"Westfalen im Bild" - Texte

Roerkohl, Anne
Der Erste Weltkrieg in Westfalen
Lebensmittelmangel und Hunger an der "Heimatfront"
Münster, 1987



Einleitung

29.07.1914 
"Rußland macht mobil! Ganz Dortmund ist in Aufregung; 's gibt Krieg!... In der Stadt eine ungeheure, erregte Menschenmenge, die besorgt die ausgehängten Telegramme umlagerte. Tausende und Abertausende wogen hin und her durch die Straßen, bis tief in die Nacht hinein." 
30.07.1914 
"Die furchtbare Stimmung hält auch am Donnerstag an." 
31.07.1914 
"Da bringt am Freitag nachmittag der Telegraph die Lösung der Spannung: Deutschland ist in den Kriegszustand versetzt." 
01.08.1914 
"Die ganze Nacht hindurch dauert die Kriegserregung an.... Jede neue Depesche wird am Westenhellweg durch Scheinwerfer auf einem Transparent kundgetan und mit vaterländischen Liedern und Hurra begrüßt.... Die Spannung ist unerträglich. Da endlich um 6 Uhr trifft die Nachricht von der allgemeinen Mobilmachung ein. Es geht wie ein Aufatmen durch die Bevölkerung hindurch." 
02.08.1914 
In der ganzen Stadt große Militärlager, in denen die Reservisten sich stellen und nach der Untersuchung in Trupps zum Bahnhof geführt werden. Und dabei weich eine Einigkeit und nationale Begeisterung.... Klare Entschlossenheit heiterer Mut und fester Wille zum Sieg glänzt aus allen Augen." 
03.08.1914 
"In der Nacht zum Montag zogen die Einberufenen fortgesetzt singend vorbei... Und so gings all die fünf Mobilmachungstage hindurch, an denen die Einberufenen... unter Vormarsch einer Musikkapelle zu den Gestellungslokalen zogen..." 
04.08.1914 
"Welch freudigen Widerhall fand auch hier die ewig denkwürdige Reichstagssitzung vom 4. August die des Kaisers Wort in die Tat umsetzte. Ich kenne keine Partei mehr, ich kenne nur noch Deutsche." 
05.08.1914 
"Der vom Kaiser angeordnete allgemeine Kriegs-, Buß- und Bettag füllt die Kirchen der Stadt..." 
06.08.1914 
"Der letzte Mobilmachungstag geht zu Ende. Wieviel Abschiedsschmerz und Trennungsweh haben diese fünf Tage auch unserer Stadt gebracht." [1] 


Dieser Situationsbericht während der Mobilmachung im Sommer 1914 ist ein Beispiel, mit welcher patriotischen Begeisterung viele Deutsche den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begrüßten. Wie in Dortmund, der bevölkerungsreichsten Stadt der Provinz, zogen auch in anderen westfälischen Städten die Menschen in einen Krieg, dessen spätere Dimensionen für alle Beteiligten außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens standen. Seine Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, die sogenannte "Heimatfront", machten sich zuerst in der Verknappung der zur Verfügung stehenden Lebensmittel bemerkbar; später waren auch Brennmaterial, Kleidung und andere lebensnotwendige Güter immer seltener in ausreichendem Maße zu bekommen. Wo die Wirtschaft einer ganzen Nation auf die Erfordernisse eines Krieges umgestellt wurde, mußten zuerst die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung zurücktreten.

Der Kriegsausbruch am 04.08.1914 traf sonders die größeren Städte der Provinz Westfalen hinsichtlich der Nahrungsmittelversorgung völlig unvorbereitet. Der Optimismus in den verantwortlichen Reichsministerien über die zu erwartende kurze Kriegsdauer verhinderte vorbeugende Versorgungsmaßnahmen, obgleich man dort mit einer Blockade gerechnet hatte. Hinzu kam, daß die Effizienz einer solchen Blockade unterschätzt wurde. Bereits im zweiten Kriegsjahr war der Einfluß Englands auf die neutralen Staaten Holland, Dänemark und Schweden, die als hauptsächliche Handelspartner für die Mittelmächte Deutschland und Österreich in Frage kamen, so stark, daß die Einfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus diesen Ländern drastisch zurückging.

