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Mitteilung vom 29.07.05

Presse-Infos | Der LWL

Vom früheren Macher zur tragischen Figur
Wie ein demenzkranker Vater die Tochter ¿unendlich traurig¿ stimmt

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Münster (lwl). ¿Ich habe eigentlich keine Eltern mehr.¿ Dabei lebt der Vater von Sonja T. doch noch. Nur: ¿Er ist wie ein altes Kind, um das man sich kümmern muss.¿

Sonja T. ist jetzt 50, ihr Vater ist schon um einige Jahre über die Achtziger-Grenze hinweg. Er war stets ein angesehener und geselliger Mann, im Vereinsleben seines Dorfs engagiert, ein Tüftler, ¿der akribisch gearbeitet und sich picobello gehalten hat¿.

Sonja T. ist nach dem Tod der Mutter dieser Vater verloren gegangen. Dieser Vater, der ¿seine Familie früher auf seinen Schultern getragen hat¿. Und wie seine Tochter ihn heute erlebt, das empfindet sie als ¿armselig.¿

Über Jahre hatte sich die allein stehende Tochter schon um Garten und Haus der Eltern gekümmert. Sie wird es einmal erben. ¿Hege und Pflege¿ hatte sie dafür mit den Eltern vereinbart. An diese Abmachung fühlt sie sich gebunden. Versucht, sagt sie, nun das Beste für ihren Vater und sich daraus zu machen.

Die vielen Vereinspöstchen hatte ihr Vater nach und nach aufgegeben. ¿Er hat sehr gut losgelassen¿, lobt Sonja T. ihn rückblickend. Langsam verschwanden dann aber auch seine Freunde von einst aus seinem Leben, nur selten kommt noch einer vorbei. Die schlimmste Erkenntnis für sie: ¿Er lässt sein Leben laufen. Früher hatte er das im Griff.¿

Sie hat, so sieht sie es, dafür das Leben ihres verwitweten und trauernden Vater ¿übernommen¿, managt fast nebenbei auch noch ihre eigenen Angelegenheiten, ihren Beruf. Erfährt aber, wie sie Tag um Tag stärker ¿in sein Leben¿ hineingesogen wird. ¿Das war alles so weit weg. So lange meine Mutter da war, war alles so weit weg.¿ Die jedoch ist seit gut einem Jahr tot.

Kurz nach dem Tod der Ehefrau gibt ihr Vater den Führerschein sogar freiwillig zurück. Über Freunde hört Sonja T. später, der Vater sei orientierungslos durch die Fußgängerzone gefahren.

Sie räumt in der Küche um, stellt fest, dass ihr Vater plötzlich Salz und Flaschenöffner nicht mehr findet. Wäsche versteckt er an mehreren Orten im Haus. Ihre Pläne für einen Umbau des Elternhauses stellt sie zurück: ¿Seine Wohnung muss weiter so aussehen wie zu Mutters Zeiten. Das braucht er.¿ Der Arzt musste nur noch die Diagnose bestätigen, die Sonja T. gefürchtet hatte: Demenz.

Dann auch das noch: Sie merkt plötzlich, dass ihr Vater schon vormittags trinkt. Und das seit Jahren. Früher war er ein paar Mal ¿umgekippt¿. Aber das hatten seine Kinder als ¿Gleichgewichtsstörungen¿ nicht mit Alkohol in Verbindung gebracht. Mit dem Problem hatten die Eltern zusammen hinter dem Berg gehalten, stellt sich heraus. ¿Vor mir ist ihm das peinlich. Vor Mutter war es das nicht.¿ Dabei kann er im Krankenhaus auch mal wochenlang ohne Alkohol leben.

Doch das war noch nicht der ganze ¿Cocktail der Schrecklichkeiten¿, den die Tochter entdeckte. Rechnungen stapelten sich seit Jahren, Mahnungen von Inkasso-Büros hatte er nicht beachtet. Sie ordnete die Stapel, redete mit der Bank. Sie wusste, dass die Mutter darunter gelitten hatte, dass der Vater seit Jahren auf jedes Gewinnspiel hereinfiel, sich an jeder Lotterie beteiligte, die ins Haus flatterte. Ja, selbst an die Schreiber hanebüchener Kettenbriefe, die es auf Senioren abgesehen haben, überwies er Geld. Heute hat Sonja T. eine Kontovollmacht. Mit Erschrecken sieht sie ihn über Stunden am Tisch über Glücksprospekten brüten. ¿So habe ich als Kind früher Büro gespielt¿, sagt sie distanziert, ¿eine tragische Figur, grenzenlos tragisch. Mir tut das weh.¿

