"Westfalen im Bild" - Texte

Roerkohl, Anne
Widukind
Geschichte und Mythos
Münster, 1996



"Nicht alles ist todt in Westphalen, was begraben ist."

"Wie man behauptet, giebt es greise Menschen in Westphalen, die noch immer wissen, wo die alten Götterbilder verborgen liegen; auf ihrem Sterbebette sagen sie es dem jüngsten Enkel, und der trägt dann das theure Geheimniß in dem verschwiegenen Sachsenherz. In Westphalen, dem ehemaligen Sachsen, ist nicht alles todt, was begraben ist. Wenn man dort durch die alten Eichenhaine wandelt, hört man noch die Stimmen der Vorzeit, da hört man noch den Nachhall jener tiefsinnigen Zaubersprüche, worin mehr Lebensfülle quillt, als in der ganzen Literatur der Mark Brandenburg. Eine geheimnisvolle Ehrfurcht durchschauerte meine Seele, als ich einst, diese Waldungen durchwandernd, bei der uralten Siegburg vorbey kam. 'Hier', sagte mein Wegweiser, 'hier wohnte einst König Wittekind', und er seufzte tief Er war ein schlichter Holzhauer, und er trug ein großes Beil.

Ich bin überzeugt, dieser Mann, wenn es drauf ankömmt, schlägt sich noch heute für König Wittekind; und wehe! dem Schädel worauf sein Beil fällt.

Das war ein schwarzer Tag für Sachsenland als Wittekind, sein tapferer Herzog, von Kaiser Karl geschlagen wurde, bey Engter "Als er flüchtend gen Ellerbruch zog, und nun alles, mit Weib und Kind, an den Furth kam und sich drängte, mochte eine alte Frau nicht weiter gehen. Weil sie aber dem Feinde nicht lebendig in die Hände fallen sollte, so wurde sie von den Sachsen lebendig in einen Sandhügel bey Bellmanns-Kamp begraben; dabey sprachen sie: krup under, krup under, de Weit is di gram, du kannst dem Gerappel eich mer folgen.'

Man sagt, daß die alte Frau noch lebt. Nicht alles ist todt in Westphalen, was begraben ist."

(Heinrich Heine: Elementargeister 1837)

Nach 1200 Jahren sind nur wenige historische Figuren und Legendengestalten auch heutigen Generationen so gegenwärtig wie Widukind [1], der berühmte Sachsenführer im Krieg gegen Karl den Großen. Gerade in Ost-Westfalen, im "Widukind-Land" zwischen Enger, Herford und Minden, ist die Erinnerung an den sächsischen Adligen höchst lebendig. Eine besondere Tradition pflegt die "Widukind-Stadt" Enger mit dem alljährlichen Timpken-Fest am 6. Januar, dem mutmaßlichen Todestag des Sachsenführers.

Doch wer genau der sächsische Adlige war, der Karl dem Großen mehr als neun Jahre lang erbitterten Widerstand leistete, wo er gelebt hat, wo er sich nach seiner Unterwerfung und Taufe niederließ und wo er schließlich starb, ist nicht überliefert. Umso lebhafter ist der Mythos, der den Sachsenführer bereits seit dem Mittelalter umgibt. Das Widukind-Bild war immer stark von zeitgebundenen Fragestellungen und politischen Leitbildern geprägt: mal dominierte der heidnische Kriegsheld, dann wieder der bekehrte gläubige Christ und schließlich, in der nationalsozialistischen Propaganda, das Bild vom "nordischen Rassehelden". Mit dem Widukind-Bild verbanden sich immer wieder religiöse, dynastische, nationale, völkische und rassistische Wertvorstellungen, Interessen und Ideologien.


