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Mitteilung vom 27.04.16

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Achtung Redaktionen: Freigabe ab heute, 27.04.2016, 18:00 Uhr

Buchvorstellung ¿Die Revolution 1918/19 in Westfalen und Lippe als Forschungsproblem¿

Bewertung:

Buchvorstellung durch den Vorsitzenden der LWL-Landschaftsversammlung,
Herrn Dieter Gebhard,

¿Die Revolution 1918/19 in Westfalen und Lippe als Forschungsproblem¿

am Mittwoch, den 27.04.2016, um 18.00 Uhr,
im Wissenschaftspark Gelsenkirchen.

- Es gilt das gesprochene Wort! -

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Reininghaus,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Goch, lieber Stefan,
meine sehr verehrten Damen und Herren

ich freue mich sehr über Ihr Interesse an der Darstellung eines Ereignisses, das fast 100 Jahre zurückliegt:

Die Novemberrevolution 1918
Es ist zweifelsfrei sehr verdienstvoll, dass unter der Federführung des Instituts für Stadtgeschichte mit Prof. Goch die Geschichte des Nationalsozialismus in Gelsenkirchen und in gleicher Weise auch in anderen Kommunen aufgearbeitet wurde.
Die Aufarbeitung der Diktaturen in Deutschland, des Nationalsozialismus und der DDR-Geschichte, haben eines fast vergessen lassen: Es gab vor bald 100 Jahren einen Aufbruch in die Demokratie. Dieser Aufbruch stand allerdings im Zeichen eines verlorenen Krieges mit Millionen Toten.

Das Foto auf dem Umschlag des Buches, über das ich heute sprechen darf, zeigt dies sehr deutlich. Der Arbeiter- und Soldatenrat in Rotthausen ließ sich abbilden mit der Tafel ¿Diesen Krieg haben wir nicht gewollt¿.

Als Gelsenkirchener bin ich natürlich sehr davon angetan, dass ein Dokument aus unserer Stadt auf dem Titel zu finden ist.
Es macht deutlich, dass sich im Zeichen der militärischen Niederlage Widerstand gegen eine Fortsetzung des sinnlosen Tötens entstand. Das Beispiel der Kieler Soldaten machte im ganzen Land Schule und führte zur spontanen Gründung von Arbeiter- und Soldatenräten ¿ so auch in Rotthausen.

Die Räte traten in allen Städten und Gemeinden an die Stelle der wilhelminischen Verwaltung. Auch wenn ihre Herrschaft nur von kurzer Dauer war, so bedeutete sie doch eine tiefe Zäsur in der deutschen Geschichte. Dazu ein Beispiel:
Es gab zwar auf Reichsebene schon im Kaiserreich gleiches Stimmrecht für alle Männer über 25 Jahre. Aber auf der Ebene des preußischen Landtags, der Städte und Gemeinden gab es das verhasste Dreiklassen-Wahlrecht. Dadurch hatten die Reichen auf kommunaler Ebene das Sagen. Frauen blieben auf allen Ebenen völlig von Wahlen ausgeschlossen. Das änderte sich nach dem 9. November 1918 grundlegend. Bei den Wahlen im Januar 1919 besaßen alle Männer und Frauen, die älter als 20 Jahre waren, gleiches und freies Stimmrecht. Damit war ein entscheidender Schritt in Richtung auf unsere heutige demokratische Gesellschaft getan.

Das gefiel natürlich nicht allen. Auch dazu ein Beispiel aus dem Buch (Seite 112):
Der Adel verlor seine gesellschaftliche Sonderstellung. Typische Reaktionen:
¿Welch traurig, historischer Tag für Deutschland,¿ notierte die Gräfin Plettenberg- Lenhausen am 08.11.1918. Vom gleichen Tag aus der Chronik der Familie von Brincke:¿Die politische Lage verdunkelt sich mit jeder Stunde [...] Jeder Deutschdenkende sieht mit Trauer den vollständigen Zusammenbruch unseres armen Vaterlandes. Schlimme Zeiten stehen uns bevor.¿

Von Vorfreude auf einen Demokratisierungsprozess kann hier keine Rede sein.

Der Historischen Kommission für Westfalen gilt mein Dank dafür, dass sie diese für die politische Geschichte unseres Landes elementaren Vorgänge unter dem regionalen und lokalen Blickwinkel aufbereitet hat. Politik fand (und findet natürlich auch heute noch) schließlich nicht nur in Berlin, sondern auch in den Kommunen statt.

