DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa
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IX. DAS HEILIGE RÖMISCHE REICH DEUTSCHER NATION
Nachdem die politische Krise im Anschluß an die Reformation durch den Augsburger
Religionsfrieden beigelegt worden war, herrschte im Reich für eine
Generation ein politisch-konfessioneller Frieden zwischen Kaiser und
Ständen ebenso wie zwischen Katholiken und Lutheranern. Ab den 1570er
Jahren trat eine neue Generation von Reichsfürsten in Erscheinung, die
aktiv auf eine Stärkung ihres jeweiligen Bekenntnisses hinarbeitete, auch
wenn dies zu Konflikten mit ihren andersgläubigen Standesgenossen
führte. Katholizismus und Luthertum konnten ihre Konfessionsbildung
vorantreiben. Auf katholischer Seite traten gegenreformatorisch gesinnte
Bischöfe auf, und es entstanden neue geistliche Lehranstalten, voran der
Jesuiten. Die Lutheraner formierten sich in der "Konkordienformel",
die die meisten lutherischen Stände theologisch und politisch einigte. Die
größte Dynamik ging von den Anhängern des calvinistischen
Bekenntnisses aus. Waren sie 1555 im Reich noch nicht präsent, so
erlangten sie in den 1580er Jahren unter Führung von Kurpfalz, Nassau und
einigen weiteren Wetterauer Grafen nicht unbeträchtlichen
Einfluß.
Maximilian II. und Rudolf II. sicherten zwar die Handlungsfähigkeit des Reiches im
gemeinsamen Kampf gegen die Osmanen Im Innern konnten sie jedoch nicht
verhindern, daß nacheinander all jene Reichsinstitutionen lahmgelegt
wurden, die für den gewaltlosen Konfliktaustrag zwischen den
Reichsständen unentbehrlich waren. Ab 1588 konnte der
Reichstagsausschuß, der für die Visitation des Reichskammergerichts
zuständig war, nicht mehr tagen. Seit den 1590er Jahren wurde die
Rechtsprechung des Reichskammergerichts gelähmt. Im Jahre 1600 zerbrach der
Hauptausschuß des Reiches, die Reichsdeputation, als die Protestanten die
Sitzung verließen und die katholischen Mitglieder sich ohne einen neuen
Termin vertagten. 1608 wurde schließlich sogar der Reichstag, das
wichtigste Organ der Reichsverfassung, gesprengt, weil die kurpfälzische
Delegation und ihre Parteigänger aus diesem Gremium
auszogen.
Ohne die mäßigende Kraft der Reichsinstitutionen drohte jeder Konflikt im
Reich außer Kontrolle zu geraten. Im Kölner Krieg hatte die
katholische Seite den Kurfürsten Gebhardt Truchseß von Waldburg, der
eine Protestantisierung des Erzstifts am Rhein versucht hatte, 1583 mit
spanischer Hilfe abgesetzt und Ernst von Bayern zur Nachfolge verholfen. Die
Reichsstadt Aachen wurde 1598 (und noch einmal 1614) durch spanische Truppen
gezwungen, auf das Reformationsrecht zu verzichten und das katholische
Bekenntnis als das allein verbindliche anzuerkennen. Die mehrheitlich
lutherische Reichsstadt Donauwörth wurde nach handgreiflichen
Auseinandersetzungen zwischen der Bürgerschaft und der kleinen katholischen
Gemeinde geächtet und 1607 im Zuge einer Militärexekution durch den
Herzog von Bayern ihrer Reichsfreiheit beraubt und rekatholisiert. Aus Angst um
ihre künftige politische Selbständigkeit in Zeiten eines Vormarschs
der katholischen Seite schlossen sich einige protestantische Reichsstände
1608 unter Führung des Kurfürsten Friedrich IV. von der Pfalz zur
"Union", einem Verteidigungsbündnis, zusammen. Mehrere
katholische Fürsten gründeten ein Jahr später unter Führung
des Herzogs Maximilian von Bayern die "Liga", da auch sie sich
militärisch bedroht fühlten.
1609 starb Herzog Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg ohne leibliche Erben, und es war zu
entscheiden, wer die Herrschaft in den großen, strategisch wichtigen
Niederrheinterritorien antreten sollte. Frankreich, Spanien, die Niederlande
standen zur Intervention bereit, da verhinderte die Ermordung König
Heinrichs IV. von Frankreich in letzter Minute den Ausbruch eines
europäischen Kriegs. Die Länder wurden schließlich zwischen den
Erbanwärtern Kurbrandenburg und Pfalz-Neuburg geteilt, womit zugleich das
Gleichgewicht zwischen katholischer und reformierter Aktionspartei gewahrt
blieb. Doch das Reich verharrte weiterhin in angespannter Erwartung, bis 1618 in
Böhmen dann der Funke endgültig übersprang und Europa in einem
Dreißigjährigen Krieg versank. J. A.
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war die vorstaatliche Ordnung in Mitteleuropa, anders beschaffen als die entstehenden europäischen Nationalstaaten im Westen und Norden und mehr als das spätere Deutschland. Die Grundstrukturen des Reiches kommen im Bildprogramm der Reichsadler und Kurfürstendarstellungen zum Ausdruck. Etwa zwei Jahrzehnte nach dem Abschluß des Augsburger Religionsfriedens von 1555 kamen in zahlreichen Territorien des Reiches konfessionelle Eiferer an die Regierung, die den eigenen Glauben auch gegen Widerstände durchzusetzen bereit waren. Bestehende Rechtsverhältnisse ignorierte man oder legte sie zu eigenen Gunsten aus. Daß dadurch politische Sicherungsinstrumente beschädigt wurden, nahm man in Kauf. Bald konnten das Reichskammergericht und schließlich auch der Reichstag ihre Funktion als Orte des gewaltlosen Konfliktaustrags nicht mehr wahrnehmen.
Nachdem die katholische Konfessionspartei die Streitigkeiten um Donauwörth 1606/07 zur Unterwerfung unter Bayern und zur Rekatholisierung der Reichsstadt genutzt hatte, organisierten sich 1608 einige protestantische Stände unter Führung des Kurfürsten von der Pfalz im Sicherheits- und Militärbündnis der Union. Ein Jahr später schufen sich auch die katholischen Stände ein eigenes Sicherheitssystem, die Liga, angeführt durch Herzog Maximilian I. von Bayern. Zur selben Zeit trugen Kaiser Rudolf II. und Erzherzog Matthias einen heftigen innerfamiliären Konflikt aus; damit war die mäßigende Rolle des kaiserlichen Amtes ausgespielt und eine Entschärfung der gefährlichen politisch-konfessionellen Gesamtkonstellation kaum noch möglich. Auch von den Anführern der Bündnissysteme gingen keine entscheidenden Impulse aus, um einen Krieg zu vermeiden.