"Westfalen im Bild" - Texte

Roerkohl, Anne
Der Kulturkampf in Westfalen
Münster, 1992



Einleitung

"Es handelt sich hier um einen großen Culturkampf". Mit dieser Feststellung in seiner programmatischen Reichstagsrede von 17.01.1873 prägte der linksliberale Politiker und berühmte Pathologe Rudolf Vierchow einen Begriff, der noch heute für die Auseinandersetzung zwischen dem deutschen Staat und der katholischen Kirche in den Jahren 1871 bis 1887 steht. Wie gründlich der Kulturkampf das öffentliche Klima vergiftete und die Bevölkerung in zwei gegnerische Lager spaltete, beschreibt die regierungstreue "Westfälische Zeitung" in ihrer Ausgabe von Mai 1875:
"... Der sogenannte Kulturkampf, wie er die Schichten der Bevölkerung jetzt schon durchdrungen hat, bleibt in der Humanität weit, weit zurück hinter dem blutigen Kriege, der mit Hinterladern und Reitermessern auf den Schlachtfeldern ausgefochten wird, denn für den Kulturkampf gibt es leider keine Genfer Konvention...". [1]

Von der Tragweite dieser Auseinandersetzung zeugen die vielen Streitschriften und Pamphlete, aber auch die Gerichtsakten in den Archiven. Der Kulturkampf war ebenso ein Krieg der Medien. Gerade auf dieser Ebene wurde er besonders emotional und verletzend geführt. Katholiken wurden als "Römlinge", "Papisten" und "Ultramontane" [2] beschimpft, während man von katholischer Seite den Liberalen ihre Sittenlosigkeit vorwarf. Das der katholischen Kirche nahestehende Zentrum prangerte im Reichstag den Verfall traditioneller Werte an und malte das "Angstgespenst" der Sozialdemokratie an die Wand.

Die angeheizte Stimmung führte zu Verhaftungen, Ausweisungen und öffentlichen Schmähungen sowie einer Flut von Anzeigen gegen katholische Geistliche, die ihren Höhepunkt im Sommer 1874 nach dem Attentat auf Bismarck fanden. Der Kulturkampf zeigte aber ebenso, daß die katholische Bevölkerung nicht nur politisierbar, sondern auch mobilisierbar war. Gerade im katholischen Westfalen kam es zu Massenaufläufen und Solidaritätskundgebungen. Prozessionen, sonst eher Ausdruck traditioneller Volksfrömmigkeit, entwickelten sich zu Demonstrationen katholischer Geschlossenheit. Ein Geltungsanspruch gegenüber dem protestantisch-preußischen Staat wurde angemeldet.

Spuren hinterließ der Kulturkampf bis heute vor allem in der Gesetzgebung durch die Einführung der Zivilehe und der Standesämter. Aber auch im Schulwesen traten mit der staatliche Schubaufsicht nachhaltige Veränderungen ein. Auf kirchlicher Seite entwickelten sich neue Frömmigkeitsformen - die traditionelle Volksfrömmigkeit bekam eine neue Ausrichtung. Zurück blieben darüber hinaus viele Reibungspunkte und Ressentiments. Da viele Argumente nie völlig ausdiskutiert worden sind, ist seit dem Kulturkampf das Verhältnis von Kirche und Staat immer wieder in Alarmbereitschaft geraten.


Voraussetzungen für den Kulturkampf: Staat, katholische Kirche und moderne Welt

Die nationale Begeisterung verlor seit der Reichsgründung schnell ihre Dynamik als Integrationskraft. Das Reich blieb als Verfassungsstaat und als Kulturstaat unvollendet. Die Regierung hatte versäumt, einen breiten Konsens aller Bevölkerungsgruppen und -schichten herzustellen, um einem Auflösungs- und Zersplitterungsprozeß der Nation entgegenzuwirken. Innere Konflikte brachen auf: Kirche und Zentrum, Arbeiterbewegung, ethnische Minderheiten, Föderalismus, Gründerkrise; Probleme, die mit ihren Auswirkungen die deutsche Innenpolitik bis zum Ersten Weltkrieg bestimmen sollten.