Die Dokumentation zu den rund 800 Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten in Westfalen sind ein Beleg dafür, wie lebendig und auch spannungsreich die politische Geschichte in allen westfälischen Gemeinden in den Tagen, Wochen und Monaten seit dem November 1918 war. Sie war überlagert von großen Entbehrungen, die die Menschen vor allem im Ruhrgebiet auf sich nehmen mussten. Verlängerte Arbeitszeiten, gestoppte Löhne und Sorgen um das tägliche Brot prägten ihren Alltag. Denn die Seeblockade der Engländer verlängerte die Lebensmittelknappheit bis in das Jahr 1919. Das Ruhrgebiet war deshalb auf sein westfälisches Umland angewiesen, um den Hunger zu bekämpfen. Die Arbeiter- und Soldatenräte mussten im Winter 1918/19 viele praktischen Fragen lösen, als die reguläre öffentliche Verwaltung zusammenbrach: Die Demobilmachung des Heeres bewältigen, Arbeitsplätze für die heimkehrenden Soldaten und ¿ nicht zuletzt ¿ notwendige Wohnungen beschaffen.

Die Stadt Gelsenkirchen in seinen heutigen Grenzen gab es damals noch nicht. Daher erscheint Gelsenkirchen in dem Buch in mehreren Zusammenhängen. Zusammengefasst werden so 18 Arbeiter- und Soldatenräte in Gelsenkirchen sowie ein Bauernrat im damaligen Buer in Westfalen genannt.

Ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass das Buch rund 800 Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten in Westfalen dokumentiert. Auf der Seite 382 finden Sie eine Zusammenfassung für die Provinz Westfalen mit den folgenden Zahlen:

¿ 308 Arbeiter- und Soldatenräte,
¿ 209 Volksräte, erweiterte Arbeiter- und Soldatenräte und Bürgerräte sowie
¿ 809 Bauern- und Landarbeiterräte.

Über die Mitglieder dieser Räte ist im Ruhrgebiet und in Gesamt-Westfalen viel zu wenig bekannt. Diese Lücke kann das Buch zu einem Teil schließen. Ich nenne den ganzen Titel:
Wilfried Reininghaus - ¿Die Revolution 1918/19 in Westfalen und Lippe als Forschungsproblem¿ (Quellen und offene Fragen) ¿ Mit einer Dokumentation zu den Arbeiter- Soldaten- und Bauernräten- Veröffentlichung der Historischen Kommission für Westfalen. Neue Folge 33 ¿ Erschienen im Aschendorff Verlag.

Große Namen wie der Bergarbeiterführer Otto Hue (Sie kennen die Huestadt im Univiertel Bochums?), Max König aus Dortmund oder Carl Severing aus Bielefeld sind uns vielleicht noch geläufig, aber wer kennt schon die Vorsitzenden des Gelsenkirchener Arbeiter- und Soldatenrats? Ich vorher nicht. Sie hießen August Woczek und Wilhelm Pfeifenbring, wie ich nun gelesen habe, der eine von der USPD, der andere von der SPD.

Das Buch öffnet uns den Blick für viele andere Fragen der Revolutionsgeschichte, die bisher liegen geblieben sind. Ich möchte die Historische Kommission darin ermutigen, diesen Weg weiter zu verfolgen, insbesondere die biographische Annäherung an die Akteure der Jahre 1918/19 zu leisten, die weitestgehend unbekannt sind bzw. in Vergessenheit geraten sind.
Anlässlich des 100. Jahrestages wird die Historische Kommission für Westfalen gemeinsam mit der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde und dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen im November 2018 in Düsseldorf eine wissenschaftliche Tagung durchführen, auf der sicherlich viele neue Aspekte des Jahres 1918/19 beleuchtet werden.

Ich finde es sehr erfreulich, dass es Herrn Prof. Reininghaus gelungen ist, diesen Schulterschluss auf der Landesebene zu Stande zu bringen. Sein Beispiel ¿ und spätestens die wissenschaftliche Tagung - wird sicherlich vielen anderen Mut machen, in ihrer Stadt und Gemeinde zu fragen, was sich hier genau im November 1918 und in den Monaten abgespielt hat. Wer waren die Akteure vor Ort? Wer verkörperte den Arbeiter- und Soldatenrat und ¿ die Frage darf man nicht vergessen ¿ wer waren seine Gegner? Und wie verhielt sich die Verwaltung? Hier in Gelsenkirchen musste z. B. während der Revolutionszeit Oberbürgermeister Machens zurücktreten. Er bleibt dennoch in der Erinnerung der Bevölkerung Gelsenkirchens ¿ nicht zuletzt, weil in zentraler Lage der ¿Machensplatz¿ nach ihm benannt ist.

Anrede

Der LWL hat sich spätestens seit Anfang der 1980-er Jahre, so lange kann ich das aus eigenem Mittun in der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe beurteilen, auf die Fahnen geschrieben, die Zeit der Römer in Westfalen im LWL-Römermuseum in Haltern nicht aus der Sicht der Cäsaren und Tribunen zu zeigen, sondern aus der Sicht der Legionäre, - in der Dokumentation der Industriegeschichte nicht aus der Sicht der Zechenbarone, Stahlbosse und Konzernlenker, sondern aus der Sicht der Arbeiterinnen und Arbeiter ¿ der Maloche ein Denkmal setzend.

