"Westfalen im Bild" - Texte

Bernard, Johannes
Friedrich von Bodelschwingh
Münster, 1995



Einleitung

Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) gehört zu den großen Gestalten der Diakonie und des sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert. Sein Name ist untrennbar mit der Fürsorge für die an Epilepsie erkrankten Menschen verbunden. Bethel, der Ort seiner Wirkungsstätte, steht für den Dienst an den Hilfsbedürftigen und Armen. Aber auch über die eigentliche Geschichte von Bethel hinaus gilt Bodelschwingh als ein Vorbild diakonischen Handelns: "Bodelschwingh hat die Diakonie, die praktische christliche Nächstenliebe und -hilfe, als Bewußtseinsinhalt in das evangelische Deutschland seiner Zeit gegeben.“ [1]

Die Diakonie und der politisch-soziale Protestantismus im 19. Jahrhundert wollten eine Antwort auf die sozialen Fragen geben. Die evangelische Kirche hatte sich aufgrund ihrer engen Bindung an den Staat und an die Monarchie relativ spät mit der Arbeiterbewegung und ihren Forderungen auseinandergesetzt. Die entscheidende Frage war dabei, wie man die Arbeiterklasse in die protestantische Kirche zurück und damit unter das Dach der Monarchie eingliedern könne. Kirche und Staat, Protestantismus und Konservatismus waren wechselseitig fest miteinander verbunden, der preußische König war zugleich oberster Bischof der evangelischen Landeskirchen. Das hieß, daß der christliche Glauben mit der Liebe zu König und Vaterland verbunden wurde. Dementsprechend wurde die aufkommende Sozialdemokratie als unchristlich und unpatriotisch abgelehnt. Im parlamentarischen Raum entstand erst einige Jahre nach der Reichsgründung 1870/71 eine protestantisch-soziale Partei, die allerdings keinen nennenswerten Erfolg hatte. Dagegen wurde im Bereich der Diakonie oder Inneren Mission frühzeitig auf die Verpflichtung des Christen zu sozialem Handeln hingewiesen. Die von Johann Hinrich Wichern (1808-1881) begründete Innere Mission bezeichnete ursprünglich die Hilfe der evangelischen Kirchen für ihre sozial wie glaubensmäßig in Not geratenen Mitglieder. Noch im ersten Jahr des 1. Kongresses für die Innere Mission (1849) entstand der "Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche". Zu seinen Aufgaben zählte die Sorge für schwer erziehbare Jugendliche, Strafgefangene, obdachlose und anfallskranke Menschen ebenso wie die Heranbildung von Mitarbeitern und der Einsatz für eine soziale Gesetzgebung. Nicht zuletzt wurde dieser Einsatz durch die Erweckungsbewegung, die in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die Aufklärung entstand und das pietistische Gedankengut wiederbelebte, ideell vorbereitet. Die Erweckungsbewegung verzögerte allerdings in gewissem Maße mit ihrer starken Betonung der Gefühlsweit und persönlichen religiösen Erfahrung ein Schritthalten mit den Ideen des Liberalismus oder Sozialismus. Gerade bei Bodelschwingh wird diese Mischung aus Erweckungsbewegung, Diakonie und sozialem Protestantismus relevant. Für die Geschichte des Protestantismus wurde ihm lange Zeit wenig Bedeutung beigemessen, während er im innerkirchlichen Raum fast wie ein "Heiliger" betrachtet wurde. Jürgen Albert stellte dabei kritisch fest: "Diakonie-Gedenken bleiben in der öffentlichen Liturgie des Dankes und der Bitte um solche Männer befangen, zelebrieren Heiligen-Verehrung." [2]