Christianisierung

Seit dem 4. Jahrhundert drangen die ursprünglich im heutigen Schleswig-Holstein ansässigen Sachsen über die Elbe in südwestlicher Richtung vor und unterwarfen ganz Nordwestdeutschland ihrer Herrschaft. Zwei Jahrhunderte später bewegten sie sich in drei Teilverbänden, den sogenannten "Heerschaften", weiter nach Süden: die Westfalen, die erstmals im Jahre 775 namentlich erwähnt werden, westlich der Weser in Richtung auf den Niederrhein, die Ostfalen an der Elbe entlang, die Engere zwischen den beiden Flügeln beiderseits der Weser. Zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung erstreckte sich das sächsische Stammesgebiet von der Eider und der Nordsee bis fast an den Rhein, von der Elbe und der Saale bis an die Yssel.

Am Rhein stießen sie auf die Franken. Das christliche Frankenreich umfaßte im 8. Jahrhundert den hessischen und mitteldeutschen Raum. Beide Seiten standen sich feindselig gegenüber. Die heidnische Religion der Sachsen verschärfte den Gegensatz. Die Spannungen entluden sich in ständigen Raubzügen und Grenzkriegen. Die fränkischen Maßnahmen beschränkten sich zunächst nur auf Grenzsicherung. Diese eher defensive Abwehrhaltung änderte sich mit dem Herrschaftsantritt Karls des Großen 771 in eine expansive Eroberungspolitik in Verbindung mit der Bekehrung zum Christentum.

Christianisierung der Sachsen hatte bereits im 7. Jahrhundert durch Missionare der angelsächsischen Kirche eingesetzt (Willibrord seit 690, Bonifatius seit 716). Ihre Missionsversuche litten jedoch unter herben Rückschlägen. Erst die "Schwertmission" Karls des Großen brachte nach 772 den durchschlagenden Erfolg. Mit Waffengewalt, Strafen bis hin zum Massaker und mit großangelegten Deportationen erzwang er den Übergang zum Christentum. Die Taufe diente ihm als äußeres Zeichen der Unterwerfung unter das fränkische Königtum. Christenglaube und Königstreue waren eins. Karls Biograph Einhard formulierte die fränkische Sicht: "(Der Krieg gegen die Sachsen ist) der langwierigste und grausamste und für das Frankenvolk anstrengendste, den es je geführt hat. Denn die Sachsen, die wie fast alle Völker auf dem Boden Germaniens wild von Natur, dem Götzendienst ergeben und gegen unsere Religion feindselig waren, hielten es nicht für unehrenhaft, göttliches und menschliches Recht zu schänden und es zu übertreten ... Die Grenze zwischen uns und den Sachsen verlief fast überall in der Ebene, mit Ausnahme weniger Stellen, wo größere Waldungen oder Bergrücken das beiderseitige Gebiet klar trennten; hier nahmen Totschlag, Raub und Brandstiftung auf beiden Seiten kein Ende. Das erbitterte die Franken so, daß sie nicht mehr bloß Gleiches mit Gleichem heimgaben, sondern offen Krieg mit ihnen führen wollten. Der Krieg wurde also begonnen und von beiden Seiten mit großer Erbitterung ... 33 Jahre lang fortgeführt." [2]

Unmittelbar nach der Reichsversammlung von Worms brach im Juli 772 ein fränkisches Heer gegen die Sachsen auf. Als erstes wurde die Eresburg südlich von Paderborn, das heutige Obermarsberg, angegriffen und erobert. Die strategisch wichtige Sachsenfeste lag auf einem steil über der Diemel aufragenden Berg. Karl zerstörte die Irminsul, das sächsische Baumheiligtum, und den angrenzenden Tempelhain. Die dort niedergelegten Gold- und Silberschätze fielen in die Hände der Franken. Der Raub der Schätze und die Zerstörung der Irminsul und des heiligen Hains lösten einen erbitterten Rachezug der Sachsen aus. [3] Durch die Zwangschristianisierung sahen sich insbesondere die bäuerlichen Schichten in ihrer Identität existentiell gefährdet. Ihre verehrten Kultplätze sollten gegen Kirchen, ihre Kultzeichen gegen das Kreuz, ihre heidnischen Begräbnisstellen gegen christliche Friedhöfe und ihre Freiheit gegen Zehntpflicht eingetauscht werden. Unverständnis und Empörung waren die Folge.