Aus dieser Tradition sollte meines Erachtens die Historische Kommission einmal einen Band der ¿Westfälischen Lebensbilder¿ über jene Frauen und Männer herausbringen, die auf regionaler und kommunaler Ebene in der Weimarer Republik Verantwortung in der Politik übernahmen. Sie haben es genau so verdient wie die Generäle, Adligen und Bischöfe, die bisher dort vor allem biographisch behandelt wurden. Als ein Signal, das von Ihrer Düsseldorfer Tagung ausgehen könnte, könnte ich mir auch eine wissenschaftliche Edition der Protokolle von Arbeiter- und Soldatenräten vorstellen. Von hier aus frage ich, warum es so etwas bisher nur für Baden und Württemberg, für Berlin und Hamburg, nicht aber für das Ruhrgebiet gibt. Schließlich schaute ganz Deutschland 1918/19 wie gebannt auf unsere Region, die für die Entstehung der Weimarer Republik wohl genauso wichtig war wie Berlin.

Welche spannenden Details aus den Revolutionsmonaten es zu entdecken gibt, will ich ebenfalls an einem Beispiel zeigen (Seite 121). Es hat direkt zu tun mit der Geschichte des Provinzialverbandes, dem Vorgänger des LWL, und war mir jedenfalls unbekannt. Der März 1919 war für den kommunalen Spitzenverband in Westfalen ein bewegter Monat. Landeshauptmann Dr. Hammerschmidt war zurückgetreten. An seiner Stelle wollte der zum 26. März einberufene Provinziallandtag ¿ die heutige Landschaftsversammlung - einen Nachfolger wählen. Noch war der Provinziallandtag ganz dem Gedanken des Kaiserreichs verpflichtet. Sein Hintergedanke war offenbar, in letzter Minute den Auswirkungen der Gemeindewahlen zuvorzukommen. Es drohte nämlich eine Mehrheit der Sozialdemokraten im Provinziallandtag. Daher wählte der alte Provinziallandtag noch flugs den konservativen Bielefelder Landrat Dr. August Beckhaus zum neuen Landeshauptmann. Nur drei Tage später intervenierten die Arbeiter- und Soldatenräte im Ruhrgebiet, um diese Wahl annullieren zu lassen. Der Arbeiter- und Soldatenrat Gelsenkirchen übernahm es, weitere Räte in Westfalen zu mobilisieren. Das preußische Innenministerium erkannte tatsächlich die Wahl des konservativen Politikers Beckhaus nicht an, woraufhin dieser das Amt niederlegte und den Weg für den neu zusammengesetzten 61. Provinziallandtag frei machte, im Herbst 1919 mit seiner Zentrums-Mehrheit den Oberbürgermeister von Münster, Dr. Franz Dieckmann, zum neuen Landeshauptmann zu wählen.

Ich habe diesen Vorfall aus der Vorgeschichte des LWL angeführt, um zu zeigen, was es alles in der Dokumentation der Historischen Kommission zu entdecken gibt. Er verdeutlicht uns noch einmal, wie bewegt die Monate seit November 1918 waren. Das Eintreten für die Demokratie erforderte viel Mut und Entschlossenheit. Die Beschäftigung mit den Anfängen der ersten Demokratie auf deutschem Boden zeigt uns entsprechende Beispiele.
Ich wünsche diesem Buch viel Erfolg und hoffe, dass es den Startschuss für weitere Entdeckungsreisen zur politischen Geschichte 1918/19 in unserem Land gibt. Noch bleiben überall zwei Jahre Zeit bis zum Jubiläumsjahr 2018.

Der Historischen Kommission danke ich herzlich für diese Initiative. Ich bin sehr froh, dass wir uns in Westfalen und Lippe in der Kulturpolitik auf solche ehrenamtliche Arbeit aller unserer landeskundlichen Kommissionen stützen können.

Anrede

Zeitgleich mit der Buchvorstellung hat die Stadt Gelsenkirchen zum traditionellen Arbeitnehmerempfang im Vorfeld des 1. Mai eingeladen. Das hat mir gegenüber zu einer ganzen Reihe von Entschuldigungen geführt, die sonst unserer Einladung gefolgt wären.

Ich bedanke mich noch einmal bei Ihnen für Ihr Kommen, bedanke mich für die Aufmerksamkeit und sage Ihnen ein herzliches
GLÜCK AUF.



Pressekontakt:
Markus Fischer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235
presse@lwl.org




Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.


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