Um dem Lebenswerk Friedrich von Bodelschwinghs gerecht zu werden, müsse der Biograf nach den Worten Carl Friedrich von Weizsäckers "für kirchliche Ohren fast wie ein Ungläubiger, für säkulare Ohren fast wie ein Pietist reden". [3] Dieses Bonmot zeigt, wie schwer es ist, einen Zugang zum Lebensbild Bodelschwinghs zu gewinnen. Oftmals sind Bodelschwingh und Bethel auch mit den Augen eines protestantischen Diakonie-Ideals gesehen worden:
"Das Bodelschwingh-Bild ist gemalt mit den Farben der Sehnsucht nach gelingender Diakonie. Dort, wo die Welt dem Zugriff des Glaubens sich entzog, ihm verlustig ging, sollte der diakonische Kosmos, die Anstaltsgemeinde, herhalten. Diakonische Gestaltung wurde so besonders im 19. Jahrhundert ein Ersatz für entzogene Welt-Beziehung. Die Aufgabenteilung stimmte: Der Wirtschaftsliberalismus zum Verdienen auf der einen, die libertas christiana zum Dienen auf der anderen Seite. Bodelschwinghs durchgängige Hoffnung, daß auch das Wirtschafts- und Erwerbsleben mit christlicher Gesinnung gebändigt werden könnte, erwies sich als illusorisch." [4]

Am Lebensbild Friedrich von Bodelschwinghs ist daher nicht nur das imposante und gelungene diakonische Werk aufzuzeigen, sondern hier kann auch die Tragik des sozialkonservativen Protestantismus im 19. Jahrhundert, dem Bodelschwingh zuzuordnen ist, erklärt werden. Während für Bodelschwingh die Struktur der preußisch-konservativen Gesellschaft nicht zur Disposition steht, scheint seine praktizierte Diakonie doch in den Dienst der Rettung einer überlebten Gesellschaftsordnung gestellt zu sein, die der damaligen Herausforderung des Sozialismus und eines humanistisch geprägten Liberalismus nur unzureichend entgegenwirken konnte. Gerade auch an Bodelschwingh läßt sich die Grenze einer Diakonieform festmachen, die auf Gesellschaft reagiert, aber nicht mehr selbständig agiert. Durchaus kritisch bemerkt Jürgen Albert, daß die Geschichte der Diakonie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in patriarchalischen Strukturen verhaftet blieb, die eine schichtenspezifische Verengung des Protestantismus bedeutet habe, ohne die Arbeiterklasse einzubeziehen. Dieses Versäumnis rechtzeitig aufzuheben sei der Diakonie nicht gelungen: "Die aktive Beteiligung aller getauften Glieder der Kirche und das hieß eben auch der Arbeiter am politischen und gesellschaftlichen Leben wäre ein diakonischer Prozeß von eminenter Bedeutung gewesen." [5]

Das sozialpolitische Denken im Protestantismus und speziell auch bei Bodelschwingh blieb auf den Rahmen der staatlichen Fürsorge und Vorsorgepolitik der Schwachen beschränkt. Praktische Verbesserungen der sozialen Frage wurden nicht nur unterstützt, sondern auch gefordert, aber die soziale Frage als solche koppelten die Protagonisten der Diakonie von der Frage nach der politischen Mündigkeit im kaiserlichen Deutschland ab. Sowohl der bürgerliche Liberalismus als auch der proletarische Sozialismus waren Bewegungen, die sich längst nicht mehr auf die ökonomischen und sozialen Gebiete beschränken ließen. Die politische Emanzipation des Bürgertums und der Arbeiterschaft geriet in der ausgeprägten Klassengesellschaft mit ihren traditionellen Führungsgruppen des Adels, des Militärs, des Beamtentums und der Geistlichkeit zur Herausforderung. Für die konservative "Christlich-Soziale Partei" um den Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909), die fest in der monarchischen Ordnung stand und entschieden antiliberal, antisozialistisch und antisemitisch eingestellt war, stellte das Verlangen nach staatsbürgerlicher Gleichberechtigung eine nicht hinnehmbare Abkehr vom preußischen Obrigkeitsstaat dar. Bodelschwingh, der mit Stoecker freundschaftlich verbunden war und ihm in vielen politischen Fragen nahestand, [6] stimmte zwar einzelnen sozialpolitischen Forderungen der immer stärker werdenden Sozialdemokratie zu, doch grundsätzlich lehnte er ihre demokratischen Forderungen und ihre Weltanschauung kategorisch ab.

