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Mitteilung vom 09.02.17

Presse-Infos | Psychiatrie

LWL-Direktor bittet Marsberg-Opfer um Entschuldigung

Interview-Studie: Betroffene schildern Gewalt und Medikamentenmissbrauch

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Münster (lwl). Matthias Löb, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), hat Psychiatrie-Opfer und ihre Nachfahren um Entschuldigung gebeten. Löb: "Sie leiden noch heute unter den Gewalterfahrungen und Misshandlungen in der Nachkriegszeit bis hinein in die 1980er Jahre in kinder- und jugendpsychiatrischen LWL-Einrichtungen - insbesondere im vormaligen St. Johannes-Stift Marsberg im Hochsauerlandkreis."

Der LWL-Direktor nannte es "überfällig, dass seit Jahresbeginn 2017 endlich die Stiftung 'Anerkennung und Hilfe' arbeitet", bei der Betroffene Beratung und finanzielle Unterstützung bekommen können. Diese Angebote haben bei der LWL-Anlauf- und Beratungsstelle, zuständig für Westfalen-Lippe, bislang bereits mehr als 200 Betroffene nachgefragt, berichtete Löb. An der bundesweiten, mit 288 Mio. Euro ausstaffierten Stiftung beteiligt sich der LWL mit 1,6 Mio. Euro, sagte er am Donnerstag (9.2.) in Münster.

Darüber hinaus haben sich in den vergangenen vier Jahren 113 Betroffene oder ihre Vertrauenspersonen bei einer eigens eingerichteten LWL-Kontaktstelle "Kinder- und Jugendpsychiatrie 1950er bis 1970er Jahre" mit zwei erfahrenen Fachkräften Unterstützung für die Aufarbeitung ihrer oft nachhaltig traumatisierenden Erlebnisse geholt, fügte LWL-Krankenhausdezernent Prof. Dr. Meinolf Noeker hinzu.

"Stätte größten Kinderleids"
Anlass für Löbs und Noekers Äußerungen war die Vorstellung von neuen Forschungsergebnissen des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte zum Thema "Psychiatrie- und Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen im St. Johannes-Stift in Marsberg (1945-1980). Anstaltsalltag, individuelle Erinnerung, biographische Verarbeitung" vor Betroffenen und Experten im münsterischen LWL-Landeshaus.

Die mehrjährige Studie belegt anhand authentischer Interview-Schilderungen von 19 Opfern, dass die mit zeitweise mehr als 1.100 jungen Menschen belegte Einrichtung nicht nur die größte westfälische Anstalt ihrer Art war: "Sie war auch eine Stätte größten Kinderleids", sagte LWL-Direktor Löb. Quälend lange Jahre ertrugen Jungen und Mädchen ein autoritäres Regime von Ärzten, Pflegern und Nonnen vom Vinzentinerinnen-Orden.

Alltägliche körperliche Züchtigung, seelische Gewalt, sexueller Missbrauch, Ruhigstellung und Verwahrung statt Behandlung - auf erschütternde Weise hätten die vom LWL beauftragten Historiker durch die Betroffenen-Schilderungen und den Abgleich mit weiteren Quellen diese seit längerem angeprangerten Verhältnisse bestätigt gefunden, so Löb weiter.

Medikamentenmissbrauch weit verbreitet
In ersten Ansätzen haben die beiden Hauptautoren der Studie, die Historiker Prof. Dr. Franz-Werner Kersting (LWL-Institut) und Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl (Uni Bielefeld), auch Hinweisen auf Medikamentenmissbrauch an den jungen Schutzbefohlenen nachgespürt. Ihr Zwischenergebnis: "Unsere Interviewten geben vielfältige und bedrückende Schilderungen missbräuchlichen Medikamenteneinsatzes."

Sedativa und Neuroleptika seien auch in Marsberg vielfach ohne ärztliche Anweisung, in hohen Dosen und oft unter Zwang verabreicht worden - so wie es bis in die 1970er Jahre hinein fast überall in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in Einrichtungen für behinderte Kinder und in Fürsorgeerziehungsheimen verbreitet war. Primäres Ziel: "Kinder und Jugendliche ruhigzustellen und so den Betrieb auf den Stationen auch mit einer dünnen Personaldecke aufrechtzuerhalten", so die Historiker. Betroffene hätten die Sedierungen ebenso "als Strafe für unangepasstes und widerständiges Verhalten empfunden" wie medizinisch verbrämte Schocktherapien, etwa Kaltwasserbäder, Fixierungen oder Isolierungen.