So scheiterten die fränkischen Kriegszüge regelmäßig am zähen Widerstand der Sachsen, der bei nachlassender fränkischer Truppenpräsenz fortwährend neu aufloderte und sich in Rachefeldzügen entlud. Strategisch wichtige Burgen wurden zurückerobert, die Karlsburg in Paderborn niedergebrannt und ein Verwüstungskrieg gegen christliche Kirchen geführt. 775 zog das fränkische Heer zum zweiten Mal nach Sachsen. Die Syburg über dem Ruhr-Lenne-Tal und die Eresburg wurden zurückerobert und der Weserübergang bei Höxter trotz heftiger sächsischer Gegenwehr erzwungen. Daraufhin durchquerte das fränkische Heer Ostfalen bis zur Oker. Die Sachsen stellten Geiseln und leisteten den Treueeid. Zwischen 776 und 777 kam es zu den ersten Massentaufen an den Lippequellen, beim heutigen Lippspringe.

Der immer wieder aufbrechende Widerstand der Sachsen ging von den unteren Ständen der Freien und Laten (Minderfreien) aus, während die Oberschicht profränkisch gesinnt war und aus wirtschaftlichen und politischen Gründen mit Karl kooperierte. Dies zeigte sich auch während des Reichstages 777 in Paderborn, der ersten Reichsversammlung auf sächsischem Boden. Viele sächsische Adlige ließen sich an den Paderquellen taufen. Nur einer fehlte, Widukind. Dieser stellte sich an die Spitze des Widerstands und organisierte in den nächsten Jahren den Kleinkrieg gegen die Franken.

Während der zweiten Versammlung an den Lippequellen im Jahre 782 erfolgte die formelle Einbeziehung Sachsens in den Reichsverband durch die Errichtung von Grafschaften, die Karl zumindest teilweise an sächsische Adlige übertrug. Zugleich wurde die berüchtigte "Capitulatio de partibus Saxoniae" beschlossen. Diese Gesetzessammlung zum Schutz der neuen religiösen und politischen Ordnungen sah drakonische Strafbestimmungen vor. Auf den "Rückfall" ins Heidentum stand fast immer die Todesstrafe. Die Einführung der fränkischen Grafschaftsverfassung und die neuen Gesetze griffen tief in die ältere sächsische Stammesverfassung ein und waren vermutlich Ursache für den neuen Aufstand noch im Herbst 782, der für die Franken mit einer schweren Niederlage am Süntel bei Verden an der Aller endete. Für Karl den Großen gab das Debakel den Anlaß zu einer rigorosen Strafaktion. Nach den Reichsannalen sollen im sogenannten "Verdener Blutgericht" 4500 Sachsen- auf seinen Befehl hingerichtet worden sein eine Zahl, die in der Mittelalterforschung stark umstritten ist. [4] Widukind konnte sich der Strafe durch rechtzeitige Flucht zu den befreundeten Dänen entziehen.