Um die Ursachen einer wachsenden Unzufriedenheit der Arbeiterschaft zu beheben, forderte Bodelschwingh umfassende Hilfen für den "vierten" Stand. Eine sozial befriedete Arbeiterschaft sollte die Gefahr einer erneuten Revolution in Deutschland bannen und das Fundament der als "gottgegeben" angesehenen Monarchie stärken. In einem Schreiben an den Kronprinzen Friedrich Wilhelm heißt es 1885:
"Es ist eine doppelte schmerzliche Gewißheit, die sich mir hier täglich aufdrängt. - Erstens, daß das sozialdemokratische Element hier rapide im Wachsen ist. Ich erfahre aus zuverlässigen Quellen, daß die solidesten Leute, die vom Lande kommen, in wenigen Wochen von den sozialistischen Lehren ganz durchdrungen sind. - Aber was mir viel schmerzlicher ist, ich erfahre auch, daß die Kirche in der Gestalt, wie sie im großen und ganzen die Lehren ihres göttlichen Stifters gegen diese Umsturzpartei ins Feld führt, derselben keinen Damm entgegensetzt. ... Gelingt es, daß in dreißig bis vierzig Jahren jeder fleißige Fabrikarbeiter vor seiner eigenen Hütte unter seinem Apfelbaum umgeben von seiner Familie sein Abendbrot essen kann, dann ist die Sozialdemokratie tot, und der Thron der Hohenzollern ist auf Jahrhunderte gesichert.“ [7]

Bodelschwinghs Ziel, die sozialen Aufgaben vom Evangelium her zu lösen, stieß dabei auf Grenzen, denn seine sozialpolitischen Intentionen erfuhren durch die Oberschichten, die ihm sonst nahestanden, durchgängige Ablehnung. In einem im September 1889 verfaßten Brief an Pastor Ludwig Weber, der in Mönchengladbach in der christlich-sozialen Arbeit tätig war, wird deutlich, wie illusionär diese Vorstellungen in der praktischen Umsetzung waren:
"Wir müssen uns Mut und Kraft erbitten, namentlich alle evangelischen Industriefürsten persönlich anzufassen, daß sie zu ihren Arbeitern heruntersteigen und mit ihnen gemeinsam überlegen, wie die gemeinsame heiße Arbeit für alle zum Segen gelenkt werden kann." [8] Aber nicht nur die Oberschicht zeigte die kalte Schulter, sondern auch diejenigen, denen geholfen werden sollte: Die Arbeiter.

Wie so viele engagierte Protagonisten des sozialen Protestantismus glaubte auch Bodelschwingh anfangs an die Chance einer sozialen Selbstreformation der Gesellschaft durch ein Entgegenkommen der besitzenden Stände. Die Notwendigkeit eines sozialpolitischen Engagements auf parlamentarischer Ebene erkannte er erst später, als das Prinzip der Freiwilligkeit rasch an seine Grenzen stieß.

Bodelschwingh wie auch die christlich-sozialen Anhänger Adolf Stoeckers
hofften darauf,
"mit Hilfe der Besserstellung des arbeitenden Volkes durch soziale Gesetzgebung des Staates und durch kirchliche Liebestätigkeit die proletarischen Massen wieder mit dem preußisch-deutschen Herrschaftssystem versöhnen zu können. So sehr ihnen beiden auf der einen Seite Sozialpolitik Gewissenssache und christliche Pflicht im Dienste der Schwachen gewesen ist, so war sie ihnen auf der anderen Seite doch auch politisch-psychologisches Mittel zur Überwindung demokratischer sozialistischer Tendenzen und damit Mittel zur Bewahrung und Rettung ihrer hierarchisch-patriarchalischen Ordnungswelt.“ [9]

Diese Grenzen der Wirkungen Bodelschwinghs als Sozialpolitiker aufzuzeigen bedeutet nicht ein Abschwächen seiner vielfältigen sozialreformerischen Initiativen.