Die wachsende nationalistische Euphorie im Zuge der Reichsgründung schuf ein politisches Klima, das alle Minderheiten regionaler, sprachlicher oder konfessioneller Art gleichermaßen benachteiligte. In diese Stimmung hinein fiel im Winter 1870/71 die Gründung des Zentrums. Man verstand sich als Partei der Mitte - zwischen Liberalen und Konservativen - und stand jedem offen, unabhängig seiner Konfession. Die neue Partei vertrat vor allem die Interessen der katholischen Bevölkerung, die seit der Reichsgründung unter Ausschluß Österreichs konfessionell in der Minorität war. Angesichts der repressiven Germanisierungspolitik Bismarcks entwickelte sich das Zentrum schnell zum Sprachrohr für die politischen Minderheiten im Reich: Hannoversche Welfen, Polen, Bayern und Elsässer. Als Bismarck aus Frankreich zurückkehrte, sah er in der Bildung einer "klerikalen" Partei eine "Mobilmachung gegen den Staat"; ein Sammelbecken aller Unzufriedenen und "Reichsfeinde". In seinen Augen war und blieb das Zentrum eine subversive Partei. Dabei hätte die Partei wie die Historikerin Margaret L. Anderson folgerichtig ausführt, ,,als ein hervorragendes Werkzeug zur Integration unzufriedener deutscher und nichtdeutscher Partikularisten in das neue Reich dienen können." [3] Statt dessen versuchte Bismarck von nun an verbissen, das Zentrum ins politische Abseits zu manövrieren.

Vor dem Hintergrund revolutionärer Umwälzungen in Europa und der Gründung souveräner Nationalstaaten unter Mitwirkung liberaler Ideen und Parteien versuchten das Papsttum und die katholische Kirche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ihre Stellung in der Welt neu zu bestimmen. Hatte die katholische Öffentlichkeit den Amtsantritt Papst Pius IX. (1846) noch mit der Hoffnung auf eine liberale Kirchenpolitik begrüßt, so zeigte sich dieser schon bald als entschiedener Gegner jeglicher moderner, aufgeklärter Zeitströmungen. Seinen Kampf gegen die weltliche Zivilisation und die bürgerliche Gesellschaft sowie den souveränen Nationalstaat begann er am 08.12.1854 mit der Definition des Dogmas der unbefleckten Empfängnis Mariens. Auf den Tag genau zehn Jahre später verkündete der Papst die Enzyklika "Quants Cura ", worin er eine souveräne Amtskirche als Bollwerk gegen "die hauptsächlichen Irrtümer unserer so traurigen Zeit" proklamierte. In Zusammenhang mit dieser Enzyklika entstand der "Syllabus errorum", wo in 80 Leitsätzen die "Hauptirrtümer" des Jahrhunderts aufgeführt und als mit der Lehre der Kirche unvereinbar rigoros verdammt wurden. Pius IX. verurteilte die moderne Wissenschaftsgläubigkeit und den Sozialismus ebenso wie wichtige Grundanliegen des Liberalismus, so z. B. die Trennung von Kirche und Staat, das Recht der zivilen Eheschließung und der Ehescheidung sowie die Verweltlichung der Schule. Aber vor allem geißelte er die Unabhängigkeit der menschlichen Vernunft von den Glaubenslehren der Kirche. In seinen reaktionären Inhalten war der Syllabus eine gezielte Kampfansage gegen die moderne Gesellschaft und den modernen Staat.

Die Dogmen Pius IX. müssen vor dem Hintergrund der politischen Veränderung n Italien gesehen werden. Seit dem italienischen Einigungsprozeß (1854) war die weltliche Herrschaft des Papstes über den Kirchenstaat permanent in Gefahr. Der Abzug der französischen Truppen aus Rom nach dem Ausbruch des deutsch-französischen Krieges hatte sofort eine italienische Invasion ausgelöst. Der Kirchenstaat wurde durch den italienischen Herrscher Victor Emanuel annektiert und Rom 1871 zur Hauptstadt Italiens. Pius IX. erklärte sich zum Gefangenen im Vatikan.

