"Westfalen im Bild" - Texte

Otto, Reinhard
Das Stalag 326 (VI K) Senne
Ein Kriegsgefangenenlager in Westfalen
Münster, 2000



Einleitung

Am 30.03.1941 erläuterte Hitler in einer langen Rede vor etwa 250 hohen Offizieren seine Vorstellungen von der kommenden militärischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion. Im Kriegstagebuch des Generalstabschefs Halder heißt es dazu stichwortartig: "Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander. Vernichtendes Urteil über Bolschewismus, ist gleich asoziales Verbrechertum. Kommunismus ungeheure Gefahr für die Zukunft. Wir müssen vom Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad! Es handelt sich um einen Vernichtungskampf. Wenn wir es nicht so auffassen, werden wir zwar den Feind schlagen, aber in 30 Jahren wird uns wieder der kommunistische Feind gegenüberstehen. Wir führen nicht Krieg, um den Feind zu konservieren. (...) Kampf gegen Rußland, Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz. Die neuen Staaten müssen sozialistische Staaten sein, aber ohne eigene Intelligenz...".

Mit diesen wenigen Worten machte Hitler von Anfang an klar, wie er sich die Behandlung der zu erwartenden sowjetischen Kriegsgefangenen vorstellte. Da er in ihnen die Personifizierung des weltanschaulichen Todfeindes, nämlich des bolschewistischen Systems in der Sowjetunion sah, waren sie gleichsam in einem Akt vorbeugender Notwehr zu vernichten, was freilich eine "Auswertung" ihrer Arbeitskraft nicht von vornherein ausschloß. Die Maßstäbe jedenfalls, die die Genfer Konvention von 1929 völkerrechtlich verbindlich für die Behandlung von Kriegsgefangenen gesetzt hatte, durften nach dieser Auffassung schon im ureigensten deutschen Interesse keine Anwendung finden, eine Haltung, die sich formaljuristisch mit der fehlenden Ratifizierung dieses Abkommens durch die Sowjetunion rechtfertigen ließ. Die Genfer Konvention, Reichsgesetz seit 1934, verpflichtete alle deutschen Soldaten, die Gefangenen vor Gewalt zu Schutzen und ihnen mit Menschlichkeit zu begegnen (Genfer Konvention Art. 2), ihrer Person die erforderliche Achtung und Ehre entgegenzubringen (Art. 3) und für ihren Unterhalt zu sorgen (Art. 4). Die Unterbringung mußte in hygienisch einwandfreien festen Häusern oder Baracken erfolgen sowie für ausreichende Verpflegung gesorgt sein (Art. 10 und 11). Kriegsgefangene Mannschaften konnten in einem genau definierten Rahmen zur Arbeit eingesetzt werden (Art. 27-34). Disziplinarisch unterlagen alle Gefangenen dem deutschen Militärstrafrecht, wobei sie nicht mit anderen Strafen als den in vergleichbaren Fällen für deutsche Soldaten vorgesehenen belegt werden durften (Art. 45-67). Schließlich war das Kriegsgefangenenlager auch dazu verpflichtet, den brieflichen Kontakt zu den Angehörigen zu ermöglichen (Art. 35-41).

Schon vor dem Überfall auf die Sowjetunion am 22.06.1941 gaben einige Befehle des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) Hitlers Vorstellungen konkrete Form:
  • durch die Einschränkung der Kriegsgerichtsbarkeit gegenüber den Bürgern der Sowjetunion (13.05.1941 ) wurden Straftaten von Zivilpersonen den Kriegsgerichten entzogen; Straftaten von Wehrmachtsangehörigen unterlagen keinem Verfolgungszwang,
  • die Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland vom 04.06.1941 definierten den Bolschewismus als den "Todfeind des nationalsozialistischen deutschen Volkes", dessen Bekämpfung "rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jeden aktiven und passiven Widerstandes" verlange. Die Hemmschwelle für völkerrechtswidriges Verhalten wurde dadurch für die Soldaten ganz offiziell herabgesetzt.
  • der Kommissarbefehl (06.06.1941) verlangte die unmittelbare Beseitigung aller politischen Offiziere, der Kommissare, gleich nach der Gefangennahme.