Biografischer Abriß

Friedrich Christian Carl von Bodelschwingh wurde am 06.03.1831 als sechstes Kind des Landrats Ernst von Bodelschwingh (1794-1854) und seiner Frau Charlotte, geb. von Diest (1793-1869) auf Haus Mark in Tecklenburg (Westfalen) geboren. Er gehörte einer alten protestantischen westfälischen Familie an, die in engen Beziehungen zum preußischen Staat und dem Herrscherhaus der Hohenzollern stand. Sein Vater und dessen Bruder, der später sein Schwiegervater werden sollte - Friedrich heiratete 1861 seine Kusine Ida - waren Minister. Ernst von Bodelschwingh wurde 1842 von König Friedrich Wilhelm IV. als Finanzminister nach Berlin berufen. In dieser Zeit gehörte Friedrich zu den Spielgefährten des späteren Königs und Kaisers Friedrich Il. Hier entstand jene lebenslange Freundschaft, die die beständig guten Beziehungen Bodelschwinghs zu den Hohenzollern mitbegründete.

Während des Revolutionsjahres 1848 mußte der Vater als Minister zurücktreten und ließ sich im westfälischen Velmede nieder. So kam es, daß er statt am renommierten Berliner Friedrich-Wilhelm-Gymnasium das Abitur im März 1849 am kleinen Dortmunder Gymnasium ablegte. Zunächst begann Friedrich ein Praktikum im Bergwerk und studierte ein Semester Philosophie, Physik und Botanik. Im Herbst 1849 entschloß er sich dann endgültig zu einer Ausbildung als Landwirt, die er auf der Staatsdomäne Kienitz im Oderbruch absolvierte. Nach kurzem Militärdienst, aus dem er nach einer schweren Lungenentzündung als "Halbinvalide" entlassen wurde, übernahm er 1852 die Verwaltung des landwirtschaftlichen Besitzes der befreundeten Familie Senfft von Pilsach in Gramenz in Hinterpommern. Hier lernte er das Elend der Landarbeiter aus eigener Anschauung kennen.

1854 kam es zu einer überraschenden Wendung, die er später auf die Lektüre eines für die Mission werbenden Traktates zurückführte: er wollte Missionar werden. Diesen Entschluß schilderte er im nachhinein als Gottesruf zum Theologiestudium:
"ln jener Zeit berührte mich Gottes Hand, die ich schon öfters zurückgewiesen hatte, schwerer als zuvor. Größere äußere Bedrückungen, als meine Kraft zu tragen vermochte, und nicht minder meine eigenen als anderer Menschen Versündigungen und Irrtümer ängstigten mich derart, daß ich zu dem einzigen Erretter meine Zuflucht zu nehmen gezwungen wurde. Zur gleichen Zeit vermehrte der Tod des heißgeliebten Vaters die Bewegungen meines Gemütes." [10]

Zunächst studierte Bodelschwingh am Missionshaus und an der Universität in Basel Theologie, wo ihn vor allem der heilsgeschichtliche Biblizismus Carl August Auberlens überzeugte. An der Universität in Erlangen lernte er Wilhelm Löhe (1808-1868) kennen, der in seiner Neuendettelsauer Orts- und Anstaltsgemeinde eine um das Abendmahl konzentrierte Frömmigkeit lutherischer Prägung pflegte und das altkirchlich verstandene Diakonissenamt erneuerte. Nach Beendigung seines Studiums folgte Bodelschwingh einem Ruf nach Paris, wo die Evangelische Gemeinde Augsburger Konfession eine Mission unter den deutschen Arbeitern gegründet hatte. Der 27jährige Pfarrer hatte die Aufgabe, die schulische und kirchliche Betreuung der deutschen Auswanderer, die als Fabrikarbeiter, Steinbrecher und Gassenkehrer ihren Lebensunterhalt verdienen mußten, wahrzunehmen. In La Villette, einem Vorort von Paris, schuf er ein Gemeindezentrum. Darin erblickte er den Kern einer kleinen Kolonie, eines "deutschen Christendörfchens".

