Forschungsstelle "Westfälischer Friede": Dokumentation

DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa

Textbände > Bd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft

HEINZ SCHILLING
Krieg und Frieden in der werdenden Neuzeit - Europa zwischen Staatenbellizität, Glaubenskrieg und Friedensbereitschaft

I

Im Vogelflug betrachtet, liegen Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede auf der Schnittstelle zweier säkularer Prozesse, die das Zusammenleben der Menschen in Europa grundlegend veränderten. Das war zum einen der im Mittelalter einsetzende Aufstieg des frühmodernen Staates, der auf dem Weg zum Nationalstaat des 18. und 19. Jahrhunderts war. Zum anderen ging es in einer nicht weniger langfristigen Veränderung um die Erneuerung von Religion und Kirche. Angesichts der damaligen engen Verzahnung von Religion und Politik, von Kirche und Staat bezogen sich beide Prozesse auf die Gesamtgesellschaft, die Kirchenreform ebenso wie die Staatsbildung. Zudem waren sie von universalgeschichtlicher Tragweite, das heißt, sie betrafen nicht nur Europa und seine einzelnen Länder, sondern die Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen ganz generell.

Staatsbildung wie Kirchenreformation waren je für sich in einer eminenten Weise konfliktträchtig, im Innern der europäischen Einzelgesellschaften ebenso wie zwischen ihnen. Und da beide von Anfang an eng miteinander verflochten waren - meist in dieselbe Richtung wirkend, nicht selten aber auch in erbitterter Gegnerschaft -, trat Europa ausgangs des Mittelalters in eine Zeit von Krisen und offenen Auseinandersetzungen ein, die dann zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu jenem ersten großen europäischen Gesamtkonflikt zusammenflossen, den wir den Dreißigjährigen Krieg nennen.

Mit Blick auf die Konflikte, die sich speziell aus der Staatsbildung ergaben, hat man jüngst von einer strukturbedingten "Bellizität Europas" in der frühen Neuzeit gesprochen und eine entsprechende Theorie entwickelt, die erklären soll, warum in den ersten drei neuzeitlichen Jahrhunderten in Europa besonders viele Kriege stattfanden.[1] Dem entspricht die Beobachtung, daß auch die zeitlich parallel ablaufende kirchlich-religiöse Erneuerung in eine Totalkonfrontation steuerte. Im konfessionellen Zeitalter flossen dann religiöse und politische Kräfte allenthalben in Europa zu der explosiven Verbindung von "Konfessionskonflikt und Staatsbildung"[2] zusammen. Es kam zu Bürgerkriegen, wie den Hugenottenkämpfen in Frankreich oder der puritanischen Revolution in England, aber auch zu konfessionell geleitetem Ringen der europäischen Mächte. Speziell für die Jahrzehnte um 1600 hat man daher innere und äußere Glaubenskriege für in Europa endemisch erklärt, also für eine stets vorhandene Gefahr.[3]

Der Blick auf die strukturellen Voraussetzungen und die langen Epochen der alteuropäischen Geschichte lehrt aber auch ein weiteres - dem Zwang zum Krieg korrespondierte von vornherein ein Zwang zum Frieden. Ja mehr noch, Konflikthaftigkeit und Tendenz zum Staaten- und Religionskrieg waren strukturell verknüpft mit der Fähigkeit zum Frieden. Die Theorie der Bellizität und die Rede von den endemischen Glaubenskriegen sind daher zu ergänzen durch eine Theorie zwar nicht der Friedfertigkeit, aber doch der Friedensfähigkeit Europas. Diese Friedensfähigkeit war einerseits das Ergebnis jenes politischen Pragmatismus, der sich bereits in den Anfängen der frühmodernen Staatenwelt herausgebildet hatte, um die gegensätzlichen Interessen zu steuern. Andererseits war sie Ausdruck besonderer politischer und gesellschaftlicher Bauprinzipien, die selbst auf dem Höhepunkt des Krieges den Weg in den Frieden prinzipiell offenhielten, und zwar auch und gerade im Falle der scheinbar totalen Weltanschauungskonfrontation im Zeichen der konfessionellen Glaubenskriege.

II

Was zunächst den Zwang zum Staatenkrieg und den Zwang zum Konfessionskonflikt anbelangt, so wurzelten beide im Mittelalter. Die Staatenkriege - beziehungsweise genauer Staatenbildungskriege[4] - waren eine Folge jener im späten Mittelalter einsetzenden und in den verschiedenen europäischen Regionen unterschiedlich rasch voranschreitenden Formierung und Verdichtung von Herrschaft, die wir frühmoderne Staatsbildung nennen. Hinzu kamen die etwa gleichzeitig einsetzenden tiefgreifenden Veränderungen in der Art und Weise der Kriegführung sowie in der Organisation und Verfassung des Wehr- und Kriegswesens. Diese "Militärrevolution", die - ganz grob umrissen - die rasche Verbreitung der Schußwaffen und die Ablösung mittelalterlicher Lehns- und Ritterheere durch die neuzeitlichen, von Fußsoldaten beherrschten Söldnerheere brachte, war mit der Staatsbildung aufs engste verschlungen. Denn die Finanzierung der Söldnerheere machte das Geld zum nervus rerum der frühmodernen Staaten. Hinreichend Geld zu beschaffen, stellte Fürsten und Beamte bis weit ins 17. Jahrhundert hinein vor nahezu unlösbare Probleme. Das änderte sich erst, als es gelang, die Untertanen regelmäßig zu besteuern. Gleichzeitig trieb die Militarisierung die Staatsbildung voran, nicht zuletzt weil eine schlagkräftige Söldnerarmee dem Herrscherwillen im Innern Nachdruck verlieh, auch und gerade bei der Durchsetzung regulärer Steuern.

