"Westfalen im Bild" - Texte

Krüger, Karl Heinrich
Das Kloster Corvey
Münster, 1996



Einführung

"Haupt und Mutter" der Klöster in Sachsen und "Zierde des ganzen Vaterlandes" nannten die mittelalterlichen Benediktiner ihre Corveyer Heimstatt. Von der alten Herrlichkeit der Reichsabtei an der Weser bei Höxter zeugt noch heute die vielbesuchte Gesamtanlage aus der Zeit um 1700 (Bild 1  Medien). Der Westbau der Klosterkirche in der Mitte (Bild 2  Medien) ist das älteste Zeugnis einer bewegten über tausendjährigen Geschichte.

Diese begann im unter Karl dem Großen von 772 bis 803 christianisierten Sachsen mit einer zweimaligen Gründung: Zuerst 815 wohl bei Neuhaus im Sollinggebirge, dann 822 an geeigneterer Stätte im Flußtal bei Höxter (Bild 3
 Medien). Die Initiative zu diesem ersten Mönchskloster in Sachsen ging von der westfränkischen bzw. "gallischen" Abtei Corbie an der Somme unter dem Abt Adalhard (gest. 826) aus. Nach dem Umzug aber schaltete sich der karolingische Herrscher als Stifter, Beschützer und Sachverwalter ein. Es war Kaiser Ludwig der Fromme (814-840), der 833 auch die Trennung vom Mutterkloster bestätigte. Von Ludwig und seinen ostfränkischen Nachfolgern wurde die neue Abtei mit Landgütern hervorragend ausgestattet (Bild 4
 Medien). Nach Einbringung der Reliquien des heiligen Vitus 836 und nach der Weihe der Stephanuskirche 844 waren die Vergrößerung des Langschiffes im Osten (Bild 6) und der Aufbau des Westwerkes die deutlichsten äußeren Zeichen für die Konsolidierung (Bild 2  Medien, 5  Medien, 7  Medien). Die ursprüngliche Dreiturmanlage wurde von 873 bis 885 errichtet und dürfte erstmals 889 dem Empfang des vorletzten Karolingerkönigs Arnulf gedient haben (Bild 7  Medien und 8  Medien). Damals präsentierte Abt Bovo I. (879-890) das Kloster als Memorialstiftung für das ganze Karolingergeschlecht.

Mit dem Besuch Konrads I. 913 und Aufenthalten der Ottonen begann die Nutzung als Wegstation des hochmittelalterlichen Reisekönigtums, als Klosterpfalz. Insgesamt 23 Königsaufenthalte bis 1203 sind dokumentiert, allein König Heinrich II. (1002-1024) ist sechsmal nachzuweisen. Die tatsächliche Zahl aller Königsaufenthalte läßt sich um einiges höher annehmen.

Heinrich Il., der letzte Ottone, leitete die Zeit Corveys als Reformkloster ein. 1015 setzte er mit Gewalt einen Abt aus dem Kloster Lorsch ein, das der vom lothringischen Gorze ausgegangenen Erneuerung verpflichtet war. Noch weitere auswärtige Äbte aus Lorsch und Echternach folgten. Um 1090 schloß sich Abt Markward (1081-1107) der Hirsauer Observanz an, d. h. der vom burgundischen Cluny begonnenen Reform. Nunmehr entsandte Corvey selbst Mönche und Äbte in acht sächsische Klöster (Bild 9  Medien).

Mit dem Übergang zur Hirsauer Reform hatte sich Corvey weiter vom inzwischen salischen Königtum gelöst. Zunächst Verhandlungsort zwischen den Parteien des sogenannten Investiturstreites, den Getreuen Heinrichs IV. und der sächsischen Opposition, wurde das Kloster ein Stützpunkt der Anhänger des Papstes Gregor VII. Das änderte sich zeitweise unter Heinrich V. Bei dem von ihm eingesetzten Abt Erkenbert (1107-1128) läßt sich gut beobachten, daß die Beherbergung nur ein Teil der vom Kloster geforderten Königsdienste war. Erkenbert begleitete den König beim Feldzug nach Ungarn 1108 und bei der Kaiserfahrt 1110/1111 nach Rom.

