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Mitteilung vom 03.04.14

Presse-Infos | Kultur

Vom Wandervogel bis zum Steampunk

LWL-Industriemuseum Zeche Hannover beleuchtet Wandel der Jugendkulturen im Revier

Bewertung:

Bochum (lwl). Zu allen Zeiten haben Erwachsene über ¿die Jugend von heute¿ missbilligend den Kopf geschüttelt. Ob es die langen Haare waren, außergewöhnliche Kleidung, die schreckliche Musik oder die inneren Einstellungen ¿ Jugendkulturen waren schon immer eine Provokation für den Rest der Gesellschaft. Eine neue Ausstellung des LWL-Industriemuseums Zeche Hannover in Bochum widmet sich erstmals umfassend dem Phänomen der jugendlichen Subkulturen im Ruhrgebiet. Unter dem Titel ¿Einfach anders!¿ beleuchtet der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) vom 4. April bis 7. September 2014 das Phänomen seit dem frühen 20. Jahrhundert - von der Wandervogelbewegung über den Edelweißpiraten, der Swingjugend, den Halbstarken und Punks bis hin zu aktuellen Ausformungen wie Graffiti-Sprayern und Steampunks. Fotos, Interviews mit Zeitzeugen und über 200 Exponate wie typische Kleidungsstücke und Accessoires, Musikinstrumente, Plattencover oder Filmplakate machen die Jugendkulturen anschaulich.

¿Mit seinen strukturellen Bedingungen hat das Ruhrgebiet die verschiedenen jugendlichen Subkulturen besonders geprägt. So war die Kultur der Halbstarken im Revier stärker ausgeprägt als anderswo, die Punk-Kultur vielfältiger, die Heavy Metal-Szene größer und die Graffiti-Kultur hochkarätiger als in anderen Regionen. Für viele Jugendkulturen stellt das Revier in Geschichte und Gegenwart einen einzigartigen Erfahrungsraum dar¿, erklärte Museumsleiter Dietmar Osses.

Eine Besonderheit der Bochumer Ausstellung ist der lebensgeschichtliche Zugang. Zwei Jahre lang hat das LWL-Museumsteam das Projekt vorbereitet und dabei Dutzende Interviews mit Zeitzeugen geführt. In der Ausstellung kommen viele von ihnen zu Wort. ¿Die Jugendlichen haben für ihre besondere Kultur gebrannt. Für sie war es mehr als Mode oder Musik ¿ es war eine Lebenseinstellung. In den Erinnerungen flammt immer wieder das Feuer der Begeisterung auf¿, berichtete die Kulturwissenschaftlerin Katarzyna Nogueira, die die Interviews durchgeführt hat.

Die Bochumer Schau ist eine Ausstellung zum Themenjahr ¿Unterwelten¿, das das Westfälische Landesmuseum für Industriekultur an seinen acht Standorten für 2014 ausgerufen hat. Die Hauptausstellung im LWL-Industriemuseum Zeche Zollern in Dortmund mit dem Titel ¿Über Unterwelten. Zeichen und Zauber des anderen Raums¿ beleuchtet Mythos und Realität der Welt jenseits des Sichtbaren. Das Spektrum der weiteren Begleitausstellungen reicht von versunkenen Schiffen über Dessous in der Mode und die verborgene Welt der Glashütten von Murano bis hin zu Rüstungsproduktion und Krieg. ¿Es war genau diese Vielseitigkeit des Themas ¿Unterwelten`, die uns gereizt hat. Es bietet ganz unterschiedliche Zugänge und inspiriert Ausstellungsmacher ebenso wie Künstler oder Schüler. Das zeigen unsere Präsentationen in diesem Jahr¿, erklärte Dirk Zache, Direktor des LWL-Industriemuseums. Alle Informationen unter http://www.unterwelten.lwl.org.

Hintergrund
Die erste Jugendbewegung meldete sich in Deutschland um 1900 mit einem Protest gegen eingefahrenen Wege, Erneuerungswillen und einer Besinnung auf die Natur zu Wort. Die literarische Moderne, der Jugendstil in der bildenden Kunst und die Wandervogelbewegung machten die Jugendbewegung deutlich sichtbar. Im Ruhrgebiet gründeten sich kurz nach der Jahrhundertwende die ersten Wandervogelvereine und Jugendbünde, die ihren Weg ¿aus grauer Städte Mauern¿ suchten.