Die frühmoderne Staatsbildung hatte zwei Seiten, eine innen- und eine außenpolitische. Innenpolitisch lief sie auf Integration und Konzentration aller politischen, sozialen, wirtschaftlichen und sonstigen Kräfte unter der Oberhoheit des Herrschers hinaus. Seit Jean Bodin (1529/30-1596) und seinen "Six livres de la république" von 1576 bezeichnet man dieses neue, innerstaatliche Machtzentrum als einheitliche "Souveränität" und höchste Staatsgewalt in der Hand des Fürsten oder - in den wenigen Republiken - einer Oligarchie der ständischen oder städtischen Staatselite. Anders als sein mittelalterlicher Vorgänger unter dem Lehnswesen bezog sich der frühmoderne Staat nicht mehr primär auf Personen, sondern auf eine Fläche, auf ein Staatsgebiet mit Grenzen.[5] Staatsbildung bedeutete damit zugleich eine Abgrenzung nach außen, und zwar in der Regel eine offensive, nicht selten sogar aggressive. Alle frühmodernen Staaten waren auf Arrondierung des Staatsgebietes durch Einverleibung von möglichst viel Territorium aus. Einige von ihnen verfochten ausdrücklich ein expansives Programm "natürlicher Grenzen".

Frühmoderne Staatsbildung und Aufstieg eines neuzeitlichen Mächteeuropa entsprachen sich also sachlogisch. Das gilt auch insofern, als die frühmodernen Staaten sich zu so etwas wie Kollektivindividuen entwickelten, die ihren eigenen Gesetzen und unveräußerbaren Rechten folgten und folgen mußten. Voll entfaltet war das erst bei den Nationalstaaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Auf anderer Grundlage war aber auch der dynastische Fürstenstaat des 15. bis 18. Jahrhunderts ein nach innen geschlossenes, alle Kräfte konzentrierendes und nach außen in Konkurrenz mit anderen Staaten handelndes Kollektivindividuum.

Die innere Staatsbildung war nicht anders als die äußere und die damit einhergehende Geburt des neuzeitlichen Mächteeuropa von gewaltigen Erschütterungen begleitet: Im Innern gingen die Herrscher und ihre Staatseliten mit Gewalt gegen die alten Kräfte von Ständen, Städten, Klerus und lokalen Verbänden vor, die ein eigenständiges, nicht abgeleitetes Recht politischer Mitwirkung beanspruchten, das der Staat unter dem neuzeitlichen Souveränitätsprinzip nicht mehr zugestehen konnte. Zwischen den Staaten ging es neben den erwähnten Arrondierungstendenzen vor allem um Rangstreitigkeiten, da es eine allgemein anerkannte Staatenordnung noch nicht gab.[6] Europa trat daher ausgangs des Mittelalters in eine lange Phase verdichteter inner- wie zwischenstaatlicher Gewalt ein.

Die innerstaatliche Friedlosigkeit wurde recht bald Zug um Zug beseitigt. Denn der neuzeitliche Staat setzte das sogenannte Gewaltmonopol durch. Das heißt, alle nicht von der Staatsgewalt ausgehende oder von ihr delegierte Gewalt galt fortan als illegal oder gar aufrührerisch und wurde entsprechend verfolgt. Das traf den Adel ebenso wie die Kirche und die Städte, die allesamt in vor-staatlicher Zeit legale Gewalt ausgeübt hatten. Letztes Aufbegehren des an Freiheit und Autonomie gewohnten Adels gegen den frühmodernen Staat waren das Raubrittertum des ausgehenden Mittelalters, der Aufstand der Reichsritterschaft 1522/23 und zahlreiche ähnliche Adelsrevolten, deren letzte im Reich Mitte des 16. Jahrhunderts niedergeschlagen wurde.

Im Gegensatz zur innerstaatlichen Befriedung blieben zwischen den Staaten die prinzipielle Friedlosigkeit und der "Krieg aller gegen alle" erhalten. Das hat keiner treffender beschrieben als der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes (1588-1679): Die Erfahrung des in England parallel zum Dreißigjährigen Krieg wütenden Puritanischen Bürgerkriegs ließen ihn zum Theoretiker des gewaltigen Leviathan-Staates werden, der im Innern den Kampf aller gegen alle beendete, indem er die naturwüchsige Wolfsnatur des Menschen drakonisch zähmte. Die Zähmung der menschlichen Wolfsnatur und die Abschaffung des kriegerischen Naturzustandes im Innern der Staaten könne aber - so Hobbes - keine Entsprechung auf der zwischenstaatlichen Ebene haben. Denn zwischen den souveränen Herrschern, die per definitionem niemanden über sich anerkennen, sei ein prinzipieller Verzicht auf urwüchsige Gewalt nicht möglich. Im Mächteeuropa ist daher nach Hobbes der Krieg der natürliche Zustand: "Zu allen Zeiten stehen Könige und Inhaber souveräner Gewalt wegen ihrer Unabhängigkeit sich in unwandelbaren Eifersüchten (jealousies) und im Stand und in der Haltung von Gladiatoren gegenüber."[7]