Im Juli 1941 veranlaßte dann der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, in enger Absprache mit dem 0KW durch die Einsatzbefehle Nr. 8 und Nr., 9, daß Einsatzkommandos der 55 die Kriegsgefangenenlager nach sog. untragbaren Gefangenen - Kommissare, Juden, Intelligenzler, Berufsrevolutionäre, Vertreter von Partei und Staat in der Sowjetunion - durchsuchten, um diese dann in Konzentrationslagern ermorden zu lassen, eine Maßnahme, die bis zum Sommer 1942 wenigstens 40.000 sowjetischen Soldaten das Leben kostete.

Weitere Erlasse regelten die Verhältnisse in den Kriegsgefangenenlagern und die Behandlung der Gefangenen. Die Verpflegung wurde auf ein Minimum herabgesetzt, die Ausstattung der speziell für die sowjetischen Gefangenen neu eingerichteten "Russenlager" auf das unbedingt Notwendige reduziert, bei Fluchtversuchen mußte ohne Warnruf geschossen werden "mit der festen Absicht zu treffen". Dieser "Weltanschauungskrieg" im Deutschen Reich selbst hatte vor allem im Winter 1941/1942 ein Massensterben von Hunderttausenden zur Folge: Fleckfieber, Unterernährung oder allgemeine Körperschwäche waren die Haupttodesursachen bei Männern zwischen 20 und 30 Jahren. Allein im Lager Neuhammer in Niederschlesien starben im November und Dezember 1941 wöchentlich etwa 1.000 Männer, im Lager Bergen-Belsen wurde der 11.000ste Todesfall am 24.01.1942 verzeichnet. Soweit Gefangene in andere Stammlager als die "Russenlager" kamen, gestalteten sich dort die Verhältnisse ähnlich; dort lag die Todesrate ebenfalls um ein Vielfaches über der von Gefangenen anderer Nationen.

Wenn sich auch die Bedingungen seit dem Frühjahr 1942 verbesserten, da die deutsche Wirtschaft auf die Arbeitskraft der Gefangenen angewiesen war, verblieben die gefangenen Rotarmisten am unteren Ende der Werteskala der Kriegsgefangenen. Nach wie vor war ihre Behandlung schlechter, die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft intensiver, die Ernährung mangelhafter und ihre Bestrafung schärfer. Das Leid dieser Männer und wenigen Frauen fand selbst mit der Befreiung kein Ende, denn nach der Rückkehr in die Sowjetunion galten sie als Verräter und waren als ehemalige Gefangene, die nicht bis zum Tod gekämpft hatten, gebrandmarkt für alle Zeit mit konkreten Auswirkungen etwa auf Rentenzahlungen. Erst heute, mehr als 50 Jahre nach Kriegsende, wagen sich die Überlebenden zu artikulieren und auf ihre Geschichte, aber auch ihre daraus resultierende nach wie vor schlechte wirtschaftliche Situation hinzuweisen. Eine Entschädigung steht dieser Gruppe, die wohl am längsten und am meisten unter dem Krieg und seinen Folgen gelitten hat, freilich nicht zu.

Nach dem Krieg hat man die völkerrechtswidrige Behandlung der sowjetischen Soldaten im wesentlichen auf zweierlei Weise zu rechtfertigen gesucht. Zum einen verwies man auf die Vorgaben durch die deutsche Führung, die eine angemessene Behandlung der Gefangenen unmöglich gemacht habe; verschärft worden sei das durch die immense Zahl an Gefangenen, die vor allem 1941 geradezu unaufhörlich ins Deutsche Reich transportiert worden seien. Das ist zweifellos richtig, doch ist die Umsetzung der oben erwähnten Befehle kaum auf Widerstand gestoßen. Maßnahmen, die an einigen Stellen von energischen, verantwortungsbewußten Offizieren zur Abhilfe von Mißständen ergriffen wurden, belegen, daß man auch vor Ort mehr zum Wohl der Kriegsgefangenen hätte unternehmen können und müssen. Zum anderen verwies man immer wieder auf das - unbestreitbare - Leid der deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischem Gewahrsam, durch die das den gefangenen Rotarmisten zugefügte Unrecht wohl als ausgeglichen anzusehen sei. Eine solche Sicht verkennt freilich Ursache und Wirkung. Die deutsche Wehrmacht hat die Sowjetunion überfallen, und der Umgang mit den Gefangenen war durch einen weltanschaulich begründeten Vernichtungswillen oder wenigstens eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal bestimmt. Auf sowjetischer Seite hat es gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen so etwas wie den Kommissarbefehl oder die Einsatzbefehle Nr. 8 und 9, die ein systematisches Heraussuchen und Erschießen von weltanschaulich "untragbaren" sowjetischen Soldaten ermöglichten, zu keiner Zeit gegeben.