Nach seiner Rückkehr kam es 783 zu zwei offenen Feldschlachten bei Detmold, bei denen die Franken die Oberhand behielten. Trotzdem blieb die Lage so instabil, daß Karl der Große mit seinen Truppen den Winter 784/85 in Herstelle an der Weser verbrachte. Die Aufständischen hatten hierdurch keine Möglichkeit, sich zu erholen und neue Truppenkräfte zu sammeln. Im darauffolgenden Frühjahr ließ Karl von der Eresburg aus ihre Burgen und Güter plündern und wichtige Fernstraßen von Wegelagerern räumen. Im Sommer 785 fand in Paderborn die zweite Reichsversammlung statt, an der auch Sachsen teilnahmen. Im Anschluß an den Reichstag verfolgte Karl die Anführer des Widerstands, Widukind und dessen Schwiegersohn Abbio, bis weit in den Norden. An der Elbe nahm er über bekehrte Sachsen Kontakt mit ihnen auf. Widukind mußte sich der fränkischen Übermacht beugen. Karl sicherte dem Sachsenherzog im Falle seiner Unterwerfung Straffreiheit zu und stellte zu seiner Sicherheit Geiseln. Erst daraufhin ließ Widukind sich 785 in der Pfalz Attigny (Champagne) taufen. Karl selbst übernahm das Patenamt und ehrte den neugewonnenen Christen mit großzügigen Geschenken. Papst Hadrian ließ ein dreitägiges Dankesfest für die gesamte abendländische Christenheit feiern. Dies unterstrich die politische Bedeutung der Taufe Widukinds, wurde doch damit der Weg frei für die weitere Christianisierung der Sachsen und ihre Integration in das Frankenreich. Nach der Taufe verlieren sich die historischen Spuren Widukinds in die Weit der Sagen und Legenden.

Auch nach der Unterwerfung Widukinds folgten noch sächsische Aufstände, die Karl zu weiteren militärischen Aktionen zwangen. Gleichzeitig begann er mit der inneren Stabilisierung der eroberten Gebiete. Zur Versorgung und Stützung der fränkischen Macht entstanden entlang der Weser befestigte Königshöfe: so in Lügde/Schieder, bei Brakel und Warburg sowie bei Herstelle an der Weser. Die Missionierung erfolgte über die seit 786 gegründeten Bistümer Minden, Münster und Paderborn sowie Bremen und Verden. Auch die Neugründung und der Ausbau zahlreicher Klöster und Kirchen trug wesentlich zur Festigung des neuen Glaubens bei. Von besonderer Bedeutung war die 815 gegründete Reichsabtei Corvey an der Weser. Sie entwickelte sich im 9. und 10. Jahrhundert immer stärker zum kirchlichen und kulturellen Mittelpunkt Sachsens.

Karte: Westfalen während der Sachsenkriege 772-804

797 wurden die harten Bestimmungen der Capitulatio von 782 gemildert. Die endgültige Grundlage für die Versöhnung zwischen Franken und Sachsen bot die 802 beschlossene "Lex Saxonum", die nun auch das altsächsische Volksrecht berücksichtigte. Über das Ende der Sachsenkriege berichtete Einhard:
"Schließlich, nachdem (Karl) alle ... besiegt und unterjocht hatte ... (holte) er 10.000 Mann mit Weib und Kind von ihren Wohnsitzen auf beiden Ufern der Elbe weg ... und (siedelte) sie da und dort in Germanien und Gallien in vielen Abteilungen an ... Unter der Bedingung ... nahm der Krieg :.. ein Ende, daß (die Sachsen) dem heidnischen Götzendienst und den heimischen Religionsgebräuchen entsagten, die Sakramente des christlichen Glaubens annahmen und mit den Franken zu einem Volke sich verbanden." [5]

Beim endgültigen Friedensschluß von 804 waren die Sachsen ein durch Waffengewalt und Deportationen stark dezimiertes Volk. Für sie bedeutete die Zwangseingliederung zwar Zerstörung der alten politischen Verfassung und Verlust der traditionellen Weltordnung, aber ihre gleichberechtigte Integration in das fränkische Reich führte zur Verschmelzung beider Völker.


Wirkungsgeschichte Widukinds

Es ist zu vermuten, daß sich schon zu Lebzeiten des Sachsenführers ein Heldenmythos entwickelte. Nachweisen läßt er sich für das Jahr 919, als Heinrich I. als Herzog der Sachsen die Franken auf dem deutschen Herrscherthron ablöste. Dieser heiratete Mathilde, eine Nachfahrin Widukinds. Glanz und Ruhm ihres Vorfahren dienten nun dem ottonischen Königshaus zur Herrschafts- und Machtlegitimierung. Später, nachdem Mathilde von der Kirche heiliggesprochen worden war, galt die Bewunderung nicht mehr dem "kämpferischen Heiden", sondern dem eifrigen und überzeugten Christen. Die um 1000 entstandene Lebensbeschreibung Mathildes zeigt Widukind als fleißigen Kirchengründer und wachsamen Verteidiger des christlichen Glaubens. In der Mathildenvita wird auch zum erstenmal der Ortsname Enger erwähnt, wo Widukind eine "cellula" (Kirchenzelle) gegründet haben soll. Damit war der Grundstein für die sich rasch entwickelnde Widukind-Tradition in Enger gelegt.