Die konfessionellen Gegensätze, die im Dreißigjährigen Krieg mit den Arrondierungs- und Konkurrenzkämpfen der Staaten zum ersten großen Weltanschauungs- und Mächteringen europäischen Ausmaßes zusammenflossen, gelten gemeinhin als Ausdruck neuzeitlicher "Zerrissenheit" des westlichen Christentums. Und doch haben auch sie ihre Wurzeln und Vorläufer im Mittelalter. Vom 14. bis zum 17. Jahrhundert - also weitgehend gleichzeitig mit der frühmodernen Staatsbildung - erlebte die lateinische Christenheit eine "temps des réformes", eine "Zeit der Reformationen", wie das französische Historiker nennen, die nicht auf Luther und Wittenberg fixiert sind. Der damit gemeinte Aufbruch in Spiritualität und Frömmigkeit, bei den Orden, im Weltklerus und in den religiösen Lebensformen allgemein, auch und gerade der Laien, die immer selbstbewußter auftraten, führte zu scharfen Spannungen und Gegensätzen innerhalb der Kirche und zu schweren inneren Erschütterungen einzelner Gesellschaften - vor allem der englischen durch John Wyclif (1320/26-1384) und durch die Lollarden, wenig später dann auch der böhmischen und mährischen durch Hus (1370-1415) und die Hussiten.

Wie bereits die Hussitenkriege des 15. Jahrhunderts zeigten, die weit über die böhmische Grenze hinweg benachbarte Territorien bis nach Franken und Westfalen im Westen, Danzig im Norden, Österreich und Ungarn im Süden erfaßten, bargen diese religiösen Bewegungen aber auch ein enormes kriegerisches Potential, das sich nach außen wenden konnte.

Als im 16. Jahrhundert die Reformationen Luthers, Zwinglis und Calvins zusammen mit der darauf antwortenden katholischen Reformation, für die Ignatius von Loyola stehen mag, die Einheit der lateinischen Christenheit endgültig sprengten, erreichten die innere Dynamisierung und Integration ebenso wie die aggressive Abgrenzung nach außen ihren Höhepunkt. Denn es bildeten sich drei rechtlich, organisatorisch und theologisch-dogmatisch scharf voneinander unterschiedene Konfessionskirchen heraus - eine lutherische, eine reformiert-calvinistische und eine katholische. Diese wurden zu den wohl entschiedensten Trägern frühneuzeitlicher Integration und Abgrenzung. Denn sie forderten von ihren Mitgliedern eine "confessio", ein formelles Bekenntnis - zuerst von den Pfarrern und Klerikern, aber auch von den Gemeindemitgliedern, vor allem wenn sie eine herausgehobene Position in Staat und Gesellschaft bekleideten. Das war die Voraussetzung dafür, daß Glaubenskriege um 1600 in Europa endemisch wurden und wenig später die Konfessionskonflikte mit den Staatsbildungs- und Staatenkriegen zu jenen ersten großen Weltanschauungs- und Machtkriegen der europäischen Neuzeit zusammenflossen, unter denen der Dreißigjährige nur der ausgedehnteste und erbittertste war.

Eine neuzeitliche Dimension nahmen die Mächtekonflikte ausgangs des 16. Jahrhunderts auch insofern an, als die europäischen Kriege erstmals, wenn auch nur ansatzweise, über den Kontinent hinausgriffen. Das war eine Folge der eben aufgezogenen Konkurrenz zwischen den inzwischen bereits "alten" Kolonialmächten Spanien und Portugal und den Newcomer Holland und England, später auch Frankreich. Die Staaten- und Glaubenskriege des konfessionellen Zeitalters gingen daher bereits mit Verwicklungen auf den Weltmeeren und in Übersee einher. Dabei ging es nicht zuletzt um den Zugriff auf die Edelmetallressourcen, die für den Unterhalt der Söldnerheere in Europa wichtig waren. Als der niederländische Admiral Piet Heyn 1628 im kubanischen Hafen Matanzas die spanische Silberflotte aufbrachte, war das ein triumphaler Reputationsgewinn für die junge Kolonialmacht Holland, aber zugleich auch ein schwerer finanzieller Rückschlag für Spanien, ein Verlust von nicht weniger als zwölf Millionen Gulden, davon acht Millionen in Gestalt von 177.000 Pfund Silber. Die wirtschaftliche und mächtepolitische Konkurrenz zwischen den katholischen Alt- und den vorwiegend protestantischen Neukolonialmächten bedeutete zugleich die Übertragung der Glaubenskriege und der konfessionellen Prägung von Politik und Gesellschaften generell von Europa nach Übersee.

Der Dreißigjährige Krieg war vielerorts auch ein innerer Konfessions- und Bürgerkrieg. Das gilt vor allem für Böhmen, seinen Ursprungsort, wo bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts ein schwerer Herrschaftskonflikt zwischen katholischer Krongewalt und protestantischer Ständemacht ausgebrochen war. Ähnliche innere Spannungen und Gegensätze erschütterten Anfang des 17. Jahrhunderts die Niederlande - zwischen arminianischer, das heißt gemäßigt-reformierter Regentenpartei unter Führung des Theologen Jacobus Arminius (1560-1609) und des Politikers Johan von Oldenbarnevelt (1547-1619) einerseits und den Oranier-Statthaltern andererseits, die sich auf die entschiedenen Calvinisten mit ihrem theologischen Haupt Franciscus Gomarus (1563-1641) und die von ihnen beherrschten breiten Volksschichten stützten. Nicht anders sah es in manchem der deutschen Territorien aus, wo die Fürsten darangingen, gleichzeitig mit ihrer frühabsolutistischen Gewalt die konfessionelle Glaubenseinheit - katholisch, lutherisch oder reformiert - endgültig zu errichten, und sich die davon ausgelösten Konflikte während des Krieges als Bauernunruhen, Bauernaufstände oder Ständekampf fortsetzten.