Eines der "Russenlager", das Stammlager (Stalag) 326 (VI K) nahe der heutigen Gemeinde Schloß Holte-Stukenbrock in Westfalen, lag auf dem Truppenübungsplatz Senne. Es war eines von vielen Kriegsgefangenenlagern innerhalb des Deutschen Reiches, und die Situation dort ist durchaus als typisch zu bezeichnen; das meiste, das auf den folgenden Seiten geschildert wird, läßt sich ohne weiteres auf andere Lager übertragen. Gewählt wird es, weil die Überlieferung hier verhältnismäßig gut ist:
  • hinsichtlich des Ortes, der seit 1941 durchgehend in verschiedenen Funktionen, zuletzt als Polizeischule, genutzt wird und in seinen Grundzügen erhalten ist;
  • hinsichtlich des sowjetischen Kriegsgefangenenfriedhofes, der als wohl einziger in Deutschland noch heute genaue Aussagen über die dort Beigesetzten zuläßt;
  • hinsichtlich der Quellenlage, die dank langjähriger Forschungsarbeit sowohl im grundsätzlichen Bereich als auch zum Stalag Senne selbst im Vergleich zu anderen Lagern als überaus solide zu bezeichnen ist;
  • hinsichtlich der Überreste, die die Insassen des Lagers bewußt und unbewußt hinterlassen haben und die ein Bild vom Lageralltag vermitteln, wie es von anderen Orten her nicht bekannt ist;
  • schließlich hinsichtlich der dort 1996 entstandenen Dokumentationsstätte, die als bisher zu diesem Themenkomplex einzige in Nordrhein-Westfalen die Erinnerung an das Geschehene wachzuhalten und mit ihrer umfangreichen Sammlung für die pädagogische wie wissenschaftliche Arbeit zu nutzen sucht.

Bedingt durch den sowjetischen Friedhof in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Lagergeländes stand bisher sowohl in der Tradition vor Ort als auch in der Forschung das Schicksal der Rotarmisten im Vordergrund. Zu wenig Berücksichtigung fanden die Kriegsgefangenen anderer Nationen, die seit Mitte 1942 ebenfalls dem Lager zugeordnet waren, und die, wie etwa die italienischen Militärinternierten, so viele Opfer zu beklagen hatten, daß ein eigener Italienerfriedhof eingerichtet werden mußte. Zu diesem Themenkomplex ist z.Zt. noch zu wenig bekannt, als daß es Eingang in das vorliegende Heft hätte finden können. Ebenfalls zu wenig bekannt sind die Ereignisse, die die Jahre nach der Befreiung am 02.04.1945 betreffen, als das ehemalige Stalag 326 (Vl. K) in ein Lager für deutsche Kriegsgefangene und später (1946) in ein Internierungslager umgewandelt wurde, in dem wenigstens zeitweise ebenfalls Zustände herrschten, die sich den Überlebenden unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt haben. Ab 1948 diente es als Flüchtlingslager und Sozialwerk, seit 1970 hat hier das Landespolizei-Ausbildungs-Institut "Erich Klausener" seinen Sitz.

Außerhalb der Darstellung bleibt schließlich die Diskussion um die Zahl der Opfer. Von den Quellen her spricht inzwischen vieles gegen die überlieferte Zahl von 65.000 Umgekommenen. Der Name "Stukenbrock" besitzt jedoch gerade wegen dieser Überlieferung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion einen ähnlichen Klang wie "Auschwitz" für die Juden; und deshalb bedarf jede neue Zahl einer politischen Absicherung von russischer wie von deutscher Seite. Die in Aussicht gestellte umfassende Erschließung der Bestände der ehemaligen Wehrmachtsauskunftstelle im Archiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation in Podolsk nahe Moskau dürfte eine endgültige Feststellung zu dieser Frage sowohl für Stukenbrock als auch für sämtliche anderen sowjetischen Soldatenfriedhöfe in Deutschland ermöglichen. Betroffenheit und Nachdenklichkeit stellen sich, unabhängig von jeder Zahl, beim Besuch des Friedhofes spätestens dann von selbst ein, wenn man sieht, wie viele Männer hier bestattet sind, die eigentlich noch den größten Teil ihres Lebens vor sich hatten.




Westfalen im Bild, Reihe: Dokumente zur Zeitgeschichte, Heft 11