Mitteilung vom 08.10.01
Presse-Infos | Der LWL
Kunst 'Mit Sinnen' erleben
Blinder LWL-Mitarbeiter bereitet Ausstellung vor
Münster/Marl (lwl). Dietmar Schade geht gern ins Theater, liest viel und liebt es, ins Kino zu gehen. Er ist blind, von Geburt an. Sein Augenlicht hat er längst durch die anderen Sinne ersetzt, so dass ihm die Welt der Sehenden nicht verschlossen ist. Dietmar Schade hat sich mit seinen 34 Jahren in die normale Welt eingefügt. Integration statt Außenseitertum ist sein Lebensmotto. Das möchte der wissenschaftliche Mitarbeiter beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) jetzt in einem ungewöhnlichen Projekt umsetzen: Dietmar Schade ist Kurator einer Ausstellung, die Blinden und Sehenden gleichermaßen Kunst der Gegenwart vermittelt.
Der Geisteswissenschaftler mit Staatsexamen in Latein und evangelischer Theologie kann es spüren: Das Stutzen seiner Gesprächspartner, der ungläubige Blick, wenn er von seinem Projekt erzählt. Doch Dietmar Schade ist davon überzeugt, dass Kunst nicht nur ein optisches Vergnügen ist. Der Titel spricht für sich: "Mit Sinnen" soll die Ausstellung heißen und in zwei Jahren im Skulpturenmuseum "Glaskasten Marl" eröffnet werden.
Ein Jahr lang hat Schade an dem Konzept gearbeitet und tritt nun in die konkrete Planung ein. Die ersten Kontakte zu Künstlern sind geknüpft, und das Ergebnis überrascht auch seinen Chef, den Leiter des Westfälischen Museumsamtes, Dr. Helmut Knirim: "Das Projekt stößt auf ein unglaublich großes Interesse. Wir werden wahrscheinlich auswählen müssen." Zu den Künstlern, die zum Teil Werke für die Ausstellung anfertigen, zum Teil vorhandene zeigen, gehört auch der renommierte deutsche Gegenwartskünstler Timm Ulrichs.
"Der Sehende sieht, der Blinde fühlt". Das sei zu einfach gedacht, meint Dietmar Schade. In der Ausstellung "Mit Sinnen" möchte der Kurator mit diesem Vorurteil aufräumen. "Der Mensch hat fünf Sinne. Aber die werden in der Auseinandersetzung mit Kunst nur selten angesprochen." Dem Kurator schweben deshalb Kunstwerke vor, bei denen der Besucher mit mehreren Sinnen gleichzeitig wahrnehmen muss. Ob nun Tast- und Hörsinn oder Hörsinn und Körperbewegung - Schade kann sich viele Sinnes-Kombinationen vorstellen. Ein Beispiel hat er auch zur Hand: Timm Ulrichs hat das Kunstwerk "Buch der Berührungsängste" geschaffen, eine Bronzeplastik, die an einen Stromkreis angeschlossen ist. Wer das Buch berührt, bekommt einen Stromschlag. Diese schmerzhafte Erfahrung hätte nicht sein müssen. Denn in dem aufgeschlagenen Buch steht "Bitte nicht berühren", allerdings in Blindenschrift. Diesen Satz können Sehende nicht lesen, Blinde müssen die Buchstaben jedoch berühren, um sie entziffern zu können. Eine Paradoxie, die für das Werk von Tim Ulrichs bezeichnend ist.
Für den Kurator der Ausstellung hört die Integration nicht bei den Kunstwerken auf: Im Glaskasten Marl wird es ein ausgeklügeltes Wegeleitsystem geben. "Design-Studenten der Fachhochschule Münster haben eine Landschaft aus verschiedenen Bodenbelägen, Erhebungen und Strukturen entworfen, die es Blinden ermöglichen soll, sich frei im Raum zu bewegen und die Kunstwerke in beliebiger Reihenfolge anzusteuern", erklärt Schade.
"Mir fehlt das Augenlicht, mehr nicht." Mit dieser Einstellung macht Dietmar Schade seinen Weg. Auch beim LWL. Als er vor gut einem Jahr beim Integrationsamt des LWL vorsprach, hatte er das Ziel, wissenschaftlich zu arbeiten. Das Integrationsamt, das Schwerbehinderte in das allgemeine Arbeitsleben vermittelt, fand seinen Arbeitsplatz beim Westfälischen Museumsamt. Der Computer wurde mit einer Braille-Zeile versehen, die es dem Geisteswissenschaftler ermöglicht, alle Informationen vom Bildschirm in Blindenschrift zu lesen.
Hilfestellung bekommt Dietmar Schade außerdem von einer Arbeitsplatzassistentin. Die Studentin der Geschichte und Angewandten Kulturwissenschaften, Elizabeth Harding, steht dem blinden LWL-Mitarbeiter 15 Stunden in der Woche zur Seite, um ihn beim wissenschaftlichen Arbeiten und bei der Ausstellungsvorbereitung zu unterstützen. "Zusammen sind wir ein perfektes Team", sagen die beiden übereinstimmend. Auch Helmut Knirim spricht von Dietmar Schade als einem "ganz normalen Kollegen".
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Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.
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