"Westfalen im Bild" - Texte

Santel, Josef
Nachkriegsjahre: Münster 1945-1949
Münster, 1993



Einleitung

Im Frühjahr 1940 hatte Adolf Hitler erwogen, Münster als den Ort in Betracht zu ziehen, wo nach dem siegreichen Ende des Zweiten Weltkrieges der Friedensvertrag unterzeichnet werden sollte. Er beabsichtigte, an dem Ort, an dem Frankreich 1648 Deutschland den Frieden "diktiert" hatte, 300 Jahre später umgekehrt Europa den Frieden zu diktieren.

Die beabsichtigte Umkehrung der Geschichte endete für Münster wie für viele andere deutsche Städte in einer Katastrophe.

Erich Kästner hatte in diesem Zusammenhang zutreffend am 27.02.1945 in sein Tagebuch eingetragen: "Das Dritte Reich bringt sich um, doch die Leiche heißt Deutschland." [1]

Dieser Zustand wurde den Betrachtern nirgends so deutlich wie in den deutschen Städten. Hier fiel das Ausmaß der Kriegszerstörungen am stärksten ins Auge. Natürlich waren im Verlauf der Kampfhandlungen auch ganze Landstriche verwüstet worden; die eigentliche Kriegszerstörung hatte jedoch durch unzählige Bombenangriffe in den Städten stattgefunden. Zusammengebrochen waren aber nicht nur Häuser und Städte; der vom Deutschen Reich 1939 entfesselte Krieg hatte auch den deutschen Nationalstaat zerstört. Die Alliierten Siegermächte übten nun die Staatsgewalt auf deutschem Boden aus und teilten das Land in vier Besatzungszonen auf. Die östlichen Gebiete Deutschlands bis zur Oder-Neiße-Linie wurden abgetrennt und von Stalin zunächst eigenmächtig, schließlich auch mit Billigung der Westmächte, unter sowjetische bzw. polnische Verwaltung gestellt.

Niederlage, Zerstörung, Teilung und militärische Besetzung bedeuteten für die deutsche Bevölkerung aber auch das Ende der Luftangriffe und die Befreiung vom nationalsozialistischen Regime. Oder wie es Thomas Mann am 10.05.1945 in einem Radiointerview formulierte: "Ich sage: es ist trotz allem eine große Stunde, die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit...". [2] In dieser konkreten Form ist das Ende des Dritten Reiches sicher nur von einer Minderheit der deutschen Bevölkerung verstanden worden, doch sollte gerade der Begriff "Befreiung" im Urteil über das Jahr 1945 nicht fehlen; vor allem, um den Empfindungen von vielen KZ-Insassen, Zwangsarbeitern, politischen Häftlingen, Widerstandskämpfern und ausländischen Kriegsgefangenen gerecht zu werden. Erst die Addition der Komponenten Zerstörung und Besatzung einerseits und Befreiung andererseits vermag daher die Ausgangsposition der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg treffend wiederzugeben. [3]

Die Beschreibung der allgemeinen Situation nach der bedingungslosen Kapitulation am 08.05.1945 hat man häufig auf die vielzitierte Formel von der "Stunde Null" gebracht. Sie beinhaltet sowohl die Vorstellung vom totalen Zusammenbruch als auch die Hoffnung auf einen damit verbundenen völligen Neuanfang. Darüber, daß es kein völliger Neubeginn war, sondern daß viele politische und gesellschaftliche Kontinuitätslinien bald wieder wirksam wurden, besteht heute gemeinhin Einvernehmen. Der Begriff von der "Stunde Null" behält jedoch als Metapher für die diffuse Stimmungslage dieser Zeit seine Berechtigung.

In Anbetracht der materiellen und emotionalen Ausgangslage ist es aus heutiger Sicht beeindruckend, wie schnell und mit welcher Intensität der Wiederaufbau der deutschen Städte von 1945 bis 1949 vollzogen wurde. Nach dem gewaltsam erzwungenen Ende der Hitlerdiktatur wagten viele Deutsche zunächst nur sehr verhalten erste Schritte in ein neues Leben zu setzen und versanken vielerorts in Apathie. Um so erstaunlicher, wie schnell sich, im wesentlichen schon in den Jahren 1945 bis 1949, diese Lähmung des Anfangs in die Dynamik eines unvergleichlichen Aufstiegs - nicht nur wirtschaftlich - gewandelt hat. [4] Vor allem auf den Schutthalden der Städte wurden die riesigen Probleme und Aufgaben mit Vehemenz und einem nach vorn gerichteten Blick in Angriff genommen. Mit dem Aufstieg ist zu beobachten, wie die Bevölkerung schon in den Jahren bis zur Währungsreform die Akzente ihrer Alltagsgestaltung weg vom öffentlichen Leben hin zu einer fast ausschließlichen Vorsorge für das private Leben verlagerte. Dieser Rückzug ins Private gipfelte in einem starken Drang nach Restauration und konservativer Daseinsordnung, Werte, die das Erscheinungsbild der Deutschen in den 50er Jahren so markant bestimmen sollten.