Diese europäischen Kriege im Zeichen des Konfessionalismus waren nicht einfach eine Variante der Staatsbildungs- oder der Staatenkriege. Sie besaßen vielmehr eine eigene Qualität, die sich aus der erwähnten Überschneidung des politisch-staatlichen und des religiös-kirchlichen Grundsatzwandels ergab. Erst dadurch erhielten viele der zwischen 1550 und 1650 ausgefochtenen Kriege jenes Maß an grundsätzlicher, man könnte auch sagen, fundamentalistischer Feindseligkeit, das Europa erstmals in eine Krise neuzeitlichen Ausmaßes stieß, in der das menschliche Zusammenleben sowohl innerhalb der Staaten wie auch zwischen den Mächten auf dem Spiel stand.[8]

Frieden und dauerhafte Stabilität[9] waren nur durch ganz neue Ordnungs- und Rechtsnormen, ja durch einen neuen Begriff des Politischen zu erreichen. Nach dem Aufzug der konfessionellen Totalkonfrontation im ausgehenden 16. Jahrhundert ging es um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, ob auf längere Zeit in Europa der - in gegenwärtigen Kategorien gesprochen - religiöse Fundamentalismus sich durchsetzen würde oder ob es gelänge, diese Gefahr durch ein intellektuell, vor allem auch theologisch und rechtlich überzeugendes Gegenkonzept und die daraus abzuleitenden politischen und institutionellen Vorkehrungen auf Dauer zu bannen. Daß dies gelang, macht im Kern die weltgeschichtliche Leistung des Westfälischen Friedens aus. Schiller, dem Ende des 18. Jahrhunderts diese Zusammenhänge noch klar vor Augen standen, bevor sie im nationalgeschichtlichen Eifer des 19. Jahrhunderts verlorengingen und eine negative Bewertung des Friedens einsetzte, feierte das Münsteraner und Osnabrücker Vertragswerk daher ganz zu Recht als das "mühsame, teure und dauernde Werk der Staatskunst, [...] das interessanteste und charaktervollste Werk der menschlichen Weisheit und Leidenschaft."[10]

III

Nach drei Jahrzehnten der Totalkonfrontation und langen Jahren zähen Ringens um den tragfähigen Kompromiß am Verhandlungstisch brachte der Westfälische Friede am 24. Oktober 1648 Deutschland die ersehnte Waffenruhe. Zugleich damit wies er Europa den Weg, zwar nicht Krieg prinzipiell zu verhindern, wohl aber ihn "einzuhegen" und einen auf Generationen wirksamen Schutzwall gegen einen neuen, den Kontinent insgesamt erfassenden Flächenbrand zu errichten. Vor allem aber wurde in den Religionsartikeln die Grundlage dafür gelegt, daß in Europa der fundamentalistische Glaubens- und Religionskrieg rechtlich und moralisch unmöglich wurde.

Der Westfälische Friede war auch ein Erschöpfungsfriede:
"Die Häuser seind verbränt / die Kirchen seind zerstört /
Die Dörffer seind verkehrt / der Vorrhat ist verzehrt /
Mann siht der Länder trost die grossen Stätt verbrennen /
Die Herrligkeit deß Lands mag keiner mehr erkennen",
so klagt ein anonymer Dichter.[11] Und der dazugehörende Holzschnitt zeigt den Soldaten als "Unbarmherzigen Bauernreiter". Vor allem aber war dieser Friede, den nicht nur Politiker verfeindeter Staaten schlossen, sondern zu dem sich über tiefe Gräben hinweg zwei Weltanschauungslager verstanden, Ausdruck einer selbst in der tiefsten Zerteilung noch wirksamen Friedensfähigkeit Europas. Auch sie war in langfristig wirksamen Traditionen und Dispositionen, ja im Bauprinzip des Zivilisationstypus Europa verwurzelt, und zwar vor allem in zwei Eigentümlichkeiten, in seinem Recht und in seiner spezifischen Religion.

Das Recht war in Europa stets eine wirkungsvolle Macht. Vor allem in Gestalt des Römischen Rechts prägte es die mittelalterliche Gesellschaft tief - vermittelt zunächst durch die Kirche mit ihrem kanonischen Recht, seit der Wiederentdeckung des corpus juris civilis im 12. Jahrhundert dann vor allem durch die Rechtsschulen und die juristischen Fakultäten, allen voran diejenigen in Bologna.[12] Von Anfang an prägte das Recht auch die Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten. Selbst als die Europäer mit blutiger Gewalt auf andere Kontinente und die Neue Welt übergriffen, blieb diese Rechtstradition in der Praxis nicht ganz wirkungslos. In der Theorie wurde dadurch die neuere europäische Völkerrechtstradition angestoßen. So begründete der Dominikanermönch und Theologieprofessor in Salamanca Francisco de Vitoria (1492-1546) bereits 1539 in seinen "Vorlesungen über die kürzlich entdeckten Indianer" ("Relectiones de Indis recenter inventis") das ius inter gentes, also die Rechtsbeziehungen zwischen den Völkern, auf der Grundlage des Römischen Rechts als Naturrecht, das sich, unabhängig von Religion, Rasse oder Macht von der menschlichen Vernunftsnatur herleitete.

