Mitteilung vom 19.11.18
Presse-Infos | Psychiatrie
Mehrfacherkrankungen - die Teufelskreise erkennen
Experten-Forum der LWL-Klinik Paderborn zu psychischen Krankheiten und ihren Begleiterkrankungen/Gespräch mit der Ärztlichen Direktorin Dr. Christine Norra
Paderborn (lwl). Bei Mehrfacherkrankungen, sogenannten Komorbiditäten, müssen sich alle beteiligten Behandler intensiv austauschen. Da waren sich alle Teilnehmer des 23. Forums für Psychiatrie und Psychotherapie der Klinik Paderborn des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) einig. Psychische, psychosomatische und körperliche Erkrankungen treten häufig gemeinsam auf. Wenn bei komorbiden Erkrankungen aber Therapien nicht aufeinander abgestimmt werden, hat das negative Folgen auf den Krankheitsverlauf und vermindert die Lebensqualität der Patienten. Fachliche Expertise aus verschiedensten Richtungen der Medizin braucht es da - so der Tenor. LWL-Krankenhausdezernent Prof. Dr. Meinolf Noeker betonte auf der Fachtagung in der LWL-Klinik Paderborn: "Die Qualität der Behandlung von Komorbiditäten hängt ganz wesentlich von der Vernetzung der Behandler ab." Komorbidität sei nicht ein einheitlicher Störungsprozess im Körper, zum Erfolg führe die Einzelbetrachtung einer jeden Krankheit, so Noeker.
Experten zu verschiedenen komorbiden Krankheitskomplexen wie Belastungs- und Persönlichkeitsstörungen, Depression, Psychose, Suchterkrankungen, ADHS, Demenz vom jugendlichen bis hohen Lebensalter kamen in Vorträgen und Workshops zu Wort. Die Ärztliche Direktorin der LWL-Klinik Paderborn, Privat-Dozentin Dr. Christine Norra, empfahl für Betroffene, auf die Diagnostik aller komorbiden Störungen und einen darauf basierenden Behandlungsplan zu bestehen: "Auf eine ganzheitlich umfassende Perspektive sollten Patienten mit achten bzw. diese einfordern."
Im Gespräch mit Dr. Christine Norra, Ärztliche Direktorin der LWL-Klinik Paderborn:
Frage: Können Sie Mehrfacherkrankungen (Komorbiditäten) nennen, mit denen Sie im Alltag in der LWL-Klinik Paderborn oft konfrontiert sind?
PD Dr. Christine Norra: Komorbidität ist extrem häufig und eher die Regel als die Ausnahme, zumal in höherem Alter. So begegnen wir vor allem sehr häufig den vielfältigen depressiven Zustandsbildern bei anderen psychischen Störungen, somato-psychischen oder chronischen körperlichen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf, Diabetes, Adipositas, metabolisches Syndrom. Und im gerontopsychiatrischen Gebiet bedeutet Multimorbidität nahezu immer sofort der Gebrauch von vielen verschiedenen Medikamenten, wenn zum Beispiel Demenz mit körperlichen Erkrankungen, aber auch mit Angst oder Depression zusammenhängt.
Hervorzuheben sind die häufigen Komorbiditäten psychischer Störungen untereinander - vorrangig bei Depression, Psychose, Sucht, Anpassungsstörung, Persönlichkeitsstörung, Demenz. Das liegt, wie wir wissen, bei nahezu der Hälfte aller psychisch Erkrankten vor. Eine große und therapeutisch anspruchsvolle Rolle spielt im Klinikalltag die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihren oft vielfältigen komorbiden Störungen wie Depression, posttraumatischer Belastungsstörung, Sucht oder anderen Persönlichkeitsstörungen.
Frage: Welche Besonderheiten gibt es bei der Diagnose und Behandlung?
PD Dr. Christine Norra: Komorbide Erkrankungen werden oft unter-, verspätet oder nicht ausreichend präzise diagnostiziert. Die Symptomkomplexe sind oft ähnlich, es liegen Überschneidungen der Kernsymptomatik vor. Oder Symptome, z.B. bei organisch geprägter Depression oder Angst, entsprechen nicht den gewohnten diagnostischen Klassifikationssystemen und werden dadurch nicht rechtzeitig erkannt.