Als nach der Marne-Schlacht im September 1914 der Vormarsch der deutschen Truppen zum Erliegen kam und in einen Stellungskrieg einmündete, setzte in den deutschen Regierungskreisen hinsichtlich der Lebensmittelversorgung der Zivilbevölkerung allmählich ein Umdenken ein. Die ersten wirksamen staatlichen Maßnahmen erfolgten im Februar 1915 mit der Zwangsbewirtschaftung des Brotgetreides. Dies bedeutete den Beginn des "Kriegssozialismus", was einer "Durchstaatlichung" des bis dahin liberalen Wirtschaftssystems gleichkam. Da jedoch ein Gesamtkonzept fehlte, vollzog sich der Aufbau der Kriegswirtschaft im Bereich der Nahrungsmittelversorgung nur zögernd und willkürlich. Viele Maßnahmen kamen zu spät und nicht selten scheiterte ihre wirksame Durchführung an einer schwerfällig arbeitenden und immer aufgeblähter werdenden Bürokratie, die sich zwischen den Reichsministerien und der untersten Verwaltungsebene, den Städten und Landkreisen, bildete. So wurden in Westfalen während des Krieges besondere Landeszentralbehörden gegründet z.B. die Provinzialkartoffelstelle in Münster, die nach dem Plan der Reichsstellen die Organisation der Nahrungsmittelversorgung auf Provinzebene vornahmen. Ihnen war ein Netz von Suborganisationen bis hinunter auf städtische Ebene angegliedert Erst mit der Gründung des Kriegsernährungsamtes im Frühjahr 1916, einer Zentralstelle für alle Ernährungsfragen, wurde das Nebeneinander der vielen Einzelorganisationen beendet und die Nahrungsmittelbewirtschaftung auf eine Behörde konzentriert. Die Landkreise verfügten meist über landwirtschaftliche Produktionsgebiete, die den Bedarf der eigenen Bevölkerung deckten. Hierdurch war ein hoher Selbstversorgeranteil gegeben, und die zentrale Aufgabe bestand in der Erfassung und Ablieferung der über den eigenen Bedarf hinausgehenden Agrarerzeugnisse. Die Stadtverwaltungen der kreisfreien Städte hingegen, deren Bevölkerung sich fast ausschließlich aus Konsumenten zusammensetzte, hatten die schwierige und undankbare Aufgabe, die im Laufe des Krieges immer knapper werdenden Nahrungsmittel möglichst gerecht zu verteilen.

[1] Fr. Spieker: Aus einem Dortmunder Kriegstagebuch. Selbsterlebtes während der ersten Monate des großen Krieges 1914 von Pfarrer Fr. Spieker, in: Jahrbuch für die evangelischen Gemeinden von Dortmund 1914, Dortmund 1914, S. 47-51.


1. Die Agrarproduktion als Grundlage einer gesicherten Nahrungsmittelversorgung

Das völlige Fehlen vorbeugender wirtschaftlicher Maßnahmen für den Kriegsfall ist gerade vor dem Hintergrund einer wachsenden Importabhängigkeit an lebensnotwendigen Agrarprodukten seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts schwer verständlich. So konnten in Friedenszeiten im Deutschen Reich zwar ungefähr 90% des Getreidebedarfs und der gesamte Verbrauch an Kartoffeln und Rüben im Inland gedeckt werden, jedoch mußte über die Hälfte der milchwirtschaftlichen Erzeugnisse, 35% der Eier und der überwiegende Teil an Pflanzenfetten aus dem Ausland eingeführt werden. Hinzu kam eine hohe Importrate bei Kraftfutter- und Düngemitteln, die das Leistungsniveau der deutschen Landwirtschaft sicherstellte und deren Verlust einer notwendigen Produktionssteigerung im Kriege enge Grenzen setzen sollte. Das Abschneiden vom Weltmarkt bedeutete für das Deutsche Reich einen Rückfall in die staatliche Eigenwirtschaft, und die Intensivierung der eigenen landwirtschaftlichen Erzeugung wurde zu einer Frage des Überlebens.


Die Verteilung der Brotgetreide- und Kartoffelanbauflächen
Die Verteilung der Brotgetreide- und Kartoffelanbauflächen


Die landwirtschaftliche Struktur der Provinz Westfalen wird in der Karte auf Seite 9 sichtbar Dem Ruhrgebiet und den sich unmittelbar anschließenden Gebieten stehen stark agrarorientierte Regionen gegenüber mit Schwerpunkten im Münsterland sowie im Osten und Nordosten der Provinz. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts reichte die örtliche Nahversorgung für die Bevölkerung im industriellen Ballungsraum an der Ruhr nicht mehr aus, so daß das Ruhrgebiet abhängig wurde von Agrarimporten. Kartoffeln lieferten zum überwiegenden Teil das Nachbarland Holland und die preußischen Ostprovinzen; Brotgetreide, vor allem Weizen, wurde aus Amerika und Südrußland importiert. Demgegenüber konnte die Versorgung der größeren Städte im übrigen Westfalen, wie Münster, Bielefeld, Herford und die märkischen Städte Iserlohn und Lüdenscheid, zumeist durch die umliegende Landwirtschaft gesichert werden. Der Ausfall der traditionellen Versorgungswege nach Kriegsausbruch stellte die deutsche Agrarwirtschaft vor das Problem, eine ausreichende Ernährung der Bevölkerung besonders in den Großstädten und Industriezentren zu garantieren. Die Nahrungsmittelbelieferung des Ruhrgebiets mußte nun allein durch die Agrarüberschußprovinzen im Osten des Reiches erfolgen. Jedoch zeigte sich im Verlauf des Krieges immer deutlicher, daß die Erzeugnisse der deutschen Landwirtschaft zur Versorgung der eigenen Bevölkerung nicht ausreichten. Durch den Mangel an Futtermitteln und Düngestoffen, das Fehlen notwendiger Arbeitskräfte und durch weitere kriegsbedingte Einschränkungen sank das Produktionsniveau erheblich. So fielen in Westfalen bei allen Feldfrüchten die Hektarerträge (Bild 1  Medien). Der stärkste Rückgang war hier bei der Kartoffel um fast 50% zu verzeichnen; aber auch bei Roggen und Weizen reduzierten sich die Ertragsmengen um fast ein Drittel. Dies bedeutete für die städtischen Verbraucher, daß die ausgegebenen Rationen im gleichen Maße wie die Erträge der Kriegsernten sanken. Neben den Feldfrüchten gingen auch die Viehbestände zurück. Da die Landwirte aus Mangel an Futtermitteln trotz strenger Verbote weiterhin Kartoffeln und Brotgetreide verfütterten, verordnete man von staatlicher Seite im Frühjahr 1915 eine drastische Abschlachtung der Schweinebestände. Es kam zum berühmt-berüchtigten "Schweinemord", der verheerende Folgen für die Fleisch- und Fettversorgung der folgenden Kriegsjahre haben sollte. In Westfalen sanken die Schweinebestände während dieser Periode um ein Drittel.