Nach dem Aussterben der Ottonen fiel die Kaiserkrone an das fränkische Geschlecht der Salier. Im Investiturstreit Heinrichs IV. verbündeten sich die Sachsen mit der päpstlichen Kirche. Die Legendengestalt Widukinds nützte beiden, indem eine Sage in Umlauf gebracht wurde, in der der Sachsenführer allen historischen Tatsachen zum Trotz als christlich-moralischer Sieger gegenüber dem Kaiser auftrat. Im Zuge dieses gemeinsamen Kampfes der Sachsen mit der Kirche ist es denkbar, daß das berühmte Widukind-Epitaph aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in das Stift Enger gelangte. [6] Noch heute steht das lebensgroße Grabrelief in der Engeraner Kirche und gilt als die älteste Darstellung des Sachsenführers.

Im 12. Jahrhundert entdeckte die Dichtung den mythischen Helden Widukind. Berühmt wurde das französische Lied "Chanson des Saxons" von Jean Bodel von Arras. Bis zum 14. Jahrhundert waren Widukind-Sagen und -Dichtungen in ganz Europa verbreitet. Im Zuge des zu Anfang des 19. Jahrhunderts erwachenden deutschen Nationalgefühls gewann Widukind als Vorkämpfer deutscher Freiheit und Verkörperung deutscher Tugenden neuen gesellschaftlichen Symbolwert. Diese Stimmung erreichte während der Napoleonischen Befreiungskriege ihren Höhepunkt. Napoleon erklärte sich zum Erben Karls des Großen, woraufhin viele Deutsche die Franzosen mit den Franken gleichsetzten. Widukind und die Sachsen wurden zum politischen Vorbild im nationalen Freiheitskampf. Bezeichnend hierfür ist der zeitgenössische Aufruf "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahns: "Sachsen zu Rosse, Karl ist im Lande". [7] Die romantische Wertschätzung eines Volkshelden verband sich mit nationalem Bewußtsein und politischer Aktivität. In dieser Zeit entstand auch die erste umfassende schriftliche Sammlung der bisher nur mündlich überlieferten Volkssagen.

Die verklärte Haltung gegenüber dem Germanentum hielt auch nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs von 1871 an. Die in Herford und Enger errichteten Widukind-Denkmäler zeigen eine bizarre Mischung aus naivem Germanenkult, Kaiserverehrung und imperialem Sendungsbewußtsein. Durch die Beschwörung einer gemeinsamen heroischen Vergangenheit sollte ein alle Schichten verbindendes Gemeinschaftsgefühl geschaffen werden. In diesem Sinne ist auch die Einweihung des Hermanns-Denkmals 1875 bei Detmold zu verstehen.

Doch die germanischen und sächsischen Helden sollten schon bald eine national-rassistische Umdeutung erfahren. Anfang des 20. Jahrhunderts widmete sich Hermann Löns dem Widukind-Thema. Seine Novelle "Die rote Beeke" (um 1908) beschreibt das "Verdener Blutgericht" in den drastischsten Farben. Die dort ausgedrückte leidenschaftliche Abneigung gegen Karl den Großen und die fremdländischen Franken fand ihre aktuelle Umsetzung in der antifranzösischen Stimmung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Mit dem völkischen Nationalismus lebte auch Widukinds Geist wieder auf, der am Ende der Lönsschen Novelle nur noch auf Rache sinnt. Seine Version vom "aisken Schlächter Karl" paßte sehr gut zum angeschlagenen Selbstbewußtsein der deutschen Nation nach 1918.