Die politische Macht der römischen Kirche gründete sich auf der Massenbasis der katholischen Bevölkerung. Die Erlasse und Empfehlungen der "Katholikentage"' (seit 1848) und der "Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands" (seit 1848/1858) bestimmten das politische, kirchliche und kulturelle Verhalten der Katholiken Deutschlands. Volksmissionen, meist unter der Leitung von Jesuiten, festigten die religiösen Vorstellungen und Bindungen, vor allem in der breiten Masse der Landbevölkerung. Das katholische Vereinswesen, wie die Pius-, Bonifatius- und Borromäus-Vereine, stellten für die katholische Bevölkerung zusätzlich eine ausgeprägte Organisationsform dar. Hinzu kam die katholische Presse, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Aufschwung begriffen war. In diesem gesamten Prozeß der gesellschaftlichen Mobilisierung des deutschen Katholizismus gingen die wichtigsten Impulse von den Bischöfen aus.

Seit der Erklärung der Menschenrechte 1789 hatte sich die Konfrontation der liberalen Ideen mit den traditionellen Positionen der Kirche immer weiter verschärft. Die Souveränität des Papstes wurde im Namen der neuen Freiheiten - dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung und der liberalen Konzeption des Staates - in Frage gestellt. Toleranz in Glaubensfragen sowie Erziehung mittels aufgeklärten Gedankengutes, das waren Hauptpositionen der Aufklärung und des Liberalismus. Traditionell kirchliche Elemente wie Heiligen- und Reliquienverehrung, Klostererziehung und Wallfahrten wirkten dagegen völlig überholt und rückständig. Der Kulturkampf ist deswegen ebenso eine Auseinandersetzung zwischen Kirche und moderner Welt, ein Kampf zwischen völlig entgegengesetzten Weltanschauungen und Glaubensgrundsätzen. Dieses erklärt auch, warum er so unversöhnlich und erbittert geführt wurde.


Der Verlauf des Kulturkampfes im Deutschen Reich und in Westfalen

Die Verkündigung des päpstlichen Unfehlbarkeitsdogmas auf dem 1. Vatikanischen Konzil 1870 löste unter den Katholiken in Deutschland heftige Diskussionen aus. Bischöfe wie Melchers (Köln) oder Ketteler (Mainz), lehnten das Dogma zunächst entschieden ab. Erst später ordneten sie sich dann doch dem päpstlichen Willen unter, um eine Spaltung der Kirche zu vermeiden. Dennoch löste sich eine Gruppe von Theologieprofessoren, Religionslehrern und Geistlichen von der römischen Kirche und gründete eine "altkatholische" Glaubensgemeinschaft. Als Pius IX. die Altkatholiken exkommunizierte und ihre Entfernung aus den Ämtern verlangte, mußte dies die deutsche Regierung als Eingriff in ihre Hoheitsrechte werten. Hinzu kam, daß die Altkatholiken von den Liberalen unterstützt wurden, die eine von Rom losgelöste Nationalkirche anstrebten.

Bismarck benutzte diesen Konflikt zu einer neuen Abgrenzung von Kirche und Staat. Unterstützt wurde er dabei von den liberalen Parteien. Die auslösende Ursache für sein Eingreifen war das Zusammentreffen der päpstlichen Unfehlbarkeitserklärung mit den politischen Forderungen des Zentrums und das Anwachsen des polnischen Nationalismus. Dazu kam seine Furcht vor einem außenpolitischen Bündnis zwischen Österreich und Frankreich gegen das protestantische Deutsche Reich. Um sein Reich abzusichern, setzte Bismarck einen "innenpolitischen Präventivkrieg" gegen die katholische Kirche in Gang.

