"Westfalen im Bild" - Texte

Lehnemann, Wingolf
Handwerkliche und industrielle Ziegelherstellung
Münster, 1995



Einleitung

Ziegeleierzeugnisse gehören zum Bereich der Keramik und werden im Gegensatz zur Feinkeramik (z.B. Töpferwaren, Steingut, Majolika, Porzellan) als Grob- oder Baukeramik bezeichnet. Der Begriff umfaßt eine Vielzahl von Mauer- und Dachziegelformen, die sich in Größe, Form und Verwendungszweck für verschiedenste Anforderungen unterscheiden. Gemeinsam ist den meisten Ziegelprodukten die Haltbarkeit über Jahrhunderte, ja Jahrtausende: Ziegelarchitektur ist durch natürliche Umstände kaum zerstörbar, und die vom Material erzwungene Schlichtheit gibt ihr eine Ästhetik von zeitlosem Rang.

Die ältesten bekannten Ziegel waren ungebrannt; diese "Lehmziegel" werden auf 7000 vor Christus (gefunden in Jericho) bzw. 6395 vor Christus (gefunden in Catal Hüjük) datiert. Unter den klimatischen Bedingungen der subtropischen Trockenzone genügten sie den Ansprüchen, die an sie gestellt wurden. Auch die ältesten gebrannten Ziegel sind aus den frühen Hochkulturen bekannt: Sie wurden um 4000 vor Christus in Mesopotamien und in Ägypten hergestellt.

Der Ziegelbau wurde in Ländern bereits früh zur technischen wie zur künstlerischen Vollendung geführt, z. B. in den unterschiedlich engobierten (d.h. mit einem Tonbrei übergossenen) und glasierten oder reliefierten Ziegeln und in Plastiken. Neben Mauerziegeln wurden Dachziegel entwickelt - dem Bericht Pindars aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert nach ist der Dachziegel in Griechenland entstanden - und sogar tortenstückartige Ziegel für den Säulenbau.

Ziegelherstellung und -verwendung breiteten sich über den gesamten Mittelmeerraum aus. Die Römer fanden weitere Verwendungszwecke, z. B. im Heizungsbau, und brachten die Zieglerei auch nach Germanien: Im ersten nachchristlichen Jahrhundert entstanden im Rheingebiet große Ziegeleien, aus denen gestempelte Ziegel erhalten sind. Bis heute sind römische Ziegelbauten in Deutschland erhalten, z. B. der Römerturm in Köln, entstanden im ersten Jahrhundert, oder die Basilika in Trier aus dem vierten Jahrhundert, mit 69 Metern Länge, 32 Metern Breite und 30 Metern Höhe ein imponierendes Bauwerk antiker Mauertechnik. Später gingen die lateinischen Wörter murus und tegula in die deutsche Sprache über und gehören als Mauer und Ziegel zu unserem Lehnwörterbestand.

Aus karolinigischer Zeit ist der Ziegelbau mehrfach belegt, auch urkundlich: Vermutlich 774 entstand die Torhalle des Klosters Lorsch als Ziegelbau. Es besteht jedoch keine Kontinuität von römischer zu deutscher Zeit: Die Technik der Ziegelherstellung war durch die Vermittlung von Mönchsorden erneut von Italien über die Alpen gelangt.

In Deutschland ist der Ziegelbau besonders im Norden heimisch geworden: Dome, Rathäuser, Stadttore, Bürgerhäuser und Schlösser in Mecklenburg, Brandenburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Westfalen zeugen davon, daß der Ziegelbau im Mittelalter auf repräsentative Bauten beschränkt war - für sie ist die Bezeichnung "Backsteingotik" geprägt worden. Auch heute wird das Bild der meisten norddeutschen Städte von Ziegelbauten bestimmt: Ziegel in variantenreicher Farbigkeit von roten, braunen und gelben Tönen tragen zu einem lebendigen, aber insgesamt einheitlich wirkenden Aussehen des Ortsbildes bei; es gibt die Verbindung von Ziegel mit Fachwerk oder mit Findlingen und - charakteristisch für die Architektur Johann Conrad Schlauns (1695-1773) - mit Sandstein. ln jüngster Zeit gewinnt der Ziegelbau auch in den östlichen Bundesländern erneut an Beliebtheit gegenüber der Plattenbauweise der letzten Jahrzehnte.

