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Mitteilung vom 21.10.15

Presse-Infos | Psychiatrie

Zu dick? Zu dünn?

Prof. Stephan Herpertz: "Essstörungen sind ohne Selbstwertprobleme kaum denkbar"

Bewertung:

Bochum (lwl). Magersucht, Heißhungerattacken, Bulimie: Vor allem junge Frauen erkranken an Essstörungen. Jedes Jahr steigen die Zahlen. Auf der anderen Seite werden die Deutschen immer dicker. In den vergangenen Jahrzehnten hat das Krankheitsbild der Adipositas (= krankhafte Übergewichtigkeit) beständig zugenommen. Prof. Dr. Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Universitätsklinikum Bochum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), hat zusammen mit Prof. Dr. Martina de Zwaan von der Medizinischen Hochschule Hannover und mit Prof. Dr. Stephan Zipfel von der Universitätsklinik Tübingen ein Handbuch zu Essstörungen und Adipositas herausgegeben, das den Stand des Wissens darstellt und auch die Überschneidungen beider Themen aufgreift. Die zweite Auflage ist jetzt erschienen.

Herr Prof. Herpertz, auf den ersten Blick wirken die Krankheitsbilder von Adipositas-Patienten und zum Beispiel Magersucht-Patienten konträr. Welche Zusammenhänge haben Sie festgestellt?

¿Die Anzahl an übergewichtigen und adipösen Menschen wächst weltweit, was unter anderem durch eine hyperkalorische Ernährung und zu wenig körperliche Aktivität zu erklären ist. Im Kontrast dazu steht unser gesellschaftliches Schönheitsideal, das insbesondere von einem niedrigen Körpergewicht ausgeht. Gerade aus dieser Diskrepanz erwächst - insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen - der Wunsch abzunehmen. Das ist oft die Einstiegspforte für die klassischen Essstörungen wie Magersucht und Bulimie."

Ist Adipositas denn auch eine Essstörung?

¿Nein, unter Adipositas versteht man einzig ein starkes Übergewicht. Beim Body-Mass-Index, der sich aus dem Verhältnis von Körpergewicht und Körpergröße zum Quadrat bestimmt, klassifiziert man den Wert für Adipositas mit 30 und höher. In der Regel hat Adipositas mehrere Ursachen. Es gibt zum Beispiel genetische Gründe, aber auch Umweltfaktoren - beides greift ineinander und verstärkt sich gegenseitig. Allerdings spielen bei einer Gruppe von adipösen Menschen auch psychische Faktoren eine wichtige Rolle. Sie versuchen zum Beispiel, psychische Spannungen durch den Verzehr von Nahrungsmitteln zu lindern.¿

Wer hat Schuld an den steigenden Zahlen der essgestörten Menschen: Eltern, Werbung, die Gesellschaft?

¿Die Entstehung der Essstörungen wie Magersucht, Bulimie und der sogenannten Binge Eating-Störung hat vielerlei Ursachen. Ausgangspunkt der Magersucht und der Bulimie sind sicherlich niedrigkalorische Diäten. Wenn man jedoch bedenkt, dass rund die Hälfte aller Frauen in Deutschland entsprechende Diäterfahrungen hat, die Krankheitshäufigkeit der beiden Essstörungen aber zwischen einem und vier Prozent schwankt - und das nur bei Mädchen und jungen Frauen -, so muss es deutlich mehr Gründe geben."

Welche Gründe könnten das sein?

¿Essstörungen sind ohne Selbstwertprobleme kaum denkbar. Selbstwertprobleme dürften in Pubertät und Adoleszenz, also bei Heranwachsenden, zu den häufigsten Problemen zählen und führen insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen zu einer großen Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, insbesondere mit dem Körpergewicht. Die Folge ist der Versuch, mittels Diät und Fasten Gewicht zu verlieren, was zu einer Essstörung führen kann. Massenmedien und mit ihr die Werbung tragen sicherlich zu einer Verunsicherung bei. Sie suggerieren häufig ein Schlankheitsideal als Norm, das kaum ein Mensch ohne Diäten erreicht, geschweige denn dauerhaft halten kann."

Sind die Gründe für Essstörungen und Adipositas heute vollständig erforscht?

¿Nein, insbesondere bei der Magersucht tappen wir noch sehr im Dunkeln. Wir hoffen, durch die zunehmende Erforschung der Adipositas, die sicherlich vom Ausmaß des Verbreitungsgrades das größere Problem ist, wachsenden Einblick in die Regulationsvorgänge von Hunger und Sättigung zu bekommen.¿

In der LWL-Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Bochum sind Essstörungen und Adipositas Behandlungsschwerpunkte. Wie helfen Sie den Erkrankten?

¿Die Behandlung stützt sich auf zwei Säulen: Zum einen soll das Körpergewicht und die Ernährung normalisiert werden, zum anderen setzen wir auch Psychotherapie ein, die auf die hinter der Krankheit liegenden Probleme und Konflikte abzielt. In den vergangenen Jahren hat sich immer mehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass essgestörte Patientinnen und Patienten in einem Therapieumfeld behandelt werden sollten, das auf essstörungsspezifische Probleme ausgerichtet ist. Im vergangenen Jahr wurde auch hier bei uns in Bochum mit einem vorstationären, ambulanten Angebot begonnen, da insbesondere magersüchtige Patientinnen die Gefahr ihrer Erkrankung verkennen. Sie davon zu überzeugen, sich in Behandlung zu begeben, ist daher schon `die halbe Miete¿. Unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung einer Essstörung ist ein Behandlungsvertrag. Patientin und Arzt einigen sich dabei auf ein Zielgewicht, das eine Patientin mit Magersucht erreichen oder auf das Basisgewicht, unter das die bulimische Patientin während ihrer Behandlung nicht sinken sollte.¿

Stephan Herpertz, Martina de Zwaan, Stephan Zipfel
Handbuch Essstörungen und Adipositas
Springer Verlag, 2015
ISBN 978-3642545726, 59,95 Euro



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