Behandlungspläne sind vielfach für mehrere parallel vorliegende Krankheitsbilder nicht aufeinander abgestimmt. Ebenso liegen für kombinierte pharmakologische Therapien bei vielen Komorbiditäten oft nur unzureichende klinische Erfahrungen vor. Das wirkt sich dann negativ auf Krankheitsverläufe und die Lebensqualität aus, häufige Arzt- und Krankenhausbesuche und damit letztlich oft verminderte Teilhabe am Alltagsleben sind die Folge.
Ein besonderes Problem in der Therapie stellen die "verdeckten" komorbiden psychischen Erkrankungen wie Suchterkrankungen, Traumafolge- oder Persönlichkeitsstörungen dar. Wenn diese anfangs nicht identifiziert oder ausreichend gewürdigt werden, können sie im Verlauf die Behandlung zunehmend bestimmen, den Therapieerfolg behindern und zur Chronifizierung des komplexen Zustandsbildes beitragen.
Frage: Wie unterscheiden Sie bei Komorbidität Ursache- und Folge-Erkrankungen? Oder ist das gar nicht notwendig?
PD Dr. Christine Norra: Die Unterscheidung von "Henne und Ei" im Sinne eines ursächlichen Modells ist oft nicht möglich. Häufig haben komorbide Krankheitsmuster viele Faktoren und Erscheinungsformen, die sich überlappen und bei denen sich Risikofaktoren gegenseitig beeinflussen oder sogar verstärken. Wichtig ist, die Komorbiditätsmuster und die Teufelskreise, die sich daraus oft entwickeln können, zu erkennen - so wie beim gefährlichen Übergewicht des chronischen Psychosekranken oder wie beim depressionsähnlichen Störungsbild des kraft- und antriebslosen, chronischen Cannabiskonsumenten.
Frage: Haben Sie Empfehlungen für Patienten, was sie tun können, wenn klar ist, dass sie unter komorbiden Störungen leiden?
PD Dr. Christine Norra: Zuerst ist immer eine Diagnostik aller Störungen notwendig und ein entsprechend abgestufter Behandlungsplan. Grundlegend ist der Austausch der Behandler, d.h. Psychiater, Hausarzt, Fachärzte der somatischen Disziplinen, Psycho- und Sozialtherapeuten. Auf eine solche ganzheitliche Perspektive sollten auch die Patienten mit achten bzw. diese einfordern. Aus einem differenzierten Nachsorgeplan sollte hervorgehen, wann und wo etwa somatische, psychosoziale Maßnahmen stattfinden oder weiterführende psychotherapeutische Behandlungen erforderlich sind. Die einzelnen Therapieschritte und Ziele für die Patienten müssen realistisch und angemessen sein, um erfolgreich sein zu können.
Frage: Wie geht die LWL-Klinik Paderborn mit Komorbiditäten um?
PD Dr. Christine Norra: Es gibt bei uns eine hohe Wachsamkeit zur Identifikation von Komorbidität. Nicht zuletzt soll auch die diesjährige Forum-Veranstaltung in der LWL-Klinik Paderborn alle involvierten Berufsgruppen zusammenführen und die diagnostische Kompetenz noch einmal fördern. Nur durch eine hohe interdisziplinäre Verzahnung der Ärzte, Therapeuten und Pflegenden mit integrierten Behandlungsmodellen können Menschen mit Mehrfacherkrankungen besser versorgt werden. Die Therapiebausteine sollten aufeinander aufbauen.
Geplant ist auch der weitere Ausbau von Netzwerkstrukturen. In Paderborn findet dies u.a. gemeinsam mit dem Praxisnetz e.V. statt, wo im direkten Austausch versucht wird, Schnittstellenprobleme wie die Doppeldiagnostik zu vermeiden und Therapieverfahren und Medikamentenpläne vor allem für Menschen im höheren Lebensalter aufeinander abzustimmen. Idealerweise sollte dies in verbesserten digitalen Plattformstrukturen stattfinden, die allen die adäquate, aber auch datenrechtlich abgesicherte Information ermöglichen.
Pressekontakt:
Thorsten Fechtner, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235
presse@lwl.org
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Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.
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