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Mitteilung vom 22.03.05

Presse-Infos | Der LWL

Sidney Stott und der englische Spinnereibau in Münsterland und Twente

Bewertung:

Rheine (lwl). Sidney Stott (1858-1937) gilt als einer der erfolgreichsten Industriearchitekten um 1900. Der Engländer entwarf weltweit 128 Spinnereihochbauten. Mit ihrem Eisenträgerskelett und einer feuersicheren Bauweise galten die Backsteingebäude als die modernsten ihrer Zeit. Zahlreiche Fabriken baute der Brite in der deutsch-niederländischen Grenzregion Münsterland-Twente. Ein internationales Ausstellungsprojekt, an dem sich auch der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) beteiligt, widmet sich jetzt zum ersten Mal ausführlich dem Architekten Stott und dem Fabrikbau zur Blütezeit der Textilindustrie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Erste Ausstellungsstation ist Rheine im Kreis Steinfurt (Textilmuseum Rheine im eec-emseinkaufszentrum, 10.4.-16.5.05), wo heute noch vier von ehemals sechs Stott-Bauten erhalten sind. Es folgen das Westfälische Industriemuseum Textilmuseum Bocholt (26.6.-6.11.05) und das Museum Jannink in Enschede (19.11.05-29.1.06). Ermöglicht wurde das Ausstellungsprojekt durch die finanzielle Unterstützung der EU aus Interreg III-A Mitteln.

Stotts Siegeszug in Deutschland begann mit einem Paukenschlag: Mit dem spektakulären Einsturz des Spinnerei-Neubaus für Franz Beckmann & Cie. in Bocholt am 9. Oktober 1895 ¿ in der englischsprachigen Welt bekannt geworden unter dem Begriff des ¿Bocholt Disaster¿. Kurz vor Fertigstellung gab ein Säulenfundament nach, der Rohbau stürzte zusammen und begrub 22 Menschen. Das Unglück sollte jedoch ohne Folgen für die Reputation des Engländers bleiben, der ab 1896 in Westfalen und der niederländischen Nachbarregion insgesamt 17 Bauprojekte realisierte.

Als Mutterland der Industrialisierung stellte England nicht nur weltweit die besten Textilmaschinen her, sondern plante auch die modernsten feuersicheren Industriebauten, die zum ¿Importschlager von der Insel¿ werden sollten. Ermutigt durch den konjunkturellen Aufwind ab etwa 1880 erweiterten heimische Unternehmer ihre Produktion und neue Betriebe siedelten sich an. Größer und höher sollten die neuen Spinnereien werden, um die modernen, bis zu 40 Meter langen Selfaktoren mit bis zu 1.300 Spindeln zu beherbergen. Der Textilmaschinenbau galt als Trendsetter des Sektors und brachte zu jener immer wieder Neuerungen hervor. Mit leistungsstärkeren Dampfmaschinen konnten zudem mehr Maschinen angetrieben werden. Deshalb mussten die Geschosszahl und Länge des Spinnereigebäudes erhöht werden.

Im 19. Jahrhundert waren Großbrände in Spinnereien an der Tagesordnung. Die starke Staubentwicklung und Flusenbildung bei der Baumwollaufbereitung bedeutete eine ständige Brandgefahr. Nahezu jede dritte Spinnerei im Westmünsterland und der niederländischen Region Twente fiel damals den Flammen zum Opfer. Im Gegensatz zu den hiesigen Fabriken, die im Innern weitgehend eine hölzerne Binnenkonstruktion aufwiesen, boten die in England entwickelten Bauten mit feuerfesten Decken, Sprinkleranlagen und Feuertreppen größtmögliche Sicherheit. Die hoch aufragenden Sprinklertürme mit ihrer aufwendigen Gestaltung wurden zu weithin sichtbaren Landmarken im Städtebild unserer Region.

Der moderne Spinnereihochbau

Ein Signum des modernen englischen Spinnereibaus waren die neuartigen Stütz- und Deckenkonstruktionen ¿ so genannte Double oder Triple Brick Arch Systeme. Sidney Stott und weitere Mitglieder aus der Architektenfamilie waren an der Entwicklung dieser Bauweise unmittelbar beteiligt. Die Deckenlasten und somit auch die Lasten auf die Umfassungsmauern konnten so drastisch reduziert werden, was den Bau größerer, vor allem aber besser belichteter Fabrikgebäude ermöglichte.
Über steinerne, vom Bau abgesetzte Treppenhäuser und eiserne Feuertreppen konnte die Belegschaft die Spinnerei im Brandfall sicher verlassen. Den Kern des Spinnereibaus bildete ein selbsttragendes, auf Gusssäulen gestelltes Eisenträgergerüst, dessen Geschossdecken zwischen Eisenträgern aus gestampftem Beton gefertigt wurden. Das Raster der aufgestellten Säulen wurde im Wesentlichen von den bis zu 40 Meter langen Selfaktoren bestimmt. Durch den Seilgang, der die besonders brandanfällige Faservorbereitung von der übrigen Produktion schied, liefen die baumwollenen Transmissionsseile. Betondecken lösten die schweren Ziegelgewölbe ab, wobei die Anzahl der Säulen nahezu halbiert wurde. Gleichzeitig wurde das Flachdach zum Standard.

Ausblicke


Nach Konkursen oder Verlagerung der Textilproduktion in Billiglohnländer haben heute auch die letzten erhaltenen Spinnereibauten ihre ursprüngliche Funktion verloren. Viele wichtige Zeugnisse der regionalen Textilindustrie fielen bereits dem Abriss zum Opfer. Die Ausstellung stellt Beispiele für gelungene Umnutzungen vor, zeigt architektonische Zusammenhänge, erläutert technische Hintergründe und möchte so diese bemerkenswerten Bauten wieder stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung, der Stadtplaner und Architekten rücken.



Pressekontakt:
Dr. Hermann Josef Stenkamp, Tel. 02871 216110 und Markus Fischer, Tel. 0251 591-235 und Dr. Andreas Oehlke, Tel. 05971 10018
presse@lwl.org




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Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.


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