Auch das Chaos der Selbstzerfleischung, das allen europäischen Gesellschaften durch den Aufzug der konfessionellen Totalkonfrontation drohte, wurde immer wieder durch das Recht abgewendet. Das gilt für die staatsrechtliche Souveränitätslehre, mit der die Juristenpartei der "Politiques" in Frankreich den Hugenottenkrieg steuerte, vor allem aber für den Augsburger Religionsfrieden, der dem Reich für zwei, drei Generationen Ruhe sicherte. Er basierte entscheidend auf dem Willen, die unüberbrückbaren Glaubensgegensätze durch das Instrument des Rechts politisch und gesellschaftlich zu "neutralisieren". Das geschah insbesondere durch das sogenannte "Dissimulieren", ein eigens zur rechtlichen Bändigung der konfessionellen Konfrontationsdynamik entwickelter "eigener Typ rechtlichen Denkens und rechtlicher Gestaltung [...], der - um den konfessionellen Ausgleich bemüht - [...] die Kunst des Kompromisses im Verzicht auf die Entscheidung [übt und] der das Unlösbare vorsichtig ausklammert, indem er nach den mehrdeutigen Begriffen griff, [um] [...] die [einstweilen nicht überbrückbaren] Gegensätze zu verdecken."[13] - Als in einer späteren Generation der Wille zum Frieden ab- und die Bereitschaft zunahm, zur Verbesserung der eigenen konfessionellen und politischen Position das Risiko eines Krieges einzugehen[14], brach der 1555 errichtete Rechtswall Anfang des 17. Jahrhunderts zwar zusammen. Als das Chaos des darauffolgenden Krieges aber mit aller Brutalität die Kosten der ungehemmten Konfrontation offenbarte, konnte die Augsburger Lösung dann wieder zum Modell für die dauerhaften Rechtsregelungen von 1648 werden.

Angesichts des ungeheuren konfessionellen Konfliktpotentials hätte der Westfälische Friedenskongreß aber wohl nie zu einem dauerhaften Erfolg gefunden, wäre die prinzipielle Friedensfähigkeit Europas nicht auch und gerade in der Religion und im religionssoziologischen Profil Europas verankert gewesen. So unbestreitbar das Christentum zu Gewalt und Unfrieden beitrug, nicht zuletzt weil die Kirche selbst einen Staat aufbaute und damit auch zu einer weltlichen Macht wurde, so unübersehbar sind doch auch seine Leistungen bei der Zurückdrängung alltäglicher Gewaltbereitschaft und bei der Ausbreitung jener Friedensnormen, die Christus begründete und die seine Missionare zum Grundbestand des europäischen Zivilisationstypus gemacht hatten. Von den Versuchen, diese Friedensnormen auch in der gesellschaftlichen und politischen Realität durchzusetzen, sei nur an die Gottesfriede-Bewegung des hohen Mittelalters erinnert.

Es traten aber immer wieder Blockaden auf, die eine konkrete Friedenspolitik der Kirche verhinderten. Ja, die Kirche selbst hat wiederholt zum Krieg aufgerufen - im Falle der Kreuzzüge ebenso wie bei den Häretikerkriegen gegen Albigenser, Waldenser und Hussiten. Im 16. Jahrhundert schien sich der Widerspruch zwischen Friedensgebot und realer Kriegspolitik zu einer unauflösbaren Aporie zu verfestigen. Denn ganz anders als eben noch Hus und die Hussiten ließen sich die Begründer und Anhänger der westeuropäischen Reformationen nicht mehr einfach als Häretiker bekämpfen, denen man Rechts- und Vertragsfähigkeit aberkannte. Indem die Reformationen zu einem Teil der Staatsbildung wurden und Fürsten wie Stadtmagistrate als Schutzherren und Verteidiger der reinen Lehre auftraten, gewannen die "Häretiker" rechtlichen und politischen Schutz, und aus dem mittelalterlichen Häresie- wurde das neuzeitliche Konfessionenproblem. Gleichzeitig damit gewannen Feindseligkeit und Friedlosigkeit innerhalb der europäischen Christenheit eine neuartige Qualität: Zum Gegensatz der Lehre und des Glaubens gesellte sich das Konfliktpotential der frühmodernen Staatsbildung, und beides addierte sich zu der ungebremsten Konfrontationsdynamik der politischen Konfessionsparteiungen und Konfessionsblöcke.

Daß es schließlich doch gelang - wenn auch erst nach dreißig für die Menschen aller Konfessionen schweren und leidvollen Jahren - die Aporie zu überwinden und die scheinbar schicksalhafte religiös-fundamentalistische Konfrontationsdynamik außer Kraft zu setzen, hing entscheidend mit der besonderen Art und Weise zusammen, wie Staat und Kirche von Anfang an in Europa miteinander in Verbindung standen.[15] Denn in Alteuropa war die Staat-Kirche-Beziehung zwar dadurch charakterisiert, daß Religion und Gesellschaft beziehungsweise Kirche und Staat anders als in der modernen Welt nicht getrennte Bereiche, sondern strukturell miteinander verflochten waren. Grundlage war aber kein Monismus wie im Falle fundamentalistischer Religionssysteme, sondern ein Dualismus, in dem Staat und Kirche stets unterscheidbar blieben und keine dieser Gewalten die andere bedingungslos ihrem Gesetz unterwerfen konnte. Daran änderte sich im Prinzip auch nichts, als der Konfessionalismus des späten 16. und des 17. Jahrhunderts die politisch-religiöse Verschränkung Alteuropas zu ihrem Höhepunkt führte und die religiösen Leidenschaften der Konfessionen Politik und Gesellschaft in scheinbar fundamentalistischer Weise steuerten.