In der Zeit des Nationalsozalismus setzte eine massive ideologische Vereinnahmung des Sachsenführers für staatliche Interessen ein. Alfred Rosenberg, Leiter der geistigen und weltanschaulichen Erziehung der NSDAP, wurde zum bekanntesten Anwalt Widukinds, indem er ihn immer wieder neu zum Idealtypen des "germanischen Führers" und Kämpfers für die "Reinheit der nordischen Rasse" stilisierte.

Für Rosenberg gab es nur drei entscheidende Gestalten deutscher Vergangenheit und Gegenwart: "Einmal Hermann im Kampf gegen die römischen Legionen als Sieger, fast 800 Jahre später Widukind als zweiter Kämpfer für Blut und Boden als der tragische Unterlegene, und 1000 Jahre später Adolf Hitler als unmittelbarer Fortsetzer des Werks Hermanns des Cheruskers und des Herzogs Widukind." [8 ] Für Rosenberg war Hitler die Reinkarnation des Sachsenführers. In seiner Rede auf dem Niedersachsentag Ende Juni 1934 führte er deshalb weiter aus: "Heute reitet wie vor tausend Jahren wieder Herzog Widukind durch die Wälder und Täler Deutschlands, ruft uns zwar nicht zum kriegerischen Kampf, wohl aber zum Kampf um die innere Ausgestaltung, zum Kampf für die Überwindung aller Gegensätzlichkeiten innerhalb des deutschen Volkes, zum Kampf für ein Denken festverwurzelt in Blut und Boden. Das ist das große Vermächtnis, das wir zu hüten haben." [9]

Im Rahmen des Niedersachsentages besuchte Rosenberg am 23.06.1934 Enger, um eine Totenehrung am mutmaßlichen Grabmal Widukinds abzuhalten." [10] Seit dem frühen Morgen hielten Hitlerjungen am Sarkophag Ehrenwache. Der Platz um die Kirche war mit Girlanden, Laub und Hakenkreuzfahnen geschmückt. SA, HJ, BDM und Vertreter der Engeraner NSDAP säumten die Straßen und standen Spalier bis zum Kircheneingang. In der Kirche überreichte ein vermeintlicher Nachfahre Widukinds, ein Sattelmeier, Rosenberg einen Strauß Heckenrosen, den jener am Grab niederlegte. Die Inschrift auf der roten Schleife lautete: "Dem deutschen Herzog!"

Die antikirchliche Komponente, die der Widukind-Mythos schon vor 1933 haftete, wurde von den Nationalsozialisten gezielt aufgegriffen und auch auf andere mittelalterliche Symbolfiguren übertragen. Im Dom zu Quedlinburg richteten sie unter Federführung der SS eine "nationale Gedenkstätte" am Grabe Heinrichs I. ein. Heinrich galt durch seine militärischen Erfolge über die Ungarn (933 an der Unstrut) und seine Politik der Einigung der Stämme im Innern des Reichs als Vorbild. Als ein weiterer Versuch, historische Bezugspunkte zu entwickeln, wurde auch der Braunschweiger Dom Heinrichs des Löwen zu einem NS-politischen Denkmal umgestaltet und als nationale Weihestätte mißbraucht. Ähnliche Pläne existierten auch für die Engeraner Stiftskirche. Mit der Widukind-Grabstätte bot sie sich als geschichtlicher Wallfahrtsort" an, doch Kriegsausbruch und die geschickte Verzögerungstaktik des Presbyteriums verhinderten den Umbau der Kirche.