Eine Intensivierung und Ausdehnung der landwirtschaftlichen Produktion sollte zuerst durch die Kultivierung von Ödland und sonstiger brachliegender Flächen erreicht werden. Darüber hinaus wurde der Versuch unternommen, neue Arten von Feldfrüchten, wie z.B. Raps und Mohn anzubauen, um hierdurch dem Mangel an pflanzlichen Ölen zu begegnen. Eine Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzfläche war allerdings nur im ersten Kriegsjahr möglich. Danach sank, bedingt durch den Ausfall notwendiger Düngemittel und das Fehlen von Arbeitskräften, der Anteil der bewirtschafteten Ländereien ebenso wie die gewonnenen Ernteerträge. Einzelne westfälische Städte versuchten in ihrem Stadtgebiet verstärkt Gemüseanbau zu betreiben. In Münster wurde so das Gebiet der Rieselfelder bewirtschaftet. Als Arbeitskräfte boten sich arbeitslose Frauen und ältere Schüler an. Andere Städte, wie z.B. Dortmund, erweiterten die kommunale Viehhaltung, um hierdurch wenigstens eine gesicherte Milchbelieferung an schwangere Frauen und Kleinkinder sicherstellen zu können.

Besonders der Fettmangel bildete im Laufe des Krieges ein immer gravierender werdendes Problem. Aus diesem Grund setzte eine rege Sammeltätigkeit der Schulkinder ein. Obstkerne, Bucheckern und andere ölhaltige Waldfrüchte wurden zur Öl- und Fettgewinnung benötigt (Bild 2  Medien). Jedoch hatten diese Aktionen nur wenig Erfolg, es war in Anbetracht der gewaltigen Knappheit nicht mehr als ein "Tropfen auf den heißen Stein". In den letzten Kriegsjahren konnte an die städtische Bevölkerung oft kaum eine Fettration von 50 g wöchentlich ausgegeben werden, und dies bei einem Friedensverbrauch von über 200 g.

Die gezeigten Versuche einer Intensivierung der landwirtschaftlichen Erzeugung verliefen auf freiwilliger Basis. Ein Produktions- oder Anbauzwang unterblieb, da die staatliche Ernährungswirtschaft keine Möglichkeit hatte, durch gezielte Maßnahmen in den Agrarsektor einzugreifen. Bei der Gründung des Kriegsernährungsamtes war der gesamte landwirtschaftliche Bereich ausgeklammert worden und blieb der Kompetenz der Heeresleitung und der regionalen Landwirtschaftskammern - für Westfalen die Kammer in Münster - unterstellt. Dies unterstreicht die Monopolstellung der Landwirtschaft, wodurch sich auch der traditionelle Stadt-Land-Gegensatz wieder verstärken sollte. Da man schlecht "unter jede Kuh einen Gendarmen" setzen konnte, bestanden für die zuständigen Verwaltungsbehörden kaum wirksame Kontrollmöglichkeiten über die vorhandenen Produktionsmengen. Dies betraf vor allem die Schweinebestände. Schweinefleisch entwickelte sich zum begehrtesten Artikel des Schwarzen Marktes. Die Einhaltung der festgesetzten Ablieferungskontingente sollte allein durch Preisanreize erreicht werden. Die Nahrungsmittelrationen der ländlichen Selbstversorger lagen während des gesamten Krieges über denen der "versorgungsberechtigten" Bevölkerung. Gleichzeitig war ihre Versorgung besser abgesichert, da die von ihnen benötigten Lebensmittel sofort von den Lieferungsmengen abgezogen werden konnten, während die städtischen Verbraucher völlig von der unregelmäßigen zentralen Zuteilung abhängig waren.

Der Sommer 1916 bildete den Wendepunkt innerhalb des Kriegsernährungssystems. Obwohl bis zu diesem Zeitpunkt fast alle wichtigen Nahrungsmittel zentral durch staatliche Stellen bewirtschaftet wurden - auf den städtischen Märkten gab es als "freie" Waren fast nur noch Obst und Gemüse zu kaufen - konnte insgesamt ein Rückgang des Versorgungsniveaus nicht verhindert werden.

Im Herbst 1916 setzte das sogenannte "Hindenburgprogramm" ein, durch das eine gewaltige Steigerung der Rüstungsproduktion, deren Hauptstandort das rheinisch-westfälische Industriegebiet bildete, erreicht werden sollte. Dies hatte auch Auswirkungen auf den Ernährungssektor, denn eine Steigerung der Kriegsproduktion war nur möglich, wenn es gelang, die Rüstungsarbeiter trotz der schlechten Versorgungslage ausreichend zu ernähren. Die in der Rüstungsindustrie Beschäftigten erhielten auf Grund ihrer erhöhten Arbeitsleistung Zulagen in Form von Nahrungsmittelsonderrationen. Um sie gewährleisten zu können, wandten sich die Regierung und führende Militärangehörige in immer neuen Appellen an die ländlichen Erzeuger, ihrer vaterländischen Pflicht ebenso nachzukommen wie die Soldaten an der Front und die Arbeiter in den Munitionsfabriken und Bergwerken (Bild 3  Medien). In einem Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst wurde die Landwirtschaft offiziell zum kriegswichtigen Sektor erklärt.