Schon in der Reformzeit begann der Kampf um die Erhaltung der materiellen Grundlagen. Insbesondere die Vergrößerung des Konventes unter Markward und die Kosten der Reichsaufgaben zwangen zu einer Straffung der Verwaltung. Abt Erkenbert ließ dazu ein Register der geographisch weit gestreuten Corveyer Grundherrschaft (Bild 4  Medien) anlegen. Es wurde ein Verzeichnis der Klostergüter, ihrer Inhaber und der dem Kloster geschuldeten Leistungen. In Erkenberts Zeit begannen auch Streitigkeiten mit den Dienstleuten, die im Kloster höhere Aufgaben wahrgenommen hatten und die nun ihre Ämter z. B. als Kellermeister wie ein Erbe beanspruchten. Dazu kamen Auseinandersetzungen mit den adeligen Vögten, die die Gerichtsbarkeit ausüben sollten, aber die Klöster sogar mit Hilfe von Äbten aus ihrer Verwandtschaft auszubeuten versuchten. Der von dem ersten Staufer Konrad lll. eingesetzte Abt Wibald (1146-1158), der schon länger das Doppelkloster Stablo und Malmedy verwaltete, stemmte sich dieser Entwicklung besonders tatkräftig entgegen. Er holte entfremdetes Klostergut zurück, brachte räuberische Grafen vor das Königsgericht und ahndete Übergriffe der Ministerialen. Er hielt überdies auf Disziplin innerhalb des Konventes nach den Vorschriften der Benediktregel. Das Kloster kam so zu einer kurzen Nachblüte, die sich auch in Baumaßnahmen, wie sie am Westwerk erhalten sind (Bild 2
 Medien), und in der Bestellung von Handschriften wie dem berühmten Liber vitae (Bild 3  Medien und 10  Medien) auswirkte.

Voraussetzung für das Gelingen solcher Wiederherstellungen war der Schutz durch den König. Aber dessen tatsächliche Herrschaft beschränkte sich immer mehr auf Süddeutschland. Als dann den Staufern im 13. Jahrhundert die Grafenkönige und im 14. Jahrhundert die auf ihre Hausmacht gestützten neuen Großdynastien folgten, beschritten auch die Corveyer Äbte den Weg, ihre Rechte zum Auf- und Ausbau einer möglichst geschlossenen Territorialherrschaft zu benutzen. Dabei traten sie in Konkurrenz zu den Grafen und Bischöfen der Umgebung, besonders auch zu den Herzögen von Braunschweig, den Landgrafen von Hessen und dem Erzbischof von Köln. So kam es, wie eine spätere Corveyer Abtsgeschichte zu 1189 mitteilt, daß die Äbte "Burgen bauten und die klösterlichen Belange vernachlässigten".

Schon im 13. Jahrhundert verloren sie ihre vor dem Kloster liegende Stadt Corvey. An zwei Furten und zeitweise zwei Brücken hatten sich nämlich beim Kloster und um den alten Siedlungskern Höxter zwei stadtähnliche Gebilde entwickelt. Die Konkurrenz dieser "Nachbarstädte" wurde mit Hilfe der Gegner des Abtes zugunsten der Bürger von Höxter entschieden. Dabei zerstörten sie 1265 die alte civitas Corvey mitsamt ihrer Brücke.

Mißbrauch und Einnahmeverluste verursachten auch den Verfall der Klosterbauten. Um 1500 aber, besonders unter dem Abt Franz von Ketteler (1505-1547), setzte sich noch einmal eine benediktinische Erneuerung durch, die Bursfelder Reform. Doch die Wirren der Reformationszeit behinderten den Wiederaufbau. Um 1600 aber wurde das Westwerk neu hergerichtet und sein Obergeschoß, das seit 1481 als schon alter Johanneschor belegt ist, mit drei Altären ausgestattet. Das Kirchenschiff verfiel jedoch weiter. Der Dreißigjährige Krieg brachte Plünderungen und mit der Verwüstung sogar eine zeitweise Evakuierung nach Höxter.

Als es gelang, den Münsteraner Bischof Bernhard von Galen zum Abt (1661-1678) zu gewinnen, setzten energische Maßnahmen ein. Die ruinöse Klosterkirche wurde 1665 abgerissen und 1667-1674 durch das heute noch bestehende barocke Kirchenschiff ersetzt (Bild 11  Medien). Die alte Ausstattung war ohnehin verlorengegangen. Von 1699 bis 1721 wurden die heutigen Abteigebäude aufgeführt; ihr wichtigster Bauherr war Abt Florenz von Velde (1696-1716). Die Inschriften zu den Denkmälern Karls des Großen und Ludwigs des Frommen links und rechts der Einfahrt in den Haupthof zeigen, daß das Kloster sich jetzt als Bollwerk der Gegenreformation auffaßte. Sein fürstliches Selbstverständnis aber brachte der Abt im Kaisersaal zum Ausdruck (Bild 12  Medien). Da auch Corvey wie andere geistliche Herrschaften schon im 18. Jahrhundert von der Säkularisation bedroht war, versuchten die Fürstäbte Bischöfe zu werden. Das von 1794 bis 1803 bzw. 1825 bestehende Bistum fiel dann aber den Neuordnungen der Napoleonzeit und der Restauration zum Opfer. Am Ende kam das 1803 konfiszierte Klostergut 1820 an die Familie von Hohelohe-Schillingsfürst. Ihre Nachfolger zeigen als Herzöge von Ratibor und Fürsten von Corvey an besonderen Tagen ihre Flagge über dem "Schloß".