Er begann den Kulturkampf auf dem Gebiet der Gesetzgebung. Ein wahrer Gesetzesfeldzug überzog das Reich und Preußen, straff organisiert durch den nationalliberalen Kultusminister Adalbert Falck:
08.07.1871 
Aufhebung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium; ihre Aufgabe hatte darin bestanden, bei Schwierigkeiten einen Interessenausgleich zwischen Staat und katholischer Kirche zu vermitteln. Bismarck bezeichnete diese Abteilung abwertend als "Staatsministerium des Papstes in Preußen"; quasi ein Brückenkopf des Katholizismus.  Quelle 
10.12.1871 
Einführung des Kanzelparagraphen, der "für Geistliche, die in Ausübung ihres Berufes Angelegenheiten des Staates in einer zur Störung des öffentlichen Friedens geeignet erscheinenden Weise erörtern, Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren" vorsah. Der Gebrauch der Kanzel zur politischen Agitation sollte damit verboten werden. 
11.03.1872 
Schulaufsichtsgesetz; es sah die staatliche Aufsicht über alle Schulen und die staatliche Ernennung von Schulinspektoren vor.  Quelle 


Der Kulturkampf eskalierte. Im Mai 1872 gab Bismarck seine Ausgangsidee einer Grenzziehung zwischen Staat und Kirche auf. In seiner Reichstagsrede versicherte er den Abgeordneten: "Seien sie ohne Sorge, nach Canossa gehen wir nicht, weder körperlich noch geistig." [4] Indem er den Kulturkampf mit einer Neuauflage des mittelalterlichen lnvestiturstreits verglich, strebte er jetzt eine Unterordnung der Kirche unter den Staat an.

04.07.1872 
Jesuitengesetz; nicht nur einzelne Jesuiten, sondern die gesamte Gesellschaft Jesu und "die ihr verwandten Orden und ordensähnlichen Kongregationen" wurden aus dem Reich ausgewiesen.  Quelle 


Die Reaktion der Kirche auf diese massiven Angriffe blieb nicht aus. Die Fuldaer Bischofskonferenz protestierte am 20.09.1872 energisch gegen die kirchenfeindlichen Maßnahmen. Pius IX. benutzte eine Ansprache an seine Kardinäle am 23.12.1872, um sie als Kirchenverfolgung anzuprangern.

05.04.1873 
Änderung der Artikel 15 und 18 der preußischen Verfassung; da die folgenden Maigesetze unvereinbar mit der bestehenden Verfassung waren, mußten bestimmte Artikel aus verfassungsrechtlichen Gründen zuvor geändert werden. Artikel 15  Quelle, Artikel 18  Quelle 


Es folgte die erste Staffel der Maigesetze:
11.05.1873 
Das Gesetz über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen; Voraussetzung für einen Anstellungsvertrag waren von nun an ein Reifezeugnis eines deutschen Gymnasiums, das Studium an einer deutschen Universität, die Ablegung eines "Kulturexamens" in Philosophie, Geschichte und Literatur.  Quelle 
12.05.1873 
Das Gesetz über die kirchliche Disziplinargewalt und die Errichtung des königlichen Gerichtshofes für kirchliche Angelegenheiten.  Quelle 
13.05.1873 
Das Gesetz über die Grenzen des Rechts zum Gebrauch kirchlicher Zucht und Strafmittel; es beschränkte die Wirkung kirchlicher Disziplinarmaßnahmen auf den rein religiösen Bereich.  Quelle 
14.05.1873 
Das Gesetz über den Austritt aus der Kirche, das die staatlichen Auswirkungen des Kirchenaustritts regelte.  Quelle 


Die preußischen Bischöfe reagierten am 26.05.1873 mit ein Kollektiveingabe an das preußische Staatsministerium, in der sie die Gesetze nicht anerkannten und sich außerstande sahen, an deren Vollzug mitzuwirken. In ihren Hirtenbriefen riefen sie die Gläubigen direkt zu passivem Widerstand auf. Da für den Staat der erwünschte Erfolg ausblieb, folgte 1874 die zweite Serie der Maigesetze:

09.03.1874 
Das Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Form der Eheschließung in Preußen, wodurch die obligatorische Zivilehe eingeführt wurde.  Quelle 
04.05.1874 
Das Reichsgesetz betreffend die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern (Expatriierungsgesetz); es sollte die maigesetzwidrige Anstellung und Tätigkeit von Geistlichen verhindern und sah deshalb für solche Fälle nach rechtskräftiger Verurteilung die Ortsverweisung oder die Ortszuweisung innerhalb des Reichsgebietes, im Wiederholungsfalle die Ausbürgerung und Ausweisung vor.  Quelle 
20.05.1874 
Das preußische Gesetz über die Verwaltung erledigter Bistümer; es bekräftigte auch für die Wahl von Bistumsverwesern die Vorschriften der Maigesetze 1873 (Anzeigepflicht) und sah für den Fall, daß kein Bistumsverweser in staatlich anerkannter Weise gewählt wurde, die Vermögensverwaltung durch einen Staatskommissar vor.  Quelle 


Im Juli 1874 führte der Attentatsversuch des Böttchergesellen Kullmann auf Bismarck zu einer erheblichen Verschärfung der Kulturkampfmaßnahmen. In Kullmann sah man ein Werkzeug einer "ultramontanen Verschwörung". Die staatliche Verfolgung traf nun besonders die katholischen Vereine und die Presse.

Am 05.02.1875 veröffentlichte Pius IX. eine Enzyklika an die preußischen Bischöfe. Der "Westfälische Merkur" publizierte in seiner Ausgabe vom 18.02.1875 zuerst den vollständigen Text des päpstlichen Schreibens. Sämtliche Zeitungen, die daraufhin die Enzyklika abdruckten, wurden konfisziert. So verlas der Zentrumsabgeordnete Freiherr von Wendt am 18.03.1875 im preußischen Abgeordnetenhaus den vollständigen Wortlaut - die einzige Möglichkeit einer straffreien Veröffentlichung und Rezitation.

1875 folgten weitere gegen die Kirche gerichtete Maßnahmen:
06.02.1875 
Das Reichsgesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung, das die obligatorische Zivilehe reichseinheitlich einführte. 
22.04.1875 
Das preußische Gesetz über die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bistümer und Geistlichen (Sperrgesetz, Brotkorbgesetz), das die Zahlung der Staatsleistungen von der Abgabe einer schriftlichen Gehorsamserklärung gegenüber allen Staatsgesetzen abhängig machte.  Quelle 
31.05.1875 
Das preußische Gesetz über die Orden und ordensähnlichen Kongregationen der katholischen Kirche, das alle Orden mit Ausnahme der Krankenpflegeorden binnen sechs Monaten verbot, wobei nur für die Schulorden die Auflösungsfrist verlängert werden konnte. 
18.06.1875 
Das preußische Gesetz über die Aufhebung der Artikel 15, 16 und 18 der preußischen Verfassung.  Quelle 
20.06.1875 
Das preußische Gesetz über die Vermögensverwaltung der katholischen Kirchengemeinden, das zur Vermögensverwaltung in jeder katholischen Gemeinde einen Kirchenvorstand und eine Gemeindevertretung vorschrieb.  Quelle 
04.07.1875 
Das preußische Gesetz über die Rechte der altkatholischen Kirchengemeinschaften an kirchlichen Vermögen, das den Altkatholiken bei Vorliegen einer erheblichen Anzahl von Mitgliedern die Mitbenutzung der katholischen Kirchen und Friedhöfe zuerkannte.  Quelle 