Aus diesem religionssoziologischen Muster ergaben sich drei für den Charakter des Dreißigjährigen Krieges und die Bedingungen des Friedens wichtige Konsequenzen: Erstens blieb die Politik stets so weit von der raumgreifenden Konfessionalisierung unabhängig, daß sie - wie vor allem das katholische Frankreich zeigt - von Anfang an auch gegen die konfessionellen und religiösen Interessen betrieben werden konnte, wenn das auch stets als eine zeitlich befristete Ausnahme von der Norm galt. Zweitens blieben die Politiker selbst in dem Moment, als sie - wie bei den Katholiken - als defensores ecclesiae (Verteidiger des Glaubens) oder - wie bei den Protestanten - als Notbischöfe bzw. praecipua membra ecclesiae (hervorragende Mitglieder der Kirche) ihr politisches Handeln in den Dienst des jeweiligen Konfessionalismus stellten, beiden prinzipiell unterscheidbaren Teilen ihres Amtes verpflichtet, also sowohl der kirchlich-religiösen als auch der staatlich-politischen Fürsorge für ihre Untertanen. Auch auf dem Höhepunkt des Konfessionalismus herrschte demnach in Europa keineswegs ein fundamentalistischer Monismus, für den die Religion die einzige und letzte Norm ist. Als der Krieg offenkundig werden ließ, daß die zu enge Verschränkung des politischen und des kirchlichen Herrscherauftrages Staat und Gesellschaft, letztlich aber auch die Kirchen und die Religion ins Verderben stürzen würde, da war es die dualistische Verfassung der lateinischen Christenheit, die Raum und die entscheidende Legitimation für eine grundsätzliche Revision des politischen Konfessionalismus bot. Auf dieser Grundlage konnte die dominante Kriegsbereitschaft des ersten Jahrhundertdrittels in den ausgreifenden Friedenswillen der späten 1630er und 1640er Jahre umschlagen.

Die aus dieser Friedensbereitschaft resultierende Lösung von 1648, die einen Glaubenskrieg nach Art des Dreißigjährigen in Europa fortan ausschloß, wurde wesentlich dadurch stabilisiert, daß der dualistischen Religionsverfassung Europas eine Anlage zur Säkularisation eingepflanzt war, also zur Trennung der weltlichen von den religiösen Dingen und zur Durchsetzung autonomer Selbstbestimmung von Politik, Kultur und Gesellschaft. Dieser Prozeß verlief wellenförmig. Nach dem ersten mächtigen Säkularisationsschub im Anschluß an den sogenannten Investiturstreit des hohen Mittelalters war das 16. Jahrhundert infolge der Reformationen durch eine gewisse Gegenbewegung oder gar Resakralisierung geprägt. Völlig zurückgedrängt war die Säkularisation damit aber keineswegs. Selbst auf dem Höhepunkt des Konfessionalismus blieb sie als Unterströmung wirksam, und zwar vor allem in den theoretischen und praktischen Lösungsstrategien der Juristen und im politischen Denken allgemein. Das half den Weg in den Frieden ebnen.

Was vielleicht noch wichtiger ist, die Säkularisation gab der Friedenspolitik der katholischen und protestantischen Fürsten eine besondere Legitimität, ohne die sich der Konfessionalismus kaum so rasch hätte überwinden lassen. Denn - und das wird häufig übersehen - bis zur Aufklärung setzte sich die Säkularisation nicht dominant als antireligiöse oder antiklerikale Bewegung durch, sondern in engem Rückbezug auf die religiös-kirchlichen Traditionen. Die alteuropäische Säkularisierung war durch eine Dialektik charakterisiert, die die religiöse Dynamik nicht kappte, sondern ins Weltliche hineinnahm und damit die Durchschlagskraft und die Legitimität politischen und gesellschaftlichen Handelns entscheidend stärkte. In einem so verstandenen "säkularisierten" Kontext hatte "Friede" eine religiöse und sakrale Dimension, auch wenn er pragmatisch-säkular zustande kam und - wie der Westfälische - dogmatische und kirchenrechtliche, vor allem auf das Kirchengut bezogene Positionen außer acht ließ. Das "pax sit christiana" (Es sei ein christlicher Friede), mit dem bekanntlich die Bestimmungen der Westfälischen Friedensinstrumente beginnen, ist auch in diesem Sinne zu lesen, nämlich als Brücke, über die die "Säkularisation des Politischen" legitimiert und akzeptabel wurde.

Vielleicht noch deutlicher sind diese Zusammenhänge in der Friedenstaube mit einem Ölzweig im Schnabel ausgedrückt, die in immer neuen Variationen auf Münzen und Medaillen den Westfälischen Frieden symbolisiert und in säkularisierter Form - meist ohne Ölzweig - auch heute für den Weltfrieden steht. Das ist der Friedensvogel des Alten Testaments, der Noah anzeigt, daß die Erde nach dem Wüten der Elemente wieder bewohnbar ist, und auch und vor allem, daß sich Gott mit den Menschen wieder versöhnt hat und ihnen seinen Frieden anbietet.