Während der Gleichschaltung von Kultur und Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus wurden viele unangepasste Jugendliche ausgegrenzt und verfolgt. Die jazzbegeisterten Swing-Kids begaben sich in den Untergrund, aus Nonkonformisten wurden teilweise auch aktive jugendliche Widerständler wie beispielsweise die Edelweißpiraten an Rhein und Ruhr.

Seit den 1950er Jahren spielt die Musik-, Mode- und Medienindustrie eine wichtige Rolle für die Verbreitung von Jugendkulturen. Während des Wiederaufbaus und der Wirtschaftswunderzeit profitierten die Jugendlichem im Revier als erste von steigenden Löhnen und mehr Freizeit. Mopeds und Motorräder machten Halbstarke und Rocker mobil, Arbeitslohn und Taschengeld brachten Radiogeräte, Plattenspieler oder Gitarren ins Haus. Mit der Verbreitung des Rock ¿n Roll gerieten die Jugendlichen im Revier außer Rand und Band. Prügeleien und Verwüstungen im Umfeld von Konzerten oder Filmvorführungen waren die Folge. Sie zeigten die große Kluft zwischen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration.

Ende der 1960er Jahre war das Ruhrgebiet eher mit der Kohlekrise und dem Strukturwandel beschäftigt als mit Studentenprotesten und Revolution. Die 1965 und 1969 in Betrieb gegangenen Universitäten in Bochum und Dortmund konnten als junge Pendler-Unis keine Studentenbewegung wie in Berlin oder Frankfurt entwickeln. Stärker war hingegen die Lehrlingsbewegung im Ruhrgebiet, die von in der Region verankerten Tradition der Mitbestimmung, einer selbstbewussten Arbeiterschaft und starken Gewerkschaften profitierte.

In den 1970er Jahren sorgten der fortschreitende Niedergang der Industrie sowie der einsetzende Strukturwandel hin zu Bildung und Kultur für ein besonderes Milieu, das neue kreative Potentiale eröffnete und einige Subkulturen besonders förderte. Die Musik des Heavy Metal erzeugte in der von Eisen und Stahl geprägten Region eine besondere Resonanz, so dass sich hier eine Szene entwickelte, die bis heute als eine der größten und dichtesten in Europa gilt und Weltstars ihres Genres hervorgebracht hat.

¿Seit den 1980er Jahren ist eine zunehmende Pluralisierung der Jugendkulturen festzustellen. Nicht mehr ein oder zwei Strömungen kennzeichnen die Kultur einer Jugendgeneration, sondern eine immer größeren Vielzahl¿, erklärt Dietmar Osses.

Die Subkulturen der Hausbesetzer und Punks erhielten im Revier besondere Ausprägungen. Der Strukturwandel brachte mit Spekulationen, Abrissplänen und Mangel an preiswertem Wohnraum für die ins Ruhrgebiet strömenden Studierenden eine angespannte Lage. Hausbesetzungen und Auseinandersetzungen waren die Folge. Das Bochumer Heusnerviertel oder der Dortmunder Heidehof wurden Symbole für Widerstand und Aufbruchwillen.

In einer Region, in der man ans Zupacken gewöhnt war, fiel das Do-it-yourself-Prinzip von Hausbesetzern und Punks auf besonders fruchtbaren Boden. So bot das von Leerständen und Industriebrachen geprägte Revier sowohl für eine Ästhetik des Untergangs wie auch für die Kreativität einer neuen Kultur von unten besondere Potenziale und Räume. Die sich im Umfeld entwickelnden soziokulturellen Zentren sorgten für ein dichtes Netz an Freiräumen, das jugendliche Subkulturen bis heute beflügelt.

In den 1980er und 1990er Jahren entwickelte sich die Stadt Dortmund zu einer Hauptstadt der Graffiti-Kultur und der Techno-Szene. Die Kombination von dichten Verkehrsnetzen und zahlreichen Betonflächen begünstigte die Ausbreitung der illegalen Sprühkunst. ¿Keine andere Stadt in Westdeutschland war so geprägt von Graffiti wie die Westfalenmetropole¿, weiß Katarzyna Nogueira.

