertriebenen in Westdeutschland“ (1959) nicht mehr systematisch angegangen worden.
Der aktuelle Diskurs um Gedächtnis und Erinnerung25 hat den Bereich der Vertriebenen nicht ausgelassen, nordrhein-westfalenbezogene Untersuchungen fehlen aber.26 Im Lande existieren weiterhin Heimatvereinigungen mit eigenen Sammlungen und Treffpunkten, „Heimatstuben“, daneben Museen zu Oberschlesien und zu Westpreußen.27
Die Diskussion über das vom Bund der Vertriebenen initiierte „Zentrum gegen Vertreibungen“ hat zu einer Neubefassung mit dem Vertreibungsgeschehen geführt. Ob die zeitgeschichtliche und die sozialhistorische Eingliederungsforschung eine ähnliche Resonanz erleben wird, bleibt abzuwarten. Die Historische Kommission für Westfalen hat 1996 eine einschlägige Tagung durchgeführt.28 In unterschiedlichen Kontexten wird das Thema immer wieder behandelt.29 Eine Synthese fehlt für Nordrhein-Westfalen. Sie müsste die unterschiedlichen methodischen Ansätze von der Sozialwissenschaft30 über Europäische Ethnologie bis historischen zusammenfassen und auch die Ergebnisse von Regionalgeschichte und Heimatforschung berücksichtigen.
Ackermann, Volker: Der "echte" Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945-1961. Osnabrück 1995.
Schulze, Rainer: Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die künftige Forschungsarbeit. Hildesheim 1987.
Hottes, Karlheinz u. Teubert, Rainer: Vertriebene und Flüchtlinge im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Bochum 1977.
Jolles, Hiddo M.: Zur Soziologie der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Köln 1965.
Kleinert, Uwe: Flüchtlinge und Wirtschaft in Nordrhein- Westfalen 1945-1961. Arbeitsmarkt - Gewerbe - Staat. Düsseldorf 1988.
Krallert-Sattler, Gertrud: Kommentierte Bibliographie zum Flüchtlings- und Vertriebenenproblem in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in der Schweiz. Wien 1989.
Kupitz, Hartmut: 45 Jahre Flucht und Vertreibung: die Aufnahme u. Eingliederung der Vertriebenen im Regierungsbezirk Arnsberg. Arnsberg 1989.
Bade, Klaus J.: Neue Heimat im Westen. Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler. Münster 1990.
Schoenberg, Hans: Germans from the East. The Hague 1970.
Stahlberg, Gertrude: Die Vertriebenen in Nordrhein-Westfalen. Berlin 1957.
Steinert, Johannes-Dieter: Vertriebenenverbände in Nordrhein- Westfalen: 1945-1954. Düsseldorf 1986.
Benz, Wolfgang: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten: Ursachen, Ereignisse, Folgen. Frankfurt a. M. 1985, S. 173-182.
Hoffmann, Dierk et.al.: Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven. München 2000.
Lemberg, Eugen u. Edding, Friedrich: Die Vertriebenen in Westdeutschland. 3 Bde. Kiel 1959.
Wlaschek, Rudolf M.: Vertriebenenbeiräte in der Verantwortung. Düsseldorf 1983.