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Mitteilung vom 11.08.05

Presse-Infos | Der LWL

Opas Ängste wurzeln tief
Krieg, Krankheitsfurcht und Entwertungsgefühle plagen alte Menschen

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Westfalen (lwl). Albträume aus dem Zweiten Weltkrieg, Furcht vor Krankheit, Negativbilder vom eigenen Älterwerden ¿ nicht allein Bluthochdruck oder Fettwerte, sondern das, was alten Menschen im Kopf herumspukt lässt sie nach Auffassung namhafter Gerontopsychiater leichter krank werden und früher sterben. Diagnosedefizite und zu seltene psychotherapeutische Behandlung erschweren das Angehen gegen Ängste im Alter. Davon werden nach Angaben des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) bis zu 25 Prozent der Menschen ab 65 zumindest zeitweise geplagt.

¿Opa nervt. Der erzählt immer vom Krieg.¿ Die Ausrede steht seit zwei Generationen Enkeln in Deutschland zu Gebote, um den Sonntagnachmittagskaffee zu schwänzen. Kaum nämlich fällt in familiärer Runde ein Stichwort, dann erzählt der alte Mann wieder, wie die Bombe einschlug und er im Krieg an der Front verschüttet wurde. Nächte im Bunker, die Kinder an sich gedrückt, während Decke und Erde bebten, stimmt seine Frau mit ein, schaut mit Tränen in den Augen die Lieben an. Die Zuhörer sind oft nur peinlich berührt. ¿Oma, nun lass mal gut sein¿, ist eine Standardreaktion. Oder noch drastischer: ¿Opa, jetzt reicht das aber mit dem Krieg.¿

Kaum einer fragt, warum sich Oma und Opa das von der Seele reden müssen: Bomben, Tote, Flucht, Vertreibung, Todesängste. 60 Jahre ist das schließlich schon Geschichte. ¿Aber nicht in den Köpfen der Menschen, die heute immer noch damit leben, was sie damals als junge Menschen erlitten haben und sich erst jetzt langsam öffnen¿, so Trauma-Experte Prof. Dr. Stephan Herpertz von der Westfälischen Klinik Dortmund des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL).

Zwei Jahre vor Ende des Zweiten Weltkriegs waren 18,8 Millionen Deutsche gerade einmal zwei Jahre alt. Und wenn heute Bomben auf den Irak fallen, der 11. September sich jährt oder ein Weltkriegs-Jahrestag viel Platz in den Medien bekommt, kann das bislang Unbewältigte sich Bahn brechen und ähnliche Angstzustände auslösen wie damals vor über sechs Jahrzehnten, erläutert Herpertz. Manchmal ist es auch der Tod der Ehefrau oder nur ein vermeintlich harmloser Unfall, der ein altes Trauma wieder weckt.

Kriegsfolgen in ihren Köpfen sind indes nur ein Teil der Ängste, mit denen sich alte Menschen herumschlagen. ¿Viele Menschen in unserem Kulturkreis sehen das Altern an sich negativ¿, so der Schweizer Altersexperte Dr. Peter Bäurle von der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen am Bodensee kürzlich vor Fachkollegen in Münster. So glauben die langsam Ergrauenden weithin auch selbst, im dritten Lebensabschnitt ¿nichts mehr wert zu sein¿, sorgen sich über drohende schwere Krankheiten noch mehr als um den Tod. Vor allem aber ängstigt sie der Verlust der Selbstständigkeit im Alter, erklärt Bäurle. Wissenschaftlich belegt sei: ¿Wer eine negative Einstellung zum eigenen Altern hat, hat oft eine schlechtere Gesundheit als die positiv übers Alter Denkenden und stirbt eher. Ein positives Bild des Alterns ist für die Lebenserwartung wichtiger als die Auswirkungen von Bluthochdruck oder erhöhtem Cholesterinspiegel.¿

Was Angstzustände im Alltag alter Menschen sonst noch anrichten können, ist den Experten nur zu gut bekannt. Das reicht von den zusehends gemiedenen Spaziergängen im Park und der Selbstisolierung in der eigenen Wohnung aus Furcht vor vermeintlich überall drohenden Überfällen bis hin zur Flucht in eine vorzeitige Pflegebedürftigkeit oder zum Absinken in eine tiefe Depression. Schwere Belastungen nicht zuletzt für die Angehörigen bringt auch ein angstbetäubender Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch mit sich.

