LWL-Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Mitteilung vom 19.03.14

Presse-Infos | Psychiatrie

Nur wer online ist hat ein Leben ¿ Wenn der Computer zum besten Freund wird

LWL- Fachleute betreuen immer mehr Kinder- und Jugendliche mit problematischem Internetkonsum ¿ Spezialsprechstunde auch für Eltern und Lehrer offen

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Dortmund (lwl). Seit einem Jahr leitet Dr. Stefan Kimm die Spezialsprechstunde für Computerspiel- und Internetabhängigkeit in der Elisabeth-Klinik Dortmund für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). 40 Patienten hat er bereits ambulant behandelt und die Zahl der Anfragen steigt.

Wer den 17-jährigen Jan kennenlernt, sieht sich einem gepflegten jungen Menschen mit guten Umgangsformen und einem beeindruckendem Intellekt gegenüber ¿ auf den ersten Blick kein Beispiel für einen Jugendlichen, der seine gesamte Freizeit mit Onlinespielen verbringt. Trotzdem ist der Gymnasiast ein fast typischer Fall, wie Dr. Kimm weiß: ¿Wie viele seiner Leidensgenossen hat Jan Probleme, sich im realen Leben in ein soziales Umfeld einzugliedern. Es fällt ihm schwer, sich in eine Gruppe zu integrieren oder Freunde zu finden. Er ist gehemmt und ängstlich, zeigt damit Anzeichen einer Sozial-Phobie. Im Netz ist das ganz anders. Da kann Jan mit seinen Mitspielern kommunizieren, ist mutig und führt sogar virtuelle Gruppen an.¿. Der Jugendliche leide selbst unter seiner Situation und könne das auch klar artikulieren, so Kimm. ¿Obwohl ich keine Schwierigkeiten mit dem Lernstoff habe, fühle ich mich inmitten meiner Klassenkameraden unsicher. Ich krieg den Mund nicht auf, und wenn ich mal was sage, ist es garantiert das Falsche! Aber wenn wir uns im Netz beim LOL-Spielen (League of Legends ¿ ein Multiplayer-Online-Battle-Arena Spiel, d.Red.) treffen, weiß ich genau wo¿s langgeht. Da kann ich Strategien entwickeln und andere anführen! Deshalb fühle ich mich am wohlsten, wenn ich online bin¿, bringt Jan sein Problem auf den Punkt.

Dieses Phänomen, dass ein Mensch durch ein Bildschirmspiel Kompetenzen an den Tag legt, auf die er im ¿normalen¿ Leben keinen Zugriff hat, ist für Dr. Stefan Kimm nicht neu: ¿Das war schon beim Räuber-und Gendarm-Spielen so. Aber da gab es begrenzte Spielzeiten. Irgendwann wurde etwas Neues gespielt oder man musste nach Hause zum Abendbrot.¿ Das Internet sei dagegen immer verfügbar und darin liege eine große Gefahr, so der Diplom-Pädagoge: ¿Jugendliche wie Jan verbringen immer mehr Zeit online und immer weniger Zeit in der Realität. Das kann einsam und oft auch traurig machen - ein idealer Nährboden für eine Depression.¿ Ein Teufelskreis aus sozialer Phobie, Depressionen und pathologischem PC-Missbrauch sei häufig die Folge. ¿Dabei ist manchmal gar nicht genau auszumachen, was am Anfang stand, die Phobie, die Depression oder der Computermissbrauch¿, weiß Kimm.

Der LWL-Experte unterscheidet zwei Typen von Jugendlichen, die einen problematischen Umgang mit Computern aufweisen: ¿Die einen setzen den Computer ein, um dem Druck, ihrem Unvermögen, sich sozial zu integrieren oder angemessen zu verhalten, zu entgehen. Die anderen haben eine sogenannte Impulskontrollstörung. Das bedeutet, sie können ihre Bedürfnisse nicht zügeln, und beschäftigen sich überbordend exzessiv mit einem Medium.¿

Auffällig ist, dass Jungen sich eher für Onlinespiele begeistern, während Mädchen ihre Zeit vorwiegend in den sozialen Netzwerken verbringen. ¿Auch dieses Phänomen kennen wir von früher, wenn die eigene Schwester stundenlang mit ihren Freundinnen telefoniert hat¿, so Dr. Stefan Kimm. Jetzt telefoniere ¿Frau¿ eben nicht mehr, sondern chatte. Hier sieht Kimm nicht das Soziale Netzwerk bzw. das Medium als Gefahr, sondern die Rolle, die es im Leben dieser Mädchen einnehmen kann: ¿Wir hatten hier schon Fälle, wo Patientinnen nicht mehr zur Schule gegangen sind, weil sie sich dann zeitweise aus facebook ausloggen mussten. Sie konnten es nicht ertragen, den ständigen Kontakt zu ihren (auch virtuellen) Freunden zu unterbrechen. Sozialer Umgang, wie miteinander zu telefonieren oder sich zu treffen, fand dagegen im realen Leben nicht mehr statt.¿