Weiter forschen zu Arzneimitteltests
Dagegen haben die LWL-Forscher bislang keine Anhaltspunkte für Medikamententests oder -studien in LWL-Einrichtungen gefunden, wie sie andernorts im vergangenen Herbst bekannt geworden waren. Diese vorläufige Fehlanzeige zu fragwürdigen Arzneimittel-Versuchsreihen treffe sowohl auf damalige Jugendhilfe-Heime als auch auf kinder- und jugendpsychiatrische LWL-Einrichtungen zu.

Um jedoch derlei Praktiken zwischen Pharmafirmen und Einrichtungsärzten vor der Markteinführung eines Medikaments und ohne Einwilligung der Erziehungsberechtigten für westfälische Kinder- und Jugendpsychiatrien, -Heime und Behindertenhilfeeinrichtungen zuverlässig ausschließen zu können, schlagen die LWL-Historiker Anschlussforschungen vor. Nach den nun vorliegenden Aufarbeitungen der Lebenswirklichkeiten insgesamt in den damaligen "totalen Institutionen" könne sich eine zunächst sondierende und explorative Studie "Medikation und Gewalt" speziell sowohl dem alltäglichen Medikamentenmissbrauch wie auch der "qualitativ neuen Dimension gezielter ärztlich-pharmazeutischer Versuche" widmen.

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Karl G. Donath, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235 und Kathrin Nolte, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Tel. 0251 591-5706 (Mo - Do)
presse@lwl.org



Anlagen:
Anlage 1: Original-Zitate aus Opfer-Interviews.pdf
Anlage 2: Hintergrund 1.pdf
Anlage 3: Hintergrund 2.pdf
Anlage 4: Hintergrund 3.pdf
Anlage 5: Projektergebnisse.pdf



Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.


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Kommentar(e)

Uwe Werner12.02.2018 11:24
Ausdrücklich bedanken wir uns als Verein für die Worte der Entschuldigung durch den LWL-Direktor Herr Löb. Bei der Vorstellung der Studie im Frühjahr 2017 in Münster war ich persönlich anwesend und habe auch mit Betroffenen aus besagter Einrichtung gesprochen, einige sind Mitglieder in unserem Verein http://deutschlands-heimkinder.de Einige Reaktionen haben uns schon erreicht seit dieser offiziellen Verlautbarung und wir können nur hoffen, dass für die Betroffenen sichtbare Zeichen deutschlandweit sichtbar werden. Hier z.B. in aktuellen OEG-Verfahren, aber auch in einer Neufassung des OEG-Gesetzes! Mögen die Worte des LWL-Direktors Herrn Löb auch gehört werden im Lenkungsauschuss der Stiftung "Anerkennung und Hilfe" und somit auch in Änderungen der Antragsverfahren bei den jeweiligen Anlaufstellen. Bestimmte Fragen wie nach dem OEG, oder Zahlungen seitens der Kirchen müssen gestrichen werden! Dies hatten wir schon mal bei dem Heimfonds-West und auch da wurde dieser Passus auf Druck hin herausgenommen. Letztendlich bleibt für uns Betroffene stets immer die Hoffnung, das öffentliche Entschuldigungen keine Lippenbekenntnisse bleiben und den Worten eben auch Taten zeitnah folgen.
Ulrich Sczimarowski09.02.2017 18:01
Es tut mir sehr leid, wieder einmal von solchen Ereignissen zu erfahren. Mich wundert der Gangwechsel seitens des LWL hinsichtlich der Anerkennung der Taten bzw. der Bitten um Entschuldigung für ebenjene. Noch vor sehr kurzer Zeit habe ich leider andere Erfahrungen machen müssen. Foltern und Einsperren sowie sexueller Missbrauch wurden abgetan als "Stubenarrest", "das war doch alles gar nicht so schlimm" und ähnliche Sätze habe ich hier vor mir liegen. Zu vermissen ist jegliches Fingerspitzengefühl bei den Sachbearbeitern und Sachbearbeiterinnen. Antragslaufzeiten, die exorbitant in die Länge gezogen werden, Sachbearbeiter, die in ihrem ganzen Leben niemals das Opfer gesehen oder gesprochen haben, verfügen von ihrem fernen Schreibtisch aus, dass der Antragsteller gesund ist. Ich bin sehr verbittert.


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