Jeder Vierte der 65-Jährigen leidet heute zumindest zeitweilig an derartigen Störungen des seelischen Befindens, haben Forscher ermittelt. Eigentlich ohne Not, denn ist die Angsterkrankung erst einmal zuverlässig diagnostiziert, so kann sie ¿ wie die Fachleute immer wieder betonen ¿ mit zumeist ambulanter psychotherapeutischer Behandlung binnen weniger Wochen gut kuriert werden. Nur: ¿In Deutschland gibt es bei der Psychotherapie im Alter einen Versorgungsnotstand¿, beklagt Dr. Dirk Wolter, Chefarzt der Gerontopsychiatrie der LWL-Klinik Münster.

Fachkollege Bäurle unterstreicht, dass durch Ängste in höherem Lebensalter hervorgerufene Befindlichkeitsstörungen ¿selten erkannt und noch seltener behandelt werden.¿ Ein Grund dafür sei, dass es Mitmenschen als ¿normal¿ ansehen, wenn alte Menschen Angst haben. Oft werden ihre Furchtzustände auch als bloßes ¿Anhängsel¿, als Folgeerscheinung einer körperlichen Erkrankung verkannt. Als eigenständiges Krankheitsbild nimmt die Allgemeinheit Angststörungen kaum wahr, zumal dann, wenn sich altersbedingte körperliche und seelische Gebrechen mit dem Erschrecken darüber (¿Plötzlich infarktgefährdet? Vergesslichkeit als Demenz-Vorbote?¿) vermischen.

Verlässliche Zahlen über den Anteil, die Diagnostik und die Behandlung angstgestörter alter Menschen bei ihrer vorrangigen Anlaufstelle, dem Hausarzt, sind rar. Eine 2001 vorgestellte Studie der TU Dresden und des Münchener Max-Planck-Instituts über Angststörungen in allen Altersgrupppen zeigte jedoch, dass zwei Drittel der behandlungsbedürftigen Erkrankungen dieser Art in Allgemeinarzt-Praxen nicht erkannt wurden. Ohnehin finden sich Menschen jenseits der sechzig nach wissenschaftlichen Untersuchungen nur selten (zwischen unter einem bis etwa fünf Prozent) unter den Patienten psychotherapeutischer Behandlungseinrichtungen.

Vieles sei auf dem Gebiet der Gerontopsychotherapie noch nicht hinreichend erforscht, wie beispielsweise das Ausmaß des manchmal vorschnellen und massiven Einsatzes von Psychopharmaka, von Schmerz- und Beruhigungsmitteln. Wissenschaftlich gesichert sei hingegen, dass Belastendes aus der Kindheit als angstbesetzte psychische Störung im Alter wieder aufbrechen könne. ¿Da kann man Senioren so helfen wie den jüngeren Menschen auch¿, verspricht der Schweizer Dr. Bäurle. Und dann nervt Opa vielleicht nicht mehr.

Infokasten

Übersteigerte Prüfungsangst, Platzangst, Flugangst, Zukunftsangst - Angsterkrankungen zählen zu den häufigsten psychischen Störungen. Fachleute teilen die Erscheinungsformen in die Kategorien ¿Realangst¿, ¿Existenzangst¿ und ¿neurotische Angst¿ ein. Mit akut einhergehenden Köperreaktionen wie Atemnot, Schwindel oder Herzrasen können sie sich zu Panikanfällen steigern. Erkrankungsursachen sind vielfältig: Schwer belastende Lebensereignisse, mangelnde Selbstwert-Erfahrungen in der Kindheit, anhaltender beruflicher Stress oder ähnliche Überforderungsszenarien gehören dazu. Wenn angstgeplagte Menschen ständig vor angstauslösenden Situationen ¿flüchten¿, quasi Angst vor der Angst entwickeln, und sich schließlich vor Hilflosigkeit gegenüber ihren immer wieder kehrenden Angstattacken niedergeschlagen und verzweifelt weitgehend vom Alltagsleben abkapseln ¿ spätestens dann ist fachmännischer Rat angezeigt. Binnen weniger Wochen zeitigen überwiegend ambulante psychotherapeutische Behandlungsverfahren nach Expertenangaben bei mehr als 80 von 100 Betroffenen nachhaltige Erfolge. Neben Einzel- und Gruppengesprächen und Selbstsicherheitsübungen erfährt der Erkrankte etwa mit Hilfe des so genannten Konfrontationstrainings, wie er angstauslösende Situationen künftig meistern kann. Beispiel Johann Wolfgang von Goethe: Der Deutschen Dichterfürst bewältigte seine Höhenangst, indem er mehrmals den Kölner Dom bestieg. Medikamente werden allenfalls unterstützend verabreicht.



Pressekontakt:
Karl G. Donath, Tel. 0251 591-235
presse@lwl.org




Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.


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