In Paris heiratete Bodelschwingh 1861 seine Kusine Ida von Bodelschwingh. Eine Erkrankung seiner Frau zwang ihn, 1864 Paris zu verlassen und die zweite Pfarrstelle in der westfälischen Gemeinde Dellwig bei Unna anzunehmen. In Dellwig übernahm er 1865 die Schriftleitung des "Westfälischen Hausfreundes", eines konservativ-christlichen Sonntagsblattes, das nicht nur zur christlichen Erbauung diente, sondern auch zu tagespolitischen Fragen Stellung nahm. Besonders bekämpfte das Blatt alle Formen des Liberalismus und des Sozialismus.

Hier in Dellwig starben im Januar 1869 seine vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter, an Lungenentzündung. Die Erinnerungen an das Sterben seiner Kinder hat er 1869 unter dem Titel "Von dem Leben und Sterben vier seliger Kinder" niedergeschrieben.

1872 trat Bodelschwingh an die Spitze der 1867 gegründeten "Rheinisch-Westfälischen Anstalt für Epileptische" und der 1869 entstandenen Diakonissenanstalt in Bielefeld. Zunächst führte er die beiden bisher nur in Personalunion miteinander verbundenen Anstalten arbeitsmäßig zusammen; 1877 kam die Diakonen-Bruderschaft "Zoar" (kleine Winzigkeit), die zunächst aus sechs Pflegern bestand, hinzu. Etwas später wurde die Bruderschaft in "Nazareth" umbenannt. Diese Voraussetzungen ermöglichten das beispiellose Wachstum der Anstalten unter Bodelschwinghs Leitung.
"Es war möglich, weil die Diakonissen- und Diakonenanstalt die erforderlichen Mitarbeiter stellten, und es war nötig, weil Bodelschwingh Wert darauf legte, daß die Kranken getrennt nach der Schwere ihres Leidens in familienartigen Gruppen lebten und nach Möglichkeit in ihren erlernten Berufen arbeiteten. So kam es, daß laufend neue Gebäude erworben oder gebaut und Werkstätten sowie landwirtschaftliche Betriebe eingerichtet wurden." [11]

In rascher Folge entstanden die Pflegehäuser, die fast ausnahmslos biblische Namen erhielten, Bethlehem, Karmel, Bethabara und Siloah. 1884 war Bethel (Haus Gottes), wie die gesamte Anstalt hieß, bereits auf 21 Pflegehäuser angewachsen, darunter eine Anzahl landwirtschaftlicher Stationen und zahlreiche Handwerksbetriebe. Beim Tode Bodelschwinghs 1910 gab es in den Anstalten allein 67 Pflegehäuser, 30 Wirtschaftsgebäude und 80 Wohnhäuser.

Den Mittelpunkt in Bethel bildete, wie in Neuendettelsau bei Wilhelm Löhe, das Gotteshaus, die Zionskirche, die 1884 unter Mithilfe der arbeitsfähigen Kranken erbaut worden war.

Unübersehbar war die Not der arbeitsuchenden und obdachlosen Industrie- und Landarbeiter, die als Wanderarbeiter und Tagelöhner durch das Land zogen. Für sie reichten die bisherigen 91 "Herbergen zur Heimat" nicht aus. Daraufhin gründete Bodelschwingh 1885 die Arbeitsgenossenschaft "Verein Arbeiterheim", die günstige Darlehen zum Wohnungsbau anbot. Für die große Zahl umherziehender Arbeitsuchender schuf er 1882 die Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf in der Senne bei Bielefeld. Damit legte er den Grundstein für den Beginn der organisierten Wanderarmenhilfe, aus der die Nichtseßhaften-Arbeit hervorgegangen ist. Weitere Arbeiterkolonien entstanden 1899 im Wietingsmoor bei Diepholz. 1905 gründete sich eine Kolonie Hoffungstal bei Berlin.