Parallel zu dieser Haltung war in der Nachkriegszeit eine allgemeine Politikverdrossenheit zu beobachten. Sie stellte wohl in erster Linie eine Konsequenz der von den Nationalsozialisten betriebenen Prioritätensetzung von Großorganisationen in Staat und Gesellschaft dar, der man nun abschwor. Natürlich hat aber auch die politische Wirklichkeit der Nachkriegsjahre selbst verstärkt auf die wachsende Lethargie in der Politik eingewirkt. Der sich früh abzeichnende und bis 1948 entschiedene Verlust der deutschen Einheit spielte dabei eine ebenso lähmende Rolle wie die bei allem Bemühen erkennbare Machtlosigkeit der ersten deutschen Ministerpräsidenten, die sich als Handlungsträger der ersten Stunde vergeblich gegen die Teilung Deutschlands zur Wehr setzten.

Im eigentlichen Interesse der Bevölkerung und vor allem in dem der Bewohner der Städte, standen nach Kriegsende die außerordentlichen Belastungen des Alltags. Die Bewältigung von Nahrungsmangel, fehlendem Wohnraum, zerstörten Wasser-, Strom- und Gasanschlüssen und die Arbeitslosigkeit nahmen den Einzelnen voll in Anspruch und ließen überregionale und nationale Probleme der Politik vorerst sekundär erscheinen. Vervielfacht wurde die alltägliche Not durch die Unterbringung der Flüchtlinge aus dem Osten und durch die "Displaced Persons" (DP's), die Angehörigen fremder Nationalitätengruppen, die freiwillig oder zwangsweise im nationalsozialistischen Deutschland gearbeitet hatten und jetzt, oft aus politischen Gründen, nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten. Die DP's hatten mit dem Kriegsende ihre Freiheit wiedererlangt. In Münster lebten 1945 nahezu 5.000 von ihnen in Lagern am Hohen Heckenweg und in Mecklenbeck. Diese Menschen, gezwungenermaßen noch in dem Land wohnend, dessen Einwohner über Jahre ihre Unterdrücker waren, bildeten bis zu ihrem Heimtransport ein permanentes Unruheelement. Es kam zu zahlreichen kleineren Delikten, aber auch zu Vergewaltigung und Mord. Daß die englische Besatzungsmacht zunächst nur verhalten auf kriminelle DP's reagierte, führte schon bald zu heftigen Auseinandersetzungen, in die sich vor allem der Bischof von Münster, Graf von Galen, einmischte. [5]

Auch in Münster hatte der Krieg für das Leben der noch in der Stadt verbliebenen Bevölkerung nachhaltige Spuren hinterlassen. Die Nachkriegszeit begann hier mit der Besetzung der Alliierten am 02.04.1945 allerdings fünf Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Als an diesem Ostersonntag britische und amerikanische Panzertruppen und Fallschirmjäger in die Stadt einrückten, bot sich ihnen der Anblick einer völlig zerstörten Stadt. Die Stadt hatte 1.128 Luftalarme von 1.532 Stunden Dauer hinter sich und allein durch Bombeneinwirkung 1.594 Tote zu beklagen. [6] Unter diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, daß das Leben zu diesem Zeitpunkt in Münster nahezu unmöglich geworden war und von 143.000 Einwohnern des Jahres 1939 nur noch 25.000 in den Trümmern der Stadt hausten, zumal nur 1.050 Wohnungen, das sind 3% des Bestandes von 1939, unversehrt geblieben waren. [7]

Nach Kriegsende setzte in Münster eine spontane und durch behördliche Regelung nicht zu hemmende Rückwanderung ein. So lebten schon am Ende des Jahres 1945 wieder 76.000 Menschen in der Stadt.

Die Bildserie will den Nachkriegsalltag der Bevölkerung Deutschlands am Beispiel der Stadt Münster dokumentieren und soll ein möglichst anschauliches und lebensnahes Bild des Überlebens nach dem Krieg zeichnen. Die alltägliche Not und deren Bewältigung in einer zerstörten Stadt mit Flüchtlingselend und Notunterkünften wird dabei ebenso Berücksichtigung finden wie die Rolle von britischer Besatzungsmacht und katholischer Kirche. Der enorme Überlebens- und Aufbauwille, von dem Wunsch begleitet, Normalität wiederherzustellen, bildet thematisch den Abschluß der Serie.

Das zeitliche Ende der Betrachtung, das Jahr 1949, ist das Jahr der Gründung von BRD und DDR. Für Münster ist dieses Jahr im Rahmen der Nachkriegszeit insofern von Bedeutung, da in diesem Jahr die erste Phase der Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten der Stadt abgeschlossen werden konnte.


[1] Overesch, M., Zeitenwende, Hannover 1986, S. 7.
[2] Glaser, H., Pufendorf, L. v., Schöneich, M. (Hrsg.): So viel Anfang war nie, Berlin 1989, S. 10.
[3] Kleßmann, Ch., Die doppelte Staatsgründung, Darmstadt 1986, S. 37.
[4] Overesch, M., u.a., Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, Hannover 1989, S. 9ff.
[5] Kuropka, J.; 1945/1946 Ende und Neubeginn, in: Geschichte original - am Beispiel der Stadt Münster 15, S. 8.
[6] ders.; a.a.O., S. 1.
[7] Baumeister, 49. Jg., H. 4 (1952), S. 224.




Westfalen im Bild, Reihe: Dokumente zur Zeitgeschichte, Heft 8