Aber auch die wiederholten Aufrufe und Mahnungen an das Verantwortungsgefühl der Landwirte konnten die Hungersnot im "Kohlrübenwinter" 1916/17 nicht verhindern. Die Ursache für diese Versorgungskrise lag in der durch Krankheitsbefall verringerten Kartoffelernte. In Westfalen sanken die Ernteerträge von 17.000 auf 6.000 t, so daß immer mehr Menschen in dieser Region auf die Lieferungen aus den Ostprovinzen angewiesen waren. Bedingt durch die Witterungsverhältnisse - der Winter 1916/17 war der kälteste während des ganzen Krieges - waren die Transportmöglichkeiten durch die Bahn stark eingeschränkt, so daß die Bevölkerung des Ruhrgebiets und weiterer Städte Westfalens wochenlang ohne Kartoffeln auskommen mußte. Als Ersatz wurden die berüchtigten Kohlrüben verteilt. Auch in den folgenden beiden Kriegsjahren war allgemein ein Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion festzustellen. Mit ihr sank auch in gleichem Maße das Versorgungsniveau in den Städten.


2. Die Kriegswirtschaft und ihre Folgen für die städtische Versorgung

Parallel zur militärischen Mobilmachung erfolgten Ende Juli, Anfang August 1914 in großem Umfang Lebensmitteleinkäufe der Reichs- und Militärbehörden. Auch größere Kommunalverwaltungen versuchten sich mit den nötigen Nahrungsmitteln einzudecken. Dabei standen die noch vorhandenen Auslandswaren, wie Reis und Weizen, im Mittelpunkt des Interesses. Hauptumschlagplätze waren die Häfen in Rotterdam, Duisburg und Bremen. Zusätzlich überschwemmten verschiedene Einkäufer die ländlichen Regionen Westfalens, um die eingebrachte Getreideernte aufzukaufen.

Da die Bahn in den ersten Augustwochen fast ausschließlich zu militärischen Zwecken benutzt wurde, kam es im Bereich der zivilen Versorgung zu Schwierigkeiten, die in erster Linie die größeren Städte des Industriebezirks trafen. Sie waren von jeher auf eine tägliche Nahrungsmittelzufuhr angewiesen. Diese versuchten nun ihrerseits verstärkt Vorräte anzulegen, um gegen eventuelle Versorgungsengpässe gewappnet zu sein. Der verstärkte Bedarf kommunaler und militärischer Stellen führte vielerorts zu Preisspekulationen (Bild 4  Medien). Die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage verursachte eine zunehmende Teuerung auf dem gesamten Nahrungsmittelsektor.

In den Städten selbst setzten noch während der Mobilmachungsphase Panik-Hortungskäufe der privaten Verbraucher ein. Gekauft wurde alles, was sich irgendwie für längere Zeit lagern ließ: Reis, Hülsenfrüchte, Kaffee, Konserven u.ä. Die Folge war auch hier ein rasches Ansteigen der Kleinhandelspreise, das nur vorübergehend durch Höchstpreisfestsetzungen der örtlichen Behörden eingedämmt werden konnte. Nachdem aber die anfänglichen Transportschwierigkeiten überwunden waren, verloren diese lokalen Preisnormierungen ihren Sinn. Die Waren verschwanden vom Markt und tauchten in jenen Städten wieder auf, in denen die Preise am höchsten festgesetzt waren. Das Ruhrgebiet war zu diesem Zeitpunkt im Vergleich zu den anderen westfälischen Städten insofern benachteiligt, als hier im Interesse der Verbraucher niedrige Preise angeordnet waren.

Immer lauter wurden die Forderungen n der Öffentlichkeit nach einheitlichen Preisfestsetzungen für das ganze Reich. Anfang November 1914 erfolgten erste zentrale Höchstpreise für Brotgetreide. Bis Ende 1915 waren fast alle Nahrungsmittel in das staatliche Preissystem einbezogen. Trotzdem konnte die wachsende Teuerung, die mittlerweile sämtliche lebenswichtige Güter erfaßt hatte, hierdurch nicht aufgehalten werden (Bild 5  Medien).

Durch Preisfestsetzungen allein, ohne eine Bewirtschaftung des jeweiligen Lebensmittels, war eine ausreichende Versorgung aller Bevölkerungskreise über einen längeren Zeitraum kaum aufrechtzuerhalten. Die Kritik an den unzureichenden Regierungsmaßnahmen stieg, und immer vehementer wurde von den Kommunen und den Verbraucherorganisationen eine Beschlagnahme der Agrarerzeugnisse und eine zentrale Zuteilung gefordert. Die ersten staatlichen Eingriffe betrafen die Brotversorgung.

Bereits im Oktober 1914 hatte man versucht die Getreidevorräte zu strecken, indem die Mühlen verpflichtet wurden, das Korn stärker auszumahlen, um so die absolute Mehlmenge zu vergrößern. Gleichzeitig durfte in den Bäckereien nur noch Weizenbrot mit einem bestimmten Anteil an Roggenmehl hergestellt werden. Ebenso bestand die Pflicht Kartoffeln bzw. Kartoffelprodukte zu einem bestimmten Teil mit zu verbacken und das Brot mit dem Buchstaben "K" zu kennzeichnen. So entstand das berühmte K-Brot das sowohl "Kartoffelbrot" als auch patriotisch "Kriegsbrot" genannt wurde. Diese neuen Backvorschriften bedeuteten einen tiefen Einschnitt in die bestehenden Konsumgewohnheiten. Durch die erhöhten Ausmahlvorschriften war die Qualität des Brotes stark herabgesetzt. Es dauerte einige Zeit bis das Publikum auf das beliebte Weißbrot verzichtete und, durch "vaterländische" Appelle unterstützt, das neue K-Brot akzeptierte.

Die Bewirtschaftung des Brotgetreides Ende Januar 1915 legte die Grundlage für die gesamte deutsche Kriegsernährungswirtschaft. Die vorhandenen Getreidemengen wurden am 01.02.1915 für die errichtete Kriegsgetreidegesellschaft beschlagnahmt und nach Abzug des Selbstversorgeranteils mußten die Produktionsgebiete die Überschüsse abliefern. Dies waren in Westfalen vor allem die Landkreise Münster, Soest Herford, Minden und Warendorf. Die Reichsgetreidegesellschaft setzte zentral den Bedarfsanteil der einzelnen Kommunalverbände fest, der nun überwiesen wurde. Nur die Städte Hamm und Herford bildeten in den ersten Kriegsjahren mit ihrem Landkreis einen Kommunalverband. Die übrigen kreisfreien Städte regelten ihre Versorgung selbständig. Die Brotversorgung galt lange Zeit als das Paradebeispiel deutscher Kriegswirtschaft Bei den übrigen Nahrungsmitteln mußten die Verbraucher noch über ein Jahr warten, bis auch diese in die öffentliche Bewirtschaftung einbezogen wurden.

Das anfängliche Zögern der Reichsregierung, die Zwangswirtschaft auf andere Waren auszudehnen, stellte auch die westfälischen Städte vor die Notwendigkeit die Versorgung ihrer Bevölkerung selbst in die Hand zu nehmen. Dabei entwickelte sich eine ausreichende Kartoffelzuteilung zum größten Problem. Bereits im ersten Kriegswinter kam es im Ruhrgebiet lokal zu Verknappungen. Aus diesem Grund richteten einzelne Kommunen Verkaufsstellen ein, die neben den weiterbestehenden Lebensmittelgeschäften besonders die Versorgung der Minderbemittelten übernahmen. Durch städtische Zuschüsse konnten die Preise zunächst niedrig gehalten und weitere Teuerungen wenigstens zum Teil vermieden werden.

Eine zusätzliche Aufgabe der städtischen Verkaufsstellen bestand in dem Weiterverkauf von Auslandswaren. Trotz der Blockade kamen immer noch vereinzelt Waren aus den neutralen Nachbarländern über die deutschen Grenzen. Diese wurden von der Zentralstelle in Berlin, der "Zentral-Einkaufs-Gesellschaft", beschlagnahmt und von dort nach bestimmten Verteilungsschlüsseln, an die einzelnen Provinzen und Bundesstaaten abgegeben. Seit Februar 1916 übernahm die Westfälische Lebensmittelversorgungsgesellschaft in Dortmund die weitere Unterverteilung an die Städte der Provinz.

Der freie Markt- und Handelsverkehr schränkte sich ein, je mehr die Städte selbst ihre kaufmännischen Aktivitäten ausdehnten. Besonders nach dem Ausbau der zentralen Bewirtschaftung im Frühjahr 1916 reduzierte sich der Aufgabenbereich der Kaufleute und Lebensmittelgeschäfte soweit, daß sie nur noch in städtischem Auftrag den Weiterverkauf von Waren vornehmen durften.

Die sich zuspitzende Versorgungslage, die Fehlschläge in der Preispolitik und die ungenügenden Verbrauchseinschränkungen in den Überschußgebieten erzwangen einen immer weiteren Ausbau des Kriegswirtschaftssystems. Nach dem Beispiel der Brotbewirtschaftung wurde u.a. die Versorgung von Fleisch (03.1916), Zucker (April 1916), Kartoffeln (05.1916) und Fett (07.1916) zentral geregelt und in Westfalen für die einzelnen Nahrungsmittelbereiche Provinziellstellen errichtet, die vornehmlich ihren Sitz in Münster hatten. Mit der Gründung des Kriegsernährungsamtes im Mai 1916 schuf man eine Zentralinstanz, mit der das Nebeneinander der einzelnen Reichsstellen beendet und eine Vereinheitlichung der immer komplizierter werdenden Versorgungsmaßnahmen erreicht werden sollte. Daneben wurde für Preußen im Februar 1917 ein "Preußischer Staatskommissar für Ernährung" eingesetzt.

Seit der Einführung der Zwangswirtschaft begleiteten Lebensmittelkarten den täglichen Einkauf. Als erste kam im Februar 1915 die Brotkarte, ihr folgten im Frühjahr 1916 Karten für die übrigen Nahrungsmittel (Bild 7  Medien). Das Kartensystem behielt auch noch längere Zeit nach Kriegsende seine Gültigkeit, da wegen der anhaltend schlechten Versorgungslage das Bewirtschaftungssystem nur stufenweise wieder abgebaut werden konnte. Am längsten hielt sich die Brotkarte; sie wurde zum letzten Mal im Oktober 1923 verteilt.

Aber auch ein noch so gut organisiertes Verteilungssystem konnte das Absinken des Versorgungsniveaus nicht verhindern. Dies machte sich zuerst in den größeren Städten des Industriebezirks bemerkbar, aber auch in den übrigen Kommunen Westfalens verringerten sich die Zuteilungsmengen seit Ende 1916 erheblich (Bild 8  Medien). Günstiger war die Ernährungssituation in den kleineren Landgemeinden, in denen eine bessere Nahversorgung durch die umliegende Landwirtschaft bestand. Im Kohlrübenwinter 1916/17 entwickelte sich der ständig fühlbare Nahrungsmangel für viele Menschen Westfalens zur Hungersnot. Die als Ersatz verteilten Rüben konnten in keiner Weise die fehlenden Kartoffelmengen ersetzen. In jenem Winter gab es fast alles aus Kohlrüben: Kohlrübenkaffee, Kohlrübenmarmelade, Kohlrübendörrgemüse; ja selbst Bier soll aus ihnen gebraut worden sein.

Erst mit der neuen Ernte verbesserte sich die Ernährungslage. Trotzdem blieb besonders der Fleisch- und Fettmangel für viele Stadtverwaltungen bis zum Kriegsende ein ungelöstes Problem. Aus ihrer Sicht lag der Fehler in den ungenügenden Abgabemengen der ländlichen Erzeuger, die viel lieber den gewinnträchtigeren Schwarzen Markt belieferten, als ihre Produkte an die hungernde Stadtbevölkerung zu Niedrigpreisen abzugeben.


3. Die Verringerung des Nahrungsmittelangebots und seine Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

Für die städtische Bevölkerung machte sich der Lebensmittelmangel nur langsam bemerkbar. Die Ernte 1914 zeigte gute Ergebnisse und die Folgen der Blockade wirkten sich erst nach und nach aus. Der Optimismus der Regierungsvertreter hinsichtlich einer kurzen Kriegsdauer und die damit verbundene Sorglosigkeit in allen Ernährungsfragen hatte sich auch auf die Zivilbevölkerung übertragen. So waren die ersten Kriegswochen geprägt durch einen an Verschwendung grenzenden Überkonsum. Kaum jemand dachte daran, daß es einmal notwendig werden könnte, gewisse Ernährungsgewohnheiten aufzugeben und den Konsum insgesamt einzuschränken. Die einzige "Kriegsmaßnahme" der privaten Verbraucher bestand im Anlegen von Vorräten. Ansonsten bejubelte man die einberufenen Soldaten, verpflegte sie auf den Bahnhofsstationen und schickte Päckchen als Liebesgaben an die Front. Diese waren oft mit Nahrungsmitteln gefüllt, an denen bereits wenige Monate später Mangel herrschen sollte.

Im November 1914 erhoben sich die ersten warnenden Stimmen, daß die Vorräte an Brotgetreide vielleicht doch nicht bis zur neuen Ernte reichen würden. Durch Sparsamkeitsappelle an die Bevölkerung sollte der übermäßige Weißbrot- und Kuchenverzehr eingeschränkt werden. Merkblätter und Zeitungsartikel wiesen die Verbraucher auf eine zweckmäßige Ernährung während der Kriegszeit hin. Gleichzeitig wurde den Landwirten verboten, das für die menschliche Ernährung notwendige Getreide weiterhin an das Vieh zu verfüttern. Eine im Dezember 1914 durchgeführte Bestandsaufnahme über die Getreidevorräte bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Danach mußte die Brotversorgung drastisch eingeschränkt werden, falls die vorhandenen Mengen bis zum Sommer 1915 ausreichen sollten. Noch im selben Monat setzten die ersten staatlichen Versorgungsmaßnahmen mit weitreichenden Auswirkungen auf die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung ein.

Bis Kriegsausbruch wurde Brot überwiegend in den hellen, aus Weizenmehl hergestellten Sorten verlangt. Hieraus ergab sich für den Handel die Notwendigkeit, Weizen zu importieren und den im eigenen Land produzierten Roggen auszuführen. Durch die Blockade entfielen die Einfuhrmöglichkeiten, und man war gezwungen, mit den vorhandenen Getreidemengen auszukommen. Dies war in erster Linie Roggen, so daß dem Weizenmehl in Zukunft Roggenmehl beigemischt wurde.

Weitere Einschränkungen innerhalb der täglichen Ernährung erfolgten im Frühjahr 1915 durch die Einführung der Brotkarte. Anfang Februar wurde der maximale Pro-Kopf-Verbrauch der Bevölkerung offiziell auf 225 Gramm Mehl täglich festgesetzt. Bereits Mitte März mußte dieser Satz auf 200 Gramm reduziert werden. Erst mit der neuen Ernte erreichte die Brotration wieder die anfängliche Menge. Bis zum 01.02.1916 konnte dieser Tageskopfsatz gehalten werden; dann sank er wieder auf 200 Gramm. Bis Kriegsende blieb die Brotration Schwankungen unterworfen. Die Zeit im Frühjahr und Frühsommer, kurz vor der neuen Ernte stellte immer einen Tiefpunkt dar. Dies konnte auch mehrmals erhöhte Ausmahlquote nicht verhindern. Hierdurch wurde zwar eine Vermehrung der absoluten Mehlmenge erreicht, aber gleichzeitig verschlechterte sich durch das feinere Ausmahlen die Qualität: der Nährwertgehalt des Brotes war erheblich herabgesetzt.

Im Herbst 1915 ergriff die Regierung öffentliche Maßnahmen zur Senkung des Fleischverbrauchs; fleisch- und fettlose Tage wurden eingeführt. Eine spürbare Einschränkung des Fleischverzehrs trat allerdings erst mit der Einführung der Fleischkarte im Frühjahr 1916 ein. Durch die Ausweitung der Rationierung verringerte sich gleichzeitig die Möglichkeit im Privathaushalt die tägliche Mahlzeit individuell zu gestalten. Als Ergänzung blieben wenige "freie" Nahrungsmittel übrig, wie etwa Obst, Gemüse, Pferde- und Kaninchenfleisch, Geflügel und Wild.

Angesichts dieser Situation griff ein großer Teil der Stadtbevölkerung zur Selbsthilfe und wandte sich verstärkt dem Kleingartenbau zu (Bild 8  Medien). Die Erzeugnisse des eigenen Gartens stellten eine wertvolle Bereicherung der kargen Kriegskost dar. In vielen Städten Westfalens schlossen sich die Kleingärtner aus organisatorischen Gründen zu Kolonien zusammen. Die Verpachtung brachliegender Ländereien wurde von den einzelnen Stadtverwaltungen, die die Bedeutung des Kleingartenwesens als zusätzliche Nahrungsquelle erkannten, sehr gefördert.

Aus ähnlichen Gründen nahm auch die private Nutztierhaltung in den Städten zu. Wegen des ständigen Fettmangels entwickelte sich besonders die Schweinehaltung in einem derartigen Umfang, daß die Behörden sich zum Eingreifen gezwungen sahen. Hausschlachtungen wurden genehmigungspflichtig und waren seit August 1916 nur noch erlaubt, wenn die Tiere mindestens sechs Wochen in der eigenen Wirtschaft gehalten worden waren. Da die wenigsten städtischen Haushalte die hierfür notwendigen Bedingungen erfüllten, fand man Mittel und Wege diese Bestimmungen zu umgehen. Um der Vorschrift formal zu genügen, gab man die Schweine gegen Bezahlung zu fremden Personen in "Pension". Eine andere Möglichkeit bestand darin, fette Schweine zu kaufen und sie unter ungenügenden Bedingungen als "Balkon-", "Keller-" oder "Salon-"Schweine durchzuhungern, um dann als Selbstversorger in den Genuß der doppelten Fleisch- und Fettration zu kommen. Da die privaten Hausschlachtungen in einem so erheblichen Maße zunahmen, mußte die Selbstversorgung mit Schweinefleisch drastisch eingeschränkt werden. Zusätzlich wurden in den Städten Kaninchen und in vielen Bergarbeiterfamilien auch Ziegen gehalten. Für die fehlende Milchzuteilung, die nur noch Kindern und schwangeren Frauen vorbehalten war, bildete Ziegenmilch einen wertvollen Ersatz.

"Ersatz" wurde während der Kriegszeit überhaupt zum allgemeinen Lösungswort für viele Ernährungsschwierigkeiten. Ersatzlebensmittel hatte es bereits in der Friedenszeit gegeben, jedoch nahm ihre Anzahl nach 1915 erheblich zu. In den wenigsten Fällen entsprach die Bezeichnung auf der Verpackung auch ihrem Inhalt. Um die Verbraucher zu schützen, wurden Surrogate genehmigungspflichtig. Bei Kriegsende gab es nicht weniger als 11.000 zugelassene Ersatzlebensmittel, davon allein über 800 genehmigte "Ersatzwürste", deren Nährwert wohl meistens recht zweifelhaft war. Viele Lebensmittelgeschäfte dieser Zeit sah man fast nur noch mit "Ersatz" gefüllt. Die "Lebensmittelpolonaisen" vor den Geschäften waren ein weiteres Zeichen des wachsenden Mangels (Bild 9  Medien).

Im Kohlrübenwinter 1916/17 erreichte das städtische Versorgungsniveau seinen ersten Tiefpunkt. Innerhalb der städtischen Rationierung trat bei allen Nahrungsmitteln eine Verschlechterung ein, die sich von den größeren Städten und Industriebezirken immer weiter auch auf die übrigen westfälischen Städte ausdehnte. Fehlende Kartoffeln mußten überall durch Rüben ersetzt werden. Aber auch die Fleisch- und Fettzuteilung war völlig unzureichend, so daß die Zubereitung der täglichen Mahlzeit immer schwieriger wurde. Viele Menschen wandten sich deshalb der städtischen Massenspeisung zu (Bild 10  Medien). In den größeren Ruhrgebietsstädten waren öffentliche Kriegsküchen bereits 1915 eingerichtet worden. Seit dem Herbst 1916 bestanden in allen westfälischen Städten solche Einrichtungen, deren steigende Frequentierung die Notwendigkeit einer öffentlichen Essensausgabe widerspiegeln. Besonders in den ersten Monaten des Jahres 1917 hatte sich die Inanspruchnahme von Massenspeisungen erhöht. Das Essen bestand vorwiegend aus Suppen, deren Qualität oft zu Kritik Anlaß gab. Nur in Zeiten äußersten Nahrungsmittelmangels suchte die städtische Bevölkerung die Kriegsküchen auf. Sobald sich die Ernährungslage auch nur geringfügig verbesserte, wurde das Essen wieder überwiegend zu Hause zubereitet. Die einförmige Kriegskost konnte die private Mahlzeit nicht ersetzen.

Seit dem Winter 1916/1917 verschlechterte sich merklich der Gesundheitszustand der städtischen Bevölkerung. Das preußische Innenministerium veranlaßte Anfang 1917 ein Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen, in dem die Frage nach dem Einfluß der Kriegsernährung auf die Volksgesundheit gestellt wurde. Die Sachverständigen kamen zu dem Ergebnis, daß sich die staatliche Nahrungsmittelversorgung 1916/17 in den Städten und Industrieregionen nicht bewährt habe. Ohne Eigeninitiative hätte sich für die dortige Bevölkerung dieselbe Situation ergeben, wie sie in den Anstalten zu beobachten war, deren Insassen, ausschließlich von den offiziellen Rationen abhängig, aufgrund ihrer Unterernährung verstärkt bestimmten Krankheiten zum Opfer fielen. Es sei zu befürchten, daß bei einer Weiterführung des bestehenden Ernährungssystems die allgemeine Not erheblich ansteigen werde.

Diese Prophezeiung sollte sich im letzten Kriegsjahr bewahrheiten. Je weiter die offiziellen Rationen herabgesetzt wurden und sich hierdurch der Nahrungsspielraum für den einzelnen verringerte, desto mehr stieg der Umfang der illegalen Versorgung. Eine Alternative zum staatlichen Rationierungssystem bildete das Hamstern (Bild 11  Medien). Vor allem für die Menschen des Ruhrgebiets war dies eine bevorzugte Möglichkeit die mangelhafte Kriegsernährung zu ergänzen. In total überfüllten Hamsterzügen strömte die hungernde Industriebevölkerung am Wochenende in die ländlichen Gegenden Westfalens, um von den Bauern fehlende Nahrungsmittel aufzukaufen. Gleichzeitig stieg die Kriminalitätsrate. Einbrüche in Lebensmittelgeschäfte, Fälschungen von Lebensmittelkarten, aber auch Felddiebstähle nahmen mit steigender Not immer umfangreichere Formen an.

Daneben blühte das Schwarzmarktgeschäft. Es waren nicht nur Privatpersonen, die sich auf diesem Weg zusätzliche Nahrungsmittel besorgten. Auch Industriebetriebe und einzelne Stadtverwaltungen nutzten diese Möglichkeit, um den Rüstungsarbeitern eine bessere Ernährung zu garantieren. Vielen Menschen blieb allerdings der Schleichhandel verschlossen, da sie nicht in der Lage waren, die dort geforderten Höchstpreise zu bezahlen. Sie spürten die Folgen des Krieges am härtesten. Das durchschnittliche Körpergewicht der städtischen Bevölkerung sank um rund 20%. Der Mangel an Eiweißstoffen in der Kriegsernährung war hierfür in erster Linie verantwortlich. lm dritten Kriegsjahr ging auch die Sterberate drastisch in die Höhe (Bild 12  Medien).

Durch die sinkende Kalorienzahl der Nahrung, die gleichzeitig an Nährstoffen immer einseitiger und ärmer wurde, ließ die menschliche Widerstandskraft gegen Krankheiten nach. 1918 grassierte eine Grippeepidemie in ganz Europa, der in allen Ländern besonders viele Zivilisten zum Opfer fielen. Die folgende Übersicht zeigt den Anstieg der Sterberate im Deutschen Reich:

Jahr 
Sterbefälle Zivilbevölkerung (abs.) / im Verhältnis zu 1913 in v.H. 
1915 
88.235 / 9,5 % 
1916 
121.174 / 14,3 % 
1917 
259.627 / 32,2 % 
1918 
293.760 / 37,0 % 
gesamt 
762.796 [1] 


Der Arzt und Mitarbeiter im Reichsgesundheitsamt, Max Rubner, beschrieb nach Kriegsende im Dezember 1918 die Auswirkungen des Krieges auf die Heimatfront mit folgenden Worten:

"Wohin man sieht traten uns also die Wirkungen der Blockade auf die Zivilbevölkerung entgegen: Tote, Kranke, Sieche. Wenn diese stillen Opfer auch in dem allgemeinen Sterben und in der allgemeinen Apathie ungezählt bleiben mögen, so hat doch auf die Massen kaum etwas verhärtender und erbitternder gewirkt, wie diese Nahrungsmittelnot und ihre Folgen." [2]


[1] Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1918, im Auftrage des Reichstages, 4. Reihe, Band 6, Berlin 1928, S. 398.
[2] Aus einer Erhebung M. Rubners für das Reichsgesundheitsamt vom 02.12.1918. Bundesarchiv Koblenz, Bestand Reichsgesundheitsamt, R 86 Nr. 3281.




Westfalen im Bild, Reihe: Westfälische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Heft 3