IV

"Frieden durch Recht" und "Frieden durch Säkularisation des Politischen" im Westfälischen Frieden von 1648 bedeutete ein Doppeltes - die aktuelle Lösung der konkreten Probleme, die das Reich und Europa in den Krieg gestürzt hatten, und ein Modell beziehungsweise eine Strategie zur Vermeidung, Eingrenzung oder raschen Lösung zukünftiger Konflikte und Gegensätze politischer wie religiöser Art. Deutschland erhielt eine politische und eine Religionsverfassung, die bis zum Ende des Alten Reiches im Jahre 1806 im wesentlichen stabil blieben. Für die Beziehungen zwischen Kirche und Staat und für das Verhältnis der Konfessionen untereinander sind sie sogar heute noch richtungweisend. Europa erhielt eine Staatenordnung, die von der prinzipiellen Rechtsgleichheit ihrer Mitglieder ausging und die auf dem nun zur vollen Entfaltung gelangten Völkerrecht basierte.

Als Religionsfrieden, der anders als der von 1555 Dauer hatte, und als innerer wie äußerer Staatenfrieden zog der Westfälische Friede einen Schlußstrich unter eine durch "Bellizität", Reformationen und endemischen Glaubenskrieg gekennzeichnete Epoche. Somit läßt sich für 1648 von einem universalgeschichtlichen Einschnitt sprechen.

Der "ewige Friede" war indes nicht errichtet worden. Im Westen und Nordosten des Kontinents ging der Krieg weiter. Als 1659 und 1660 mit dem Pyrenäen- und dem Olivaer Frieden auch dort die Waffen zum Schweigen gebracht waren, dauerte es nicht lange, bis mit den Ambitionen Ludwigs XIV. von Frankreich neue Kriege aufzogen. Dennoch wirkte der Westfälische Friede fort in der Erinnerungskultur der Europäer als "lieu de mémoire" für einen großen historischen Moment, in dem es gelungen war, aus tiefster Zerrissenheit den Frieden in harter Arbeit am Kompromiß zu gewinnen. Darüber hinaus gingen die Verhandlungen von Münster und Osnabrück ganz konkret als Modell in die europäische Erinnerung ein, sich diesem Ziel durch Friedenskongresse anzunähern, die seit 1648 in Europa nachgerade alltäglich wurden. Damit waren eine Vision des Friedens und eine Dynamik der Friedenssuche freigesetzt, die sich nicht mehr ersticken ließen, zumal dem Frieden im Zuge der Säkularisation religiöse oder quasi-religiöse Würde übertragen wurde. So betrachtet, fußen sowohl Kants großer Entwurf "Zum ewigen Frieden" von 1796[16] als auch die vertrauensbildenden Maßnahmen und Konferenzen über Gewaltverzicht des ausgehenden 20. Jahrhunderts auf der Leistung des Münsteraner und Osnabrücker Kongresses.

1648 wurden aber noch in anderer Hinsicht Weichen für die politische Kultur Europas gestellt: Indem damals Politik und Religion durch Rechtsregelungen getrennt wurden, war eine Entscheidung von universalgeschichtlicher Tragweite gefallen. Es war der Grundstein gelegt für die Autonomie und Säkularität des modernen Politikbegriffes, aber auch für die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Religion und Kirche, denen - so jedenfalls im deutschen Staatskirchenrecht - ein vom Staat zu respektierender und zu schützender Freiraum zugesichert bleibt.[17] Als Folge von all dem findet heute in Europa kaum etwas breitere Zustimmung als die Ablehnung des Glaubenskrieges als reale Möglichkeit des politischen Handelns. Jeder moderne Europäer erschrickt zutiefst, wenn ein solcher trotzdem im eigenen Haus aufflackert oder wenn andernorts Anhänger des religiösen Fundamentalismus dazu aufrufen.[18]

V

Es sind ohne Zweifel vornehmlich diese langfristigen Prägungen der historisch-politischen Kultur, die dem Dreißigjährigen Krieg und dem Westfälischen Frieden im historischen Bewußtsein Deutschlands und Europas einen besonderen Stellenwert zuweisen. Zum humanen Auftrag der Geschichte und zur Denk-Würdigkeit dieses historischen Ereignisses gehört aber noch ein Weiteres: Die Menschen, die Staatenbellizität und Konfessionskonflikte durchlebten, taten das nicht als Statisten von Prozessen und Strukturen, die der moderne Historiker analysiert oder in einer historischen Ausstellung darstellt, um sie für die eigene Gegenwart und Zukunft "aufzuheben". Ihren Verhaltens- und Lebensformen, ihren Denk- und Weltbildern gebührt unser Interesse, gerade weil sie "verloren" sind und uns heute fremd erscheinen. Denn nur weniges vermag uns eindringlicher die Veränderbarkeit und die historische Relativität sozialer und kultureller Formen - auch der Gegenwart - vor Augen zu stellen als eine solche Begegnung mit dem Fremden in der eigenen Geschichte. Anders als die meisten Menschen der Gegenwart, die durch die Aufklärung und den Anspruch der modernen Natur- und Sozialwissenschaften auf rationale Erklärung geprägt sind, erlebten die Menschen des konfessionellen Zeitalters Gewalt und Haß, Mord, Ausgrenzung und Diffamierung als unbegreifbare Mächte, denen sie ausgeliefert waren. Sie fügten die entfesselten Gewalten in ein Gottes- und Weltbild ein, das nicht mehr das unsere ist, das uns aber gerade deshalb jenseits eines stets wohlfeilen Hochmuts der Späterlebenden Respekt abverlangt. Die Menschen, die um 1600 von einer umfassenden Krise verunsichert wurden, in der Krieg und Gewalt nur Teil eines weitergreifenden Syndroms waren, erklärten sich die Spannungen und Gegensätze und den sie bedrohenden Unfrieden als gewaltiges apokalyptisches Ringen, als Kampf der Kinder des Lichtes gegen die Kinder der Dunkelheit, von rechten oder - ein Ausdruck der englischen Puritaner - "godly" Christen gegen den Antichristen und seine Heerscharen. Hunger, Not, Krankheit, Tod deuteten sie als Rache, Vergeltung und Strafe Gottes für Sünde und Missetat, für Häresie beziehungsweise Verstocktheit gegenüber dem reinen Evangelium.