"Heiliger Boden liegt ... für uns nicht irgendwo im Morgenland, sondern heilige Erde ist überall da in Deutschland, wo einmal dieser Boden mit dem Blute seiner Bewohner verteidigt wurde." [11] Entsprechend diesem Bekenntnis Rosenbergs vom Mai 1934 boten gerade Niedersachsen und Westfalen verschiedene historische Bezugspunkte für die völkisch-nationalsozialistische Mittelalterdeutung. Neben Braunschweig und Quedlinburg wurde in Verden an der Aller eine "Thingstätte" für die 4500 vermeintlich von Karl dem Großen hingerichteten Sachsen errichtet. Die Wewelsburg südwestlich von Paderborn baute Heinrich Himmler, jedoch ohne geschichtlichen Begründungsversuch, zu einer "Gralsburg" für die "Artusrunde" der SS-Führer um. Ebenso unter Obhut der SS standen die Externsteine im Teutoburger Wald. Hier vermuteten NS-Historiker den Standort der Irminsul, des germanischen Götterheiligtums. Auch Enger verloren die Nationalsozialisten nicht aus den Augen. Unter großem propagandistischen Aufwand wurde am 08.06.1939 hier die Widukind-Gedächtnisstätte eröffnet. Schirmherr der Gedächtnisstätte war der "Reichsführer SS" und Polizeichef Himmler. Bewußt als "Kult-" und "Weihestätte", nicht als Museum konzipiert, wurden Wirken und Wirkung Widukinds nicht wissenschaftlich dokumentiert, sondern im Sinne der NS-Weltanschauung dargestellt.

Nach 1945 kam es nicht zu einem Bruch mit den Inhalten dieser ganz und gar ideologisch geprägten "Weihestätte". Als ein Relikt nationalsozialistischer Zeit konnte die Gedächtnisstätte bis auf wenige Korrekturen noch Jahrzehnte überdauern. Erst in den 70er Jahren setzte eine massive Kritik von außen ein. In Zusammenarbeit mit dem Westfälischen Museumsamt wurde eine völlig neue Konzeption entwickelt, die eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung des Widukind-Themas zum Ziel hatte.

Nach umfangreichen Umbaumaßnahmen wurde 1983 anstelle der alten Widukind-Gedächtnisstätte das Widukind-Museum eröffnet Mit der neuen Ausstellung distanzierte sich das Museum von dem pseudowissenschaftlichen Personenkult der alten Weihestätte, aber auch von den tradierten Wunschvorstellungen, Spekulationen und Halbwahrheiten, die den Mythos Widukind lange Zeit umgaben und noch umgeben. Da die wenigen gesicherten Quellen kein geschlossenes Bild der Persönlichkeit, der politischen Motive und des Lebensschicksals Widukinds liefern, ist das Museum .bis heute bemüht, Wirken und Wirkung des Sachsenführers überwiegend über die Rezeptionsgeschichte zu erklären.


[1] Den Namen "Widukind" gibt es in verschiedenen Schreibweisen, die Reichsannalen sprechen von "Widochind" und "Widukind" in Ostwestfalen ist auch der Name "Wittekind" gebräuchlich, während im Friesischen sich der Name "Weking" durchsetzte, so auch in H. Löns Novelle "Die rote Beere".
[2] Einhardi Vita Karoli Magni. Freiherr v. Stein Gedächtnisausgabe (Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 1, hg. v. R. Rau), Darmstadt 1970, S. 174, 175.
[3] Die Darstellung der Sachsenkriege folgt Fresse (1983), S. 289-300.
[4] Vgl. den Forschungsüberblick bei Lammers (1970), S. 109-257.
[5] Einhardi Vita Karoli Magni a.a.O., S. 175-176.
[6] Specht-Kreusel (1992), S. 9.
[7] Zitiert nach Specht-Kreusel (1992), S. 15.
[8] Zitiert nach Köhn (1986), S. 594.
[9] Völkischer Beobachter, Berlin, Nr. 175/6 vom 24.06.1934/25.06.1934, S. 1f.; zitiert nach Balz (1983), S. 19, 20.
[10] Über den Besuch Rosenbergs vgl. Krogel (1995), S. 36.
[11] Zitiert nach Köhn (1986), S. 595.

Westfalen im Bild, Reihe: Persönlichkeiten aus Westfalen, Heft 11