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Entstehung und Ausbau von Schulen im Zuge von Humanismus und Reformation:
Stadt und Land


 
 
 
Humanismus, Reformation und die Entstehung von Territorialstaaten veränderten Ziele, Inhalte und die Verbreitung von Bildung und Wissen. Im Bereich der höheren Schulen kam es in den 1520er Jahren durch die Reformation, die den eingespielten Zusammenhang von Schulbesuch und Pfründenerwerb auflöste, zu einer Bildungskrise, die zu Neuerungen wie der Reorganisation und Neugründung zahlreicher größerer und mehrklassiger Schulen führte, für welche sich seit Mitte des 16. Jahrhunderts die Bezeichnung Gymnasium etablierte.[1] Gleichzeitig entstanden auf dem Lande vielfach zum ersten Mal flächendeckend Elementarschulen.

Schließlich übernahmen im Zuge der Reformation geistliche und weltliche Landesherren die Verantwortung für die Kirchen- und Schulorganisation, was zu einer Stärkung und Vereinheitlichung im Erziehungs- und Bildungsbereich führte.[2] Für die Protestanten erarbeitete Johann Amos Comenius (1592-1670) die erste neuzeitliche Erziehungslehre.[3] Auf katholischer Seite dominierte der 1534 gegründete Jesuitenorden bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts: Mit der genauen Regelung von Lehrplan, Methode und Bücherkanon, festgehalten in der Ratio Studiorum von 1599, löste der Orden die Funktionsfähigkeit der Schule von der Lehrperson.[4]

Jede größere Stadt und jeder einflussreiche Herrscher legte im 16. Jahrhundert Wert auf den Besitz eines mehrklassigen, ansehnlichen Gymnasiums.[5] Neu gegründet oder restrukturiert wurden die (protestantischen) Gymnasien 1530 in Minden, 1534 in Soest, 1536 in Siegen, 1540 in Herford, 1543 in Dortmund und 1583 in Lemgo. Auf katholischer Seite wurde 1574 durch die Initiative des Fürstbischofs Salentin die Paderborner Domschule in das Gymnasium Salentianum umgewandelt; im 17. Jahrhundert entwickelte es sich unter jesuitischer Leitung zur einflussreichen katholischen Lehranstalt Gymnasium Theodorianum, deren Bedeutung durch die Gründung der Jesuitenuniversität 1614 untermauert wurde. In Münster übernahmen die Jesuiten 1588 das Gymnasium Paulinum, 1626 ein Gymnasium in Siegen und 1627 ein Kolleg in Coesfeld. Franziskaner, Minoriten und Kapuziner reformierten bestehende Lateinschulen zu Gymnasien u.a. in Attendorn (1639), Dorsten (1642), Rheine (1658), Warendorf (1675), Vreden (1677), Recklinghausen (1729), Rietberg (1743), Höxter und Bocholt (1785) und Werl (1799). Dominikaner leiteten seit 1643 ein fünfklassiges Gymnasium in Warburg; die Wedinghausener Prämonstratenser machten Arnsberg mit dem 1654 gegründeten Gymnasium Laurentianum zum schulischen Mittelpunkt des kurkölnischen Sauerlands.[6]

In universitätsfreien Städten und Regionen zeigte sich die Tendenz der hochschulischen Erweiterung dieser Gymnasien. Neben den Fächern des Triviums wurden philosophische und theologische Vorlesungen angeboten.[7] Diese Entwicklung wurde in Paderborn mit der Gründung der Jesuitenuniversität 1614 deutlich, aber auch in der 1602 von Graf Simon IV. in Detmold gegründeten protestantisch-humanistischen Gelehrtenschule und im 1650 in Hamm geschaffenen Gymnasium illustre (reformierte Akademie). Diese Schule ebenso wie die protestantischen Archigymnasien in Soest und Dortmund nahmen einen universitätsähnlichen Rang ein. Das bereits 1591 von Graf Arnold zu Bentheim-Tecklenburg gegründete Gymnasium illustre Arnoldinum in Burgsteinfurt bot sogar alle vier klassischen Fakultäten einer Hohen Schule an.[8]

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war der gelehrte Unterricht in den westfälischen und lippischen Städten weit verbreitet und das Durchschnittsniveau deutlich höher als zur Zeit der Reformation. Katholische und protestantische Gymnasien waren Lateinschulen, Fächer wie Griechisch, Mathematik oder Geschichte standen hingegen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts nur selten auf den Lehrplänen. Der Unterricht in Leistungsklassen – in den Jesuitenschulen oft bereits in Jahrgangsklassen – erfolgte in den Formen der "lectio" (Textvorlesung und -interpretation durch den Lehrer) und der "repetitio" (Abfrageübung). Lateinische Texte wurden ins Deutsche und umgekehrt deutsche ins Lateinische übersetzt. Oft standen mehr Lehrer als Klassen zur Verfügung; v.a. in den Oberklassen unterrichteten dann zwei Lehrer.[9] Die obrigkeitlich, bzw. staatlich unterstützten Gymnasien der größeren Städte verfügten über mehr Ressourcen als die Schulen kleiner Städte, aber auch in diesen erfolgte im Verlaufe des 17. Jahrhunderts eine klarere Strukturierung von Unterricht und die Teilung der Schüler in Leistungsklassen.[10] Diese Art der Gymnasialbildung schien in Westfalen und Lippe im 18. Jahrhundert kein Vorrecht der höheren Stände gewesen zu sein, was sich anhand von Schülerlisten aus dem Klostergymnasium Laurentianum in Arnsberg zwischen 1680 bis 1772 zeigen lässt. Hier waren 28 Prozent der Schüler Kinder von Handwerkern, 26 Prozent waren Kinder