Westfalen, besonders das Münsterland, besitzt eine Fülle an Ziegelbauten: Barocke Schlösser und Kirchen, Kurien und Burgmannshöfe, Reste von Stadtbefestigungen mit Türmen und Toren und schließlich bäuerliche Anwesen. Die Zieglerei aber war trotz der weiten Verbreitung ihrer Erzeugnisse in der Regel kein zünftiges Handwerk. Städte und Grundherren betrieben Ziegeleien, "Teigelherren" aus dem Rat überwachten die Ziegelhütten, in denen unter primitiven Verhältnissen gearbeitet wurde. Erst im 19. Jahrhundert nahm die Zieglerei als eigenständiges Gewerbe eine stürmische Entwicklung, die sie auch aus der Bindung an die wärmere Jahreszeit befreite. Zieglerarbeit war nämlich lange Zeit Saisonarbeit, denn in der kühleren Jahreszeit trocknen keramische Produkte nicht. Der Frost sprengt die ungebrannten Stücke, und es wäre nicht möglich, den sonst weichen und geschmeidigen Ton in die Handstrichform zu pressen. Von April bis September wurde in den Ziegeleien mit einem erheblichen personellen Einsatz gearbeitet, um die Saison, die sogenannte Kampagne, zu nutzen. Ziegelherstellung konnte nur in der Arbeitergruppe ausgeführt werden - zu groß war die Zahl der Ziegel und zu aufwendig der Brand, als daß ein Mann alle Arbeiten allein hätte bewältigen können.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machten neue Ofenformen und die Entwicklung eigener Maschinen die Produktion das ganze Jahr hindurch möglich. Das führte allmählich zum Abbau der Wanderarbeit, die in diesem Gewerbe häufig war. Einen besonders hohen Anteil an Zieglern, die im zeitigen Frühjahr ihre Heimat verließen und erst im Herbst wieder zurückkehrten, hatte das Land Lippe: Lippische Ziegler arbeiteten in Ostfriesland, in Holland, am Niederrhein, in Niedersachsen und selbst weit darüber hinaus, z. B, in Dänemark, Polen und sogar in Rußland. Ausdrücke aus der Fachsprache der "Lipper", wie sie kurz genannt werden, sind in die folgenden Ausführungen aufgenommen.

Ein erneuter Entwicklungsschub im Zieglergewerbe ergab sich in den letzten Jahrzehnten, als die Elektronik als wichtigste Neuerung einbezogen wurde. Automatische Steuerungen haben viele Arbeiten übernommen, so daß heute wenige Arbeitskräfte eine vielfach höhere Produktion im Vergleich zu den Verhältnissen zu Beginn des Jahrhunderts erzielen. Aus der Ziegelei wurde das Ziegelwerk, die handwerkliche Arbeit des Zieglers ist durch die industrielle Fertigung abgelöst worden, das Berufsbild Ziegler gibt es nicht mehr. Da auch der Transport der Ziegel über größere Entfernungen kein Problem mehr ist, hat sich bei steigender Produktion die Zahl der Ziegeleien stark verringert. Wenige Großziegeleien können heute alle Anforderungen erfüllen.

Überwiegend handwerklich wurde bis 1994 nur noch in einem westfälischen Betrieb, der Ziegelei Siegeroth in Lünen, gearbeitet, die in dem letzten Zickzackofen, der in Westfalen betrieben wurde, auftragsweise besondere Ziegeleierzeugnisse in kleineren Mengen produzierte.




Westfalen im Bild, Reihe: Westfälische Handwerksgeschichte, Heft 8