¿Back to the Real-Life¿, unter diesem Motto lernen die jungen Menschen in der Dortmunder LWL-Klinik unter anderem Fähigkeiten, die sie im Netz unter Beweis stellen, auch in die Realität zu transferieren. ¿Wir nennen das ¿Ressourcentransfer¿, beschreibt der Diplom-Pädagoge diesen Therapieansatz, ¿ das heißt wir gehen davon aus, dass jemand, der beim Onlinespielen eine soziale Kompetenz aufweist und Verantwortung übernimmt, auch im realen Leben über entsprechende Ressourcen verfügt. Er muss sie nur wahrnehmen und ihnen vertrauen.¿ Hierzu eignen sich laut Kimm erlebnispädagogische Projekte sehr gut, in denen es auf Teamarbeit ankommt. Den weiblichen Dauer-Chattern helfen die Experten, Kommunikation auch außerhalb des virtuellen Raums zuzulassen, in den persönlichen Kontakt zu gehen. Ein erster Schritt auf diesem Weg könne auch im sogenannten ¿Skypen¿ liegen, bei dem man zwar am Computer kommuniziert, den Gesprächspartner aber auf dem Bildschirm sieht. Denn hier entstünde eine nahezu reale Gesprächssituation und die Gefahr, keinen Schlusspunkt zu finden sei eher gering, so Kimm. Flankiert werden diese Maßnahmen von gruppen- gesprächs- und familientherapeutischen Angeboten.

Insgesamt gehe es nicht darum, den Computer bzw. das Internet aus dem Leben der Patienten zu verbannen, sondern ihnen einen angemessenen Umgang mit diesem Medium zu vermitteln, ihnen bewusst zu machen, von welchen (Spiel-)Bereichen sie sich fernhalten sollten, welche für sie o.k. sind, erläutert der Diplom-Pädagoge das Behandlungskonzept.

Den Eltern rät der LWL-Experte, Computer bzw. das Internet nicht automatisch und undifferenziert zu verteufeln, sondern sich für das Tun ihrer Kinder zu interessieren, sich facebook einmal anzuschauen oder sich ein Spiel erklären zu lassen, vielleicht sogar selbst einmal gegen den eigenen Sohn anzutreten. Das fördere auch dessen Selbstvertrauen. ¿Wenn ein Kind oder Jugendlicher auf Interesse für sein Handeln stößt, wird er sich nicht so schnell zurückziehen und abgrenzen, als wenn er oder sie sich unverstanden fühlt.¿ So bleibe auch die soziale Kontrolle innerhalb der Familie bestehen.

Vorsicht sei geboten, wenn der oder die Jugendliche die eigene Freizeit ausschließlich online verbringe und andere Hobbys wie Sport oder Treffen mit Freunden zu Gunsten der PC-Zeit aufgebe, vielleicht sogar der Schulbesuch verweigert und die Körperhygiene vernachlässigt werde. ¿Dann¿, so Dr. Kimm, ¿ist es Zeit für ein intensives Gespräch mit meinem Kind und einen gemeinsamen Besuch in einer Beratungsstelle.¿


Hintergrund
Laut einer aktuellen Studie der Universität Lübeck weisen 15 Prozent der Vierzehn- bis 24-Jährigen eine problematische Internetnutzung auf. Bei vier Prozent liege sogar eine Abhängigkeit vor. Während Jungen in der Studie Onlinespiele als Hauptaktivität angeben, halten sich Mädchen vornehmlich in sozialen Netzwerken auf.

Um die spezielle Sprechstunde für Computerspiel- und Internetabhängigkeit der LWL-Elisabeth-Klinik zu besuchen empfiehlt es sich, zuerst in die offene Sprechstunde zu kommen, die jeweils montags von 8.30 Uhr bis 9.30 Uhr in der Klinik-Ambulanz stattfindet. Dort werden erste Fragen geklärt und meistens direkt ein Termin für die Spezialsprechstunde vereinbart. Wem dies nicht möglich ist, der kann sich telefonisch anmelden, unter Tel.: 0231/913019-0. Eltern und Jugendliche können sich auch unabhängig von einander beraten lassen. Außerdem steht die Sprechstunde Lehrern bzw. pädagogischen Betreuern offen. Weitere Infos gibt es auch auf den entsprechenden Seiten unter http://www.lwl-jugendpsychiatrie-dortmund.de

Die LWL-Klinik Dortmund -Elisabeth-Klinik- für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik verfügt über 35 stationäre Plätze. Behandelt werden Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 18 Jahren mit psychischen Problemen, Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatischen Störungen bei denen eine Krankenhausbehandlung vollstationär erforderlich ist. Angeschlossen sind eine Ambulanz sowie eine Tagesklinik mit weiteren zwölf Behandlungsplätzen.



Pressekontakt:
Karl G. Donath, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235 und Kerstin Seifert, LWL-Klinik Marl-Sinsen - Haardklinik -, Telefon: 02365 802-2126
presse@lwl.org



LWL-Einrichtung:
LWL-Klinik Dortmund
Marsbruchstr. 179
44287 Dortmund
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Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.


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