Mitteilung vom 18.11.04
Presse-Infos | Der LWL
LWL gibt Buch mit Quellen zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen heraus - Schwerpunkt NS-Verbrechen
Münster (lwl). Das Hungersterben in den psychiatrischen Anstalten im Ersten Weltkrieg, die Weimarer Geisteskrankenfürsorge im Zeichen von Reform und Weltwirtschaftskrise, der nationalsozialistische Vernichtungsfeldzug gegen die psychisch Kranken und geistig Behinderten sowie die Psychiatrie der 1950er Jahre zwischen politischem Neuanfang und Reformbeginn, Verdrängung und Aufarbeitung - das sind die Schwerpunkte des soeben in der Veröffentlichungsreihe des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) erschienenen zweiten Bandes der Quellensammlung zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen. Die Publikation knüpft an den ersten, ebenfalls epochenübergreifenden Band von Thomas Küster an, der den Zeitraum von 1800 bis 1914 umfasst. Eine vergleichbare Quellensammlung zur Psychiatriegeschichte gibt es bislang für keine andere deutsche Region.
Der über 800 Seiten umfassende Band von Franz-Werner Kersting und Hans-Walter Schmuhl spiegelt und vertieft die breite zeithistorische Forschung zur Geschichte (und Vorgeschichte) der NS-Psychiatrie. Gleichzeitig greifen die beiden Herausgeber erstmals systematisch über die Zäsur von 1945 hinaus. Sie bieten eine Auswahl von 210 Einzeldokumenten unterschiedlicher Herkunft. Ihre Zusammenstellung berücksichtigt die Perspektiven der Akteure - und Täter - aus Verwaltung, Ärzteschaft und Pflegepersonal, trägt aber auch den leidvollen Erfahrungen von Patienten, Opfern und betroffenen Familien Rechnung. Alle Dokumente sind mit textkritischem Kommentar und ergänzenden Erläuterungen versehen. Eine umfangreiche Einleitung führt in die Gesamtthematik und in die Quellenauswahl ein.
Der Band ist aber keine Aktenedition im herkömmlichen Sinne. Er versteht sich vielmehr als ¿Studienausgabe¿, die den Lesern mit Hilfe aussagekräftiger Quellen den Einstieg in ein vielschichtiges und schwieriges Problemfeld erleichtern möchte. In diesem Sinne wendet sich die aktuelle Veröffentlichung des LWL-Instituts für Regionalgeschichte ganz bewusst nicht nur an Wissenschaft, Forschung und Studierende, sondern auch an heutige oder ehemalige Beschäftigte psychiatrischer Einrichtungen innerhalb wie außerhalb Westfalens.
¿Die abgedruckten Äußerungen und Beiträge spiegeln die Ambivalenzen und Verwerfungen der jüngeren deutschen Psychiatriegeschichte wider: Auf der einen Seite stehen reformorientierte Texte wie der auch international viel beachtete Erfahrungsbericht des Gütersloher Anstaltsdirektors Hermann Simon über die ¿Aktivere Krankenbehandlung¿ (1929) oder die Beschreibung der ersten therapeutischen Gruppengespräche in den westfälischen Heilanstalten aus der Feder des Lengericher Direktors Hans Merguet (1953). Auf der anderen Seite stehen Dokumente zur Praxis der NS-Zwangssterilisationen im Sinne des ¿Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses¿, über die ¿Vernichtung lebensunwerten Lebens¿ im Zeichen der ¿Euthanasie¿-Politik wie auch zur Kontinuität der katastrophalen psychiatrischen Versorgungssituation weit über das Kriegsende hinaus¿, so die beiden Herausgeber.
Dieses Spannungsverhältnis kennzeichnet auch den Dokumententeil über die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: Er zeigt frühe couragierte und heute nahezu vergessene Plädoyers für eine selbstkritische Aufarbeitung der Vergangenheit, wie sie zum Beispiel der erste NRW-Ministerpräsident Rudolf Amelunxen (1946) oder der münstersche Anstaltsarzt Manfred in der Beeck (1957) formulierten. Gleichzeitig lässt er die vergangenheitspolitische Teilnahms- und Gefühllosigkeit unter der ärztlichen und gesellschaftlichen Mehrheit des westdeutschen Wiederaufbaus greifbar werden. Und er macht auf das Problem der skandalösen personellen Kontinuitäten zwischen dem ¿Dritten Reich¿ und der jungen Bundesrepublik aufmerksam: Einige der nach 1945 in den westfälischen Kliniken beschäftigten - und in einem Fall sogar mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichneten - Psychiater hatten sich zuvor an der Umsetzung des NS-¿Kindereuthanasie¿-Programms beteiligt.
Wie schon bei den vorangegangenen Publikationen des LWL-Institutes zur NS-Zeit, so verknüpft auch die Quellensammlung eine doppelte Erwartung: Zum einen geht es um die Verstrickung der westfälischen Psychiatriekliniken in die NS-Rassenpolitik sowie um die Dokumentation des Schicksals der Patientinnen und Patienten. Zum anderen soll die selbstkritische Aufklärung und Erinnerung des Verbandes wachgehalten werden.
Die Herausgeber:
Franz-Werner Kersting, Prof. Dr. phil., geb. 1955, ist Wissenschaftlicher Referent am Westfälischen Institut für Regionalgeschichte in Münster und außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen.
Hans-Walter Schmuhl, Dr. phil., geb. 1957, ist selbständiger Historiker (¿Agentur ZeitSprung¿) und Privatdozent an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld.
Franz-Werner Kersting/Hans-Walter Schmuhl (Hg.)
Quellen zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen, Bd. 2: 1914-1955
Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 48, Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn 2004
64,Euro, ISBN 3-506-71694-8.
Pressekontakt:
Markus Fischer, Tel. 0251 591-235
presse@lwl.org
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Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.
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