Um so tiefer, man möchte fast sagen, verzweifelter war ihre Friedenssehnsucht als Wunsch nach dem weltlichen Frieden, aber auch und vor allem nach dem kosmischen und nach dem überirdischen Frieden. Beidem haben die Dichter des Barock Ausdruck verliehen, Andreas Gryphius etwa, der schon 1636 "Tränen des Vaterlandes" dichtete und darin klagt:

"Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, daß unser Ströme Flut,
von Leichen fast verstopft, sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot:
Daß auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen."

Paul Gerhardt (1607-1676) beginnt seinen Choral auf den Westfälischen Frieden, indem er jubelnd die Waffenruhe für diese Welt feiert:

"Gottlob, nun ist erschollen
das edle Fried- und Freudenwort,
daß nunmehr ruhen sollen
die Spieß und Schwerter und ihr Mord".
In der Schlußstrophe aber beschwört er das Vertrauen auf den ewigen Gottesfrieden, der aller irdischen Mühsal ein Ende setzt und die Menschen mit Gott versöhnt:
"der Friede, den er gibet,
bedeutet alles Guts.
Er will die Lehre geben:
das Ende naht herzu
da sollt ihr bei Gott leben
in ewgem Fried und Ruh".

Beides haben wir im Auge zu behalten - die längerfristigen Strukturen und Prozesse, die uns als Vorgeschichte unserer historisch-politischen Kultur und als Teile unserer eigenen gegenwärtigen Existenz und des Auftrages an die Zukunft interessieren, aber auch den Alltag und die für uns fremden Lebenswelten der Menschen, die auch dort, wo sie hilflos und ohne es zu begreifen den Ereignissen ausgeliefert waren, nicht als deren Teil oder Objekte verrechnet werden dürfen. Die Ausstellung "1648 - Krieg und Frieden in Europa" und der sie begleitende Katalog wollen beide Seiten der Geschichte lebendig werden lassen - das Ringen um die Staatenordnung und um eine den geistigen Grundlagen Europas angemessene Religionsverfassung samt den diesbezüglichen Friedensregelungen, aber auch das "Leben in Krieg und Frieden", die Feste und Erinnerungskultur des Friedens sowie, last but not least, die Widerspiegelung von Krieg und Frieden in Literatur, Musik und bildender Kunst.



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ANMERKUNGEN


1. Burkhardt 1997.

2. Schilling 1981. Das dort am Beispiel eines deutschen Territoriums entwickelte religionssoziologische Muster gilt mit den entsprechenden zeitlichen und regionalen Modifikationen für Europa allgemein.

3. Schilling 1996, vor allem S. 127.

4. Burkhardt 1997.

5. Medick 1991; Sahlins 1989.

6. Dazu ausführlich der Beitrag von Johannes Burkhardt in diesem Katalog.

7. Hobbes 1960, S. 82 (Teil I, Kap. 13).

8. Ausführlich hierzu Koselleck 1973.

9. Rabb 1975.

10. Schiller 1985, S. 557f.

11. Anonymes Gedicht, zit. nach Maché/Meid 1980, S. 140f.

12. Vorzüglich Stein 1996.

13. Grundlegend die Studien von Heckel 1989, v.a. I, 1ff. (dort S. 33 das Zitat), S. 233ff.; II, S. 970ff., 999ff.; Heckel 1995. Vgl. auch Heckel 1983. - Zur Stellung des "dissimulatio"-Verfahrens innerhalb der frühneuzeitlichen Toleranzdebatte allgemein Schlüter 1992, S. 27ff.

14. Ausführlich Schilling 1988a und Schilling 1988, S. 267ff., 372ff.

15. Das Folgende nach Schilling 1998.

16. Lutz-Bachmann/Bohmann 1996; Gerhardt 1995; schließlich auch Höffe 1995.

17. Weite, Grenzen und Aktualität dieses grundrechtlich garantierten Freiraums waren Gegenstand der Diskussion um das sogenannte Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer 1995.

18. Wie schwer sich Europäer tun, den Fundamentalismus überhaupt zu begreifen, zeigte die Diskussion um die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1995 an die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel. Dokumentiert in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Oktober 1995, Nr. 240, 9 und 10.



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© 2001 Forschungsstelle "Westfälischer Friede", Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Domplatz 10, 48143 Münster, Deutschland/Germany. - Stand dieser Seite: 2. Mai 2002