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Mitteilung vom 06.11.25

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"Johlerei und Schreierei": Wie aus einem Fest der Kinder ein Fest für Kinder wurde

LWL-Kommission Alltagskulturforschung auf der Spur des Martinsheischens

Westfalen (lwl). "Aus allen Jahrhunderten finden sich Belege dazu, dass manche Bräuche nicht stets von allen geschätzt wurden und werden. Auch die mit dem Martinstag verbundenen Rituale wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder an die Lebensverhältnisse angepasst", weiß Christiane Cantauw, Geschäftsführerin der Kommission Alltagskulturforschung beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Denn mitunter beschwerten sich Menschen darüber, dass "lachende Harmlosigkeit" zu "Übermut und direkter Belästigung" ausgeartet sei.

Dass der 11. November überhaupt mit so vielen Ritualen verbunden war, liegt an seiner Stellung im Jahreslauf. Nach Abschluss der Erntearbeiten bot sich der Termin für einen Gesindewechsel an. Auch waren Mitte November vielerorts Pacht- und Rentenzahlungen fällig. Wie an anderen Tagen im Jahr auch, etwa Petri Stuhlfeier (22.2., erinnert an Petrus Amtsantritt als erstem Inhaber des Heiligen Stuhls) oder Lütke Fastnacht, verband sich mit diesem Termin ein Heischebrauch. Dabei gingen Gruppen von Kindern von Tür zu Tür, sangen ein Lied und bekamen dafür von den Hausbewohner:innen als Gegengabe Äpfel, Nüsse oder andere Lebensmittel. Doch Anfang des 20. Jahrhundert hatten die sozialen Bindungen nicht nur in den großen, sondern auch in den kleineren Städten abgenommen. "Das für den Heischebrauch verbindliche Geben und Nehmen fand nun zunehmend in einem anonymen Kontext statt und nicht - wie zuvor - in einem gutnachbarschaftlichen Verhältnis", so Cantauw.

So stieß das als Gewohnheitsrecht geltende Heischen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend auf Kritik. In einem Leserbrief in der Westfälischen Zeitung vom 15. November 1902 beklagt sich ein anonymer Abonnent darüber, dass "der einst schöne Brauch des Martinsheischens ins Grässliche und Unangenehme ausgeartet" sei. Die Schuljugend unterstreiche ihre Forderungen durch "Johlerei und Schreierei", letztlich gebe man ihnen das Gewünschte, "um die wilde Horde nur loszuwerden". Bereits ein Jahr zuvor hatte es in der Schwerter Zeitung vom 11. November geheißen, die "lachende Harmlosigkeit" beim Heischen am Martinstag sei in "Übermut und direkte Belästigung" ausgeartet.

Da die Heischegänge nicht organisiert waren, war das Treiben durch obrigkeitliche Verbote nur schwer in den Griff zu bekommen. Der oben genannte Leserbriefschreiber forderte deshalb, dass die Lehrer die Schuljugend von solchem Treiben abhalten sollten. An anderer Stelle wurde von den Eltern ein Einschreiten gefordert. Abhilfe schuf letztlich eine grundlegend veränderte Ritualpraxis, die im Rheinland bereits üblich war: Organisierte Fackelzüge wurden an die Stelle der Heischegänge gesetzt. Die den Kindern bekannten Martinslieder konnten in diese neue Form problemlos eingepasst werden. Sie wurden nun nicht mehr vor den Türen, sondern - begleitet von Musikkapellen - während des Umzugs gesungen. Ein solcher Martinsumzug fand erstmals 1894 in Düsseldorf statt. 1910 löste auch in Bocholt ein Laternenumzug das Martinsheischen ab. Weitere Städte und Gemeinden folgten zunächst im Rheinland, aber zunehmend auch in Westfalen-Lippe.

Initiiert wurden die Umzüge tatsächlich oft von Lehrer:innen und Eltern, teils auch von Pfarrgeistlichen, wie aus Berichten für das Archiv für westfälische Volkskunde (heute Alltagskulturarchiv) hervorgeht: So heißt es 1958 aus Atteln (heute Stadtteil von Lichtenau/Kreis Paderborn), dass der Martinszug "von Lehrpersonen geleitet" werde, und aus Eggerode (heute Ortsteil von Schöppingen/Kreis Borken), dass sich "weibliche Lehrpersonen" der Sache angenommen hätten. In Dortmund war es die Hausfrau und Mutter Käthe Kaufhold, die 1924 für ihre Kinder einen Martinszug im eigenen Garten an der Weddigenstraße 11 in der Dortmunder Gartenstadt ausrichtete. Im Jahr darauf war das Interesse an dem Umzug bereits so groß, dass Kaufhold mit den Kindern auf die umliegenden Straßen auswich.

"Ebenso wie Käthe Kaufhold waren es vielfach Zugezogene aus dem Rheinland, die den Umzugsbrauch in Westfalen bekannt machten", weiß Cantauw. "In Bork, heute ein Stadtteil von Selm, führte ein aus dem Rheinland stammender Amtsbaumeister 1924 den Martinsumzug ein und in Westerholt, heute ein Stadtteil von Herten, war es ein neuer Kaplan."

Die Publikumswirksamkeit der Martinsumzüge weckte in den 1930er Jahren auch andere Begehrlichkeiten: Für Bork (Kreis Unna), Brilon (Hochsauerlandkreis) oder Niederschelderhütte (Siegerland) lässt sich belegen, dass sich auch die Hitlerjugend oder die NS-Organisation Kraft durch Freude an dem Umzugsbrauch beteiligten und diesen für ihre Interessen in den Dienst nahmen. So heißt es in der Lokalpresse für Bork 1936: "Die Borker Martinsgesellschaft wird auch in diesem Jahr Hand in Hand mit der NS-Gemeinschaft 'Kraft durch Freude' alles aufbieten, um dem Martinsfest den gewünschten Erfolg zu sichern." Im Laufe von zwölf Jahren hatte sich der Kinder-Brauch in Bork zu einem Event entwickelt, das auch für die gesamte Bevölkerung von Interesse war. Lokale nationalsozialistische Gruppen und Vereinigungen nutzten das, um Sammlungen für das Winterhilfswerk und die NS-Volkswohlfahrt durchzuführen und durch die Verwendung von NS-Symbolen auf den Laternen beim Umzug auf sich aufmerksam zu machen. Besonders interessant für die politischen Akteure waren die Veranstaltungen mit großer Breitenwirkung, über die gegebenenfalls auch live im Radio berichtet wurde, so wie über den Martinszug 1935 in Brilon. Dort trugen viele Kinder Laternen aus Runkelrüben, in die Runen geschnitzt waren; die schönsten Runkellaternen wurden am Ende der Veranstaltung prämiert.

"Derartige Vereinnahmungen führten bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu, dass das Martinsfest von einem Fest der Kinder zu einem Fest für Kinder wurde. Die ungeregelten Heischegänge machten einem zunehmend durchgetakteten, professionell organisierten städtisch-bürgerlichen Event Platz, das sich mit bereits bekannten Brauchelementen - etwa Umzug, Laternen, Martinsliedern, szenischer Darstellung - in die jahreszeitliche Festkultur einfügte", so Cantauw.



Pressekontakt:
Christiane Cantauw, LWL-Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen, Telefon: 0251 83-24404 und Markus Fischer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235
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