Um die Herbergen für die Wanderarbeiter besser zu koordinieren und zu vermehren, drängte Bodelschwingh auf die Bildung eines "Deutschen Herbergsvereins", der schließlich 1886 gegründet wurde. Zudem forderte er die Errichtung von Wanderarbeitsstätten. Bodelschwingh, der zunehmend erkannte, daß die Sozialpolitik gesetzlicher Regelungen bedurfte, ließ sich 1903 im Wahlkreis Bielefeld als parteiloser Kandidat für die Konservativen in den Preußischen Landtag wählen. Er war der Kompromißkandidat einer Gruppe von christlich-konservativen und christlich-sozialen Wahlmännern. 1907 gelang es ihm, das erstrebte Gesetz zur Regelung der Fürsorge für die Wanderarmen, das sogenannte "Wanderarbeitsstättengesetz", in Preußen durchzusetzen.

Darüber hinaus wirkte er im Vorstand der Evangelischen Missionsgesellschaft für Deutsch-Ostafrika mit, die 1906 ihren Sitz von Berlin nach Bethel verlegte. Für die theologische Ausbildung gründete er 1890 das Kandidatenkonvikt und 1905 die Theologische Schule in Bethel.

Als Bodelschwingh 1910 in Bethel verstarb, lebten in den 67 Pflegehäuser etwa 4.000 hilfsbedürftige Menschen. Der Aufbau dieser diakonischen Einrichtungen ist ohne sein Wirken nicht denkbar. Bethel und die seit 1921 so bezeichneten "v. Bodelschwinghschen Anstalten" gelten als Synonym für diakonisches Handeln schlechthin. Heute bilden sie die größte diakonische Einrichtung dieser Art in Deutschland und zugleich den größten Anstaltskomplex in Europa.


[1] Jürgen Albert, Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910). Bodelschwingh-Gedenken und kritisches Bodelschwingh-Bild, in: Diakonie 11 (1985), S. 174-177, hier S. 177.
[2] Ebd. S. 174.
[3] Carl Friedrich von Weizsäcker, Pastor Fritz und die Bodelschwingh-Tradition. Rede am 11.10.1977 in der Betheler Zionskirche, in: Bethel 18 - Beiträge aus der Arbeit der v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld-Bethel. Reden und Ansprachen zum 100. Geburtstag von Fritz v. Bodelschwingh, Bethel 1977, S. 4-18, hier S. 6.
[4] Jürgen Albert, Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910), S. 174.
[5] Ebd. S. 175.
[6] Vgl. Robert Stupperich, Bodelschwingh und Stoecker. Gemeinsame Ausrichtung verschiedene Wege, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte, Bd. 67 (1974), S. 89 -111.
[7] Friedrich v. Bodelschwingh. Briefwechsel Bd. 1, hg. v. Alfred Adam, Bethel 1975, S. 157-158.
[8] Ebd. S. 252.
[9] Johannes Rau, Wir fragen nach Friedrich v. Bodelschwingh - dem Sozialpolitiker, in: Bethel 24 - Beiträge aus der Arbeit der v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld-Bethel. Reden und Ansprachen aus Anlaß des 150. Geburtstages von Friedrich v. Bodelschwingh, Bethel 1981, S. 48-61, hier S. 59.
[10] Zit. nach Alfred Adam. Friedrich von Bodelschwingh 1831-1910, Münster 1958, S. 200.
[11] Helmut Talazko. Bodelschwingh, in: Staatslexikon, hg. v. der Görres-Gesellschaft. 7. Aufl., Bd. 1, Freiburg-Basel-Wien 1985, S. 842-844, hier S. 843.




Westfalen im Bild, Reihe: Persönlichkeiten aus Westfalen, Heft 7