In den 1990er Jahren Jahren schuf sich die Techno-Szene des Reviers mit dem ¿Mayday¿ in Dortmund ihr lokales Großereignis. In kleinen Szene-Clubs konnten die Fans der elektronischen Musik ihren Rausch in der Musik finden. Die aus Berlin übernommene Love-Parade kam als weiteres Mega-Event in die Region, das mit der tragischen Katastrophe von Duisburg 2010 jedoch ein jähes Ende fand.

Aus der Vielzahl der aktuellen Retro-Bewegungen ragt im Ruhrgebiet heute die Neo-Rockabilly-Szene hervor. Die Rückbesinnung auf die Subkultur der Wirtschaftswunderjahre scheint im Revier besonders starken Anklang zu finden. Neue Potenziale aus den Zukunftsvisionen der Vergangenheit schöpft die Subkultur der Steampunks. Das von den Ideen und Relikten der Industrialisierung geprägte Ruhrgebiet bildet eine ideale Umgebung für die von Erfindergeist und alternativem Fortschrittsoptimismus geprägte Szene.

Zudem formiert sich gegenwärtig im Ruhrgebiet eine neue jugendliche Szene zwischen Subkultur und Hochkultur, die Elemente von Akrobatik, Hip-Hop, Streetdance und Tanztheater verbindet. Die Herkunft ihrer Akteure ist dabei so vielfältig wie die von Zuwanderung geprägte Gesellschaft des Ruhrgebiets. Die Werte der Szene ¿ Leistungsbereitschaft, Respekt und Zusammenhalt ¿ knüpfen dabei an Traditionen an, die seit Generationen immer wieder das Arbeiten und Zusammenleben im Revier geprägt haben. Mit der Pluralität der jugendlichen Subkulturen und der Diversität ihrer Akteure zeigt das Ruhrgebiet heute in doppeltem Sinn eine besondere kulturelle Vielfalt.

Katalog
Dietmar Osses, Katarzyna Nogueira (Hg.): Einfach anders! Jugendliche Subkulturen im Ruhrgebiet, 260 Seiten, reich bebildert. LWL-Industriemuseum, Klartext Verlag, Essen 2014,
ISBN 978-3-8375-1183-3, Preis: 19,95 Euro

Begleitprogramm (Auswahl)
Di / Mi, 15./16.4. 12¿17 Uhr
Rap-Workshop mit der Rap-School NRW und anschließender CD Produktion. Teilnahme: 8 Euro. Anmeldung erforderlich

Mo, 21.4., 16¿17 Uhr
Wandervogel und Bündische Jugend. Jugendbewegungen 1900-1945. Themenführung durch die Ausstellung ¿Jugendliche Subkulturen¿

Do, 22.5., 19 Uhr
Die Halbstarken. Filmabend mit Getränken und Snacks der 1950er Jahre

Sa, 31.5./So, 1.6., 12 ¿ 17 Uhr
Graffiti Workshop
mit Streetart-Künstler Markus Wiese. Teilnahme: 8 Euro. Anmeldung erforderlich

Do, 12.6., 19 Uhr
Wandervögel und Edelweißpiraten. Ihre Alltagskultur als Grundlage des Widerstands im Nationalsozialismus. Vortrag von Prof. Dr. Breyvogel

Mi, 18.6., 19 Uhr
Tanz auf dem Vulkan. Filmabend und Diskussion zur Besetzung des Bochumer Heusnerviertels. Mit der Gabi Hinderberger, Leiterin des Blicke-Filmfestivals



¿Einfach anders!¿ Jugendliche Subkulturen im Ruhrgebiet
4. April bis 7. September 2014
LWL-Industriemuseum Zeche Hannover
Geöffnet Mi-Sa 14-18 Uhr, So und an Feiertagen 11-18 Uhr
http://www.lwl-industriemuseum.de



Pressekontakt:
Markus Fischer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235 und Christiane Spänhoff, LWL-Industriemuseum, Telefon: 0231 6961-127
presse@lwl.org



LWL-Einrichtung:
LWL-Museum Zeche Hannover
Günnigfelder Straße 251
44793 Bochum
Karte und Routenplaner



Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.


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