¿Ganz schwierig¿ ist es für Sonja T. zwischen den Phasen zu unterscheiden, in denen sie mit ihm ¿gute Gespräche¿ führen kann, und den Momenten, wenn sein Gesicht leer wird. ¿Dann ist da der Schrecken. Das Schon-wieder.¿

Ihr Vater wird inzwischen in einer Westfälischen Klinik für Psychiatrie behandelt, schon damit seine Depressionen nach dem Tod der Mutter kontrollierbar wurden. ¿Ein Patient leidet fast nie nur an Alzheimer¿, erklärt Dr. Dirk Wolter, Chefarzt der Gerontopsychiatrie an der Klinik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Münster, ¿mit der Behandlung von Depressionen können wir das Tempo abbremsen, in dem die Demenz fortschreitet.¿

Immer häufiger erzählte Sonja T.s Vater von seinen Kriegserlebnissen. Für vier Jahre war ihr Vater vom 18. Lebensjahr an im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront. Früher hatte er schon häufiger von Gefallenen erzählt, die er gesehen habe. Heute kommt das wahre Ausmaß auch für sie hervor ¿Die stehen alle um mich herum, sagt er immer. Wie viele hab ich umgebracht?¿

Für seine Tochter ist klar, dass ihr Vater sein Leben lang auch ¿der Macher¿ war, um belastende Kriegserlebnisse zu verdrängen, der ein Haus baute, dann die Familie gründete, erst die alte Mutter und dann seine Frau begrub. Und 60 Jahre später nun vor sich selbst steht.

Mit dem Tod der Mutter hatte nicht nur der Ehemann und Vater, sondern auch Tochter Sonja T. ¿zu kämpfen gehabt¿. Sie hat inzwischen akzeptieren gelernt, dass sie ihren Vater zu Tode pflegen wird. Aber es klingt unendlich traurig wie sie feststellt: ¿In irgendeiner Form habe ich sie beide schon verloren.¿

Info

Rund eine Million Demenzkranke gibt es in Deutschland bereits. Bis 2040 wird ihre Zahl auf schätzungsweise 2,2 Millionen steigen. 300.000 Demenzkranke leben heute allein in Nordrhein-Westfalen. Sie brauchen vielfach Pflege rund um die Uhr. 70 bis 80 Prozent der Betroffenen werden in der Familie versorgt. Bis in das Krankheitsstadium, in dem sie ihre pflegenden Angehörigen nicht mehr erkennen und nicht einmal mehr ihren Namen wissen. Spätestens dann zeigt sich: Pflegende Angehörige mit ihren extremen körperlichen und seelischen Belastungen brauchen fast immer genauso dringend Hilfe wie der Kranke selber. Doch immer noch nehmen viele Angehörige keine Unterstützung in Anspruch, sei es aus Scham, sei es aus Unkenntnis über Hilfeangebote - zum Beispiel Tages- und Nachtpflege oder eine stundenweise Betreuung. Zudem, so Fachleute, müssten viele Pflegende erst regelrecht trainieren, ¿ihren¿ Kranken auch einmal los zu lassen, ihn zeitweise anderen anzuvertrauen. Selbsthilfegruppen helfen der/dem Heöfer/in, sich vom übermächtigen Druck der Dauer-Besorgnis zu lösen und Entlastung etwa durch einen Pflegedienst oder engagierte Freiwillige zu finden. Nicht zuletzt führt die Stabilisierung bei Selbsthilfegruppen-Angehörigen zu einer deutlich niedrigeren Heimeinweisungsquote als bei Pflegenden ohne Unterstützung.

Mehr zum Thema u.a. bei
- Demenz-Servicezentrum Dortmund (https://www.dortmund.de)

- Inga Tönnies, "Abschied zu Lebzeiten - Wie Angehörige mit Demenzkranken leben", Psychiatrie-Verlag, 239 Seiten, 13,90 Euro

- Deutsche Alzheimer Gesellschaft (https://www.deutsche-alzheimer.de)

- jeder der 24 gerontopsychiatrischen Einrichtungen im Psychiatrie-Verbund des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL)



Pressekontakt:
Karl G. Donath, Tel. 0251 591-235
presse@lwl.org




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Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.


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