Ende 1875 war der Kulturkampf auf seinem Höhepunkt; danach begann die Auseinandersetzung langsam zu stagnieren. 1876 folgten noch zwei Gesetzesmaßnahmen, die jedoch keine praktische Bedeutung mehr hatten:
26.02.1876 
Im Zuge der Novellierung des Strafgesetzbuches wurde die Strafandrohung des Kanzelparagraphen auch auf die Ausgabe und Verbreitung von Schriftstücken ausgeweitet.  Quelle 
07.06.1876 
Das Gesetz über die Aufsichtsrechte des Staates bei der Vermögensverwaltung in den katholischen Diözesen unterstellte die gesamte kirchliche Vermögensverwaltung der Aufsicht des Staates.  Quelle 


In Westfalen nahm der Kulturkampf rasch sehr viel schärfere Züge an als in anderen Regionen. Das lag nicht nur an dem hohen Anteil von Katholiken in der Bevölkerung, sondern verantwortlich war ebenso der westfälische Oberpräsident Friedrich von Kühlwetter. In ihm fand der preußische Staat einen mehr als engagierten "Kulturkämpfer". Geborener Katholik, aber ein erbitterter Feind jeglicher jesuitischen Bestrebungen, widmete Kühlwetter seine politische Arbeit mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln und juristischen Finessen der Unterdrückung des, wie er es nannte, "jesuitischen Ultramontanismus". Dem Oberpräsidenten gegenüber stand in Westfalen eine katholische Bevölkerung - ein fast geschlossenes katholisches Milieu - für die Preußen eine oppositionelle Bewegung, die durch alle sozialen Schichten und Berufe ging.


Widerstand in der katholischen Bevölkerung Westfalens

Der Widerstand gegen Kulturkampfgesetze ging zunächst von den Bischöfen in Münster und Paderborn aus. Sie verweigerten das staatliche Kulturexamen und stellten für ihre Seminare keinen Antrag auf Regierungsakkreditierung. Ebenso kamen sie nicht der Anzeigepflicht für neuernannte Geistliche nach. Die Konsequenzen für die katholische Kirche in Westfalen waren einschneidend: Sperrung der staatlichen Gelder, Schließung der katholischen Anstalten und Einrichtungen, Geldstrafen sowie Konfiszierung des bischöflichen Eigentums, und als letzter Schritt folgten Gefängnisstrafen und Absetzung.

Druck erzeugte Gegendruck. Die katholische Bevölkerung schloß sich dem passiven Widerstand ihrer Bischöfe an. Eine aufgebrachte Menschenmenge versuchte in Münster, die Konfiszierung des bischöflichen Eigentums zu verhindern, so daß die Regierung sogar Militärschutz anfordern mußte. Die persönliche Habe des Bischofs wurde auf der anschließenden Versteigerung von Münsterischen Kaufleuten erworben und ihm wieder zur Verfügung gestellt. Eine Gruppe adeliger Frauen bekundete ihre Sympathie für den mittlerweile in der Mindener Festung einsitzenden Bischof durch eine Solidaritätsadresse. Hierfür hatten sie sich später gerichtlich zu verantworten. Auch in Paderborn löste die Verhaftung des Bischofs einen Sturm der Entrüstung aus.

Aber nicht nur in den Hochburgen des Katholizismus Paderborn und Münster und dem katholischen Hinterland regte sich der Widerstand. Auch Teile der katholischen Arbeiterschaft im Industriegebiet legten aus Protest gegen die Kulturkampfmaßnahmen ihre Arbeit nieder. Überall bildete das katholische Presse- und Vereinswesen - trotz scharfer Überwachung und Zensur - das Rückgrat des Widerstandes. Beamte riskierten scharfe Disziplinarverfahren, wenn sie die Kulturkampfgesetze zu nachsichtig auslegten. Viele Landräte - in der Mehrzahl katholische Adelige - wurden ihres Amtes enthoben.

Zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam es mit den Altkatholiken. Die staatlich angeordnete Mitbenutzung der katholischen Kirchen verstand man als Provokation. Es folgten Ausschreitungen sowohl im Paderborner Raum als auch in den stark gemischt-konfessionellen Städten des Ruhrgebietes. In Witten hielten nach einem Pressebericht im Juni 1876 etwa 100 Altkatholiken ihren ersten Einzug in die katholische Marienkirche. Die katholische Bevölkerung versuchte dies zu verhindern. Am Eingang kam es zu heftigen Krawallen. Die Polizei griff zu ihren Säbeln. Acht Verwundete wurden ins Krankenhaus gebracht, 28 Katholiken zu empfindlichen Haftstrafen verurteilt.

Auffallend war das Verhalten der katholischen Bevölkerung an Fest- und Nationalfeiertagen wie Kaisers Geburtstag oder dem Sedanstag. Demonstrativ feierte man nicht mit und hißte an den Häusern auch keine der üblichen Fahnen. Schulkinder wurden von ihren Eltern vom Unterricht ferngehalten, wenn militärische Paraden und Umzüge anstanden. Ganz anders dagegen war die Reaktion an kirchlichen Festtagen. Selten zuvor hatten Prozessionen und Gottesdienste solch einen Zulauf erlebt. Auf die Ausrichtung traditioneller Volksfeste wie das Schützenfest oder die alljährliche Kirmes jedoch wurde in vielen katholischen Gemeinden während des Kulturkampfes verzichtet. Bis 1875/76 - als schrittweise die politische Wende einsetzte - blieb der passive Widerstand in der katholischen Bevölkerung Westfalens lebendig.


Ende des Kulturkampfes

Nach 1875 geriet Bismarck immer stärker wirtschafts- und sozialpolitisch unter Druck. Nicht mehr im Zentrum sondern in der wachsenden Sozialdemokratie sah er nun die zukünftigen "Reichsfeinde". Für die Verlängerung des Sozialistengesetzes versuchte er, die Stimmen des Zentrums zu gewinnen, indem er mit dem Vatikan Kontakt zur Beendigung des Kulturkampfes aufnahm.

Der neue Papst Leo XIII. war - anders als sein Vorgänger Pius IX. - auf Ausgleich bedacht. In zähen diplomatischen Verhandlungen wurde zwischen Berlin und Rom über die Köpfe der katholischen Kirche und des Zentrums hinweg der Kulturkampf beendet. Bismarck, dessen diplomatisches Geschick vom Papst völlig unterschätzt wurde, setzte dabei seine wichtigsten Positionen durch.

Nach dem ersten Milderungsgesetz von Mitte Oktober 1880 konnten Bischöfe von der Eidesleistung auf die Verfassung befreit werden. Die staatlichen Zahlungen an die katholische Kirche wurden wieder aufgenommen und die Bistümer wieder besetzt. 1882 erfolgte die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der katholischen Kirche. Durch das zweite und dritte Milderungsgesetz von 1882 und 1883 hob man die 'Maigesetze" fast vollständig auf. 1885 beseitigte Bismarck das "Kulturexamen" für Theologiestudenten, erkannte die päpstliche Disziplinargewalt an und hob den staatlichen Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten auf. 1891 wurden der römisch-katholischen Kirche ihre bis dahin gesperrten Gelder ausbezahlt.

Von den Kulturkampfgesetzen bestehen blieben der Kanzelparagraph (bis 1953), das Jesuitenverbot (bis 1917) und die Aufhebung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium. In wichtigen Bereichen wie Standesamt und Schule jedoch konnte sich der Staat behaupten. Die Zivilehe und die staatliche Schulaufsicht waren von nun an feste Einrichtungen; ebenso das Gesetz über den Kirchenaustritt und die Regelung der Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden.


[1] "Westfälische Zeitung", Nr. 210 vom 09.05.1875.
[2] Latein. "ultra montes" = jenseits der Berge (Alpen); d. h. vom Papst abhängig, gesteuert.
[3] M. L. Anderson: Windthorst, Düsseldorf 1988, S. 146.
[4] Stenographische Berichte des Reichstages vom 14.05.1872.




Westfalen im Bild, Reihe: Historische Ereignisse in Westfalen, Heft 6