Die älteren Forschungen zum Kloster Corvey hat Kaminsky zusammengefaßt, über die neueren berichtet Jakobi. Zum Faksimileband des Liber vitae (1983) ist inzwischen ein Band mit Studien erschienen, die auch die allgemeine Geschichte des Klosters betreffen. Zu erwarten ist ein Buch von H.-G. Stephan, der die mittelalterliche Gesamtanlage und ihre Umgebung, die Stadt Corvey, 1977/1978 und ab 1988 auch archäologisch erforscht hat. Eine Gesamtgeschichte des Klosters, die sich besonders des späten Mittelalters und der Neuzeit annehmen müßte, fehlt.

Die Bücher des Benediktinerpaters Adalhard Gerke (1973 bzw. 1985) und des Urgeschichtsforschers Walther Matthes (1987), die sich gegenseitig zu stützen versuchen, sind mit Vorsicht zu benutzen. Die Zeugnisse bestätigen nicht, daß bei der Gründung an der Weser 822 eine "Gesamtbaukonzeption" vorlag, die bis etwa 885 ausgeführt wurde. Ebensowenig läßt sich belegen, daß die Erstgründung 815 an den Externsteinen erfolgte.

Die Untersuchungen des Landesdenkmalamtes Münster, die bis 1966 zu einer Rekonstruktion des Westwerkes führten, wurden mit den Grabungen von 1974 bis 1976 wieder intensiviert. Sie erbrachten unter der Leitung von Uwe Lobbedey neue Ergebnisse hinsichtlich der Klosterkirche des 9. Jahrhunderts, die bis zum barocken Neubau bestanden hat. Vorberichte erschienen 1977 in der Zeitschrift Westfalen. Die endgültige Publikation steht noch aus (s. die Literaturhinweise). Bei den Arbeiten ergaben sich zwei wichtige Feststellungen zur Funktion des Westwerkes. Die vermeintlichen Hinweise auf ein Thronpodest im Erker der Westempore entpuppten sich als Balkenlöcher erst der Barockzeit. Andererseits konnte das Rätsel von Stuckresten, die schon Anfang der fünfziger Jahre geborgen waren, von Hilde Claussen gelöst werden: Sie gehörten zu im Halbrelief ausgeführten menschlichen Figuren, deren lebensgroße Vorzeichnungen 1992 über den Pfeilern des Johanneschores entdeckt wurden. Sie haben den Repräsentationscharakter des Zentralraumes sicher wesentlich gesteigert (vgl. auch zu Bild 8  Medien).

Im Unterrichtsgebrauch kann die Bildreihe einen Ausflug vorbereiten oder vertiefen. Ergänzend lassen sich die allerdings teilweise überholten Schnitte und Aufrisse aus dem Ausstellungskatalog von 1966 (Kunst und Kultur 1) heranziehen. Die vorliegende Bildfolge geht im wesentlichen chronologisch vor; sie ist besonders an der Spannung zwischen materiellen Grundlagen und geistlichen Aufgaben sowie an der Funktion historischer Erinnerung interessiert. Je nach Unterrichtsziel bzw. Ausflugsplanung können weitere Bildserien der Landesbildstelle Westfalen mit der vorliegenden verbunden werden. Liegt das Schwergewicht auf der politischen Erschließung Sachsens, eigenen sich die "Paderborner Königspfalzen" (1984). Geht es um Zeugnisse des Mönchtums, sind die Bildhefte "Mittelalterliches Klosterleben" (2. Aufl. 1987) und als Zelle bzw. Einsiedelei "Die Externsteine" (1989) passend. Erwähnt sei dazu auch die nicht zu dieser Reihe gehörige Unterrichtseinheit von F.-J. Jakobi, Klosterkultur des Früh- und Hochmittelalters mit Lehrer-, Material- und Arbeitsheft, Paderborn 1982.


Westfalen im Bild, Reihe: Westfälische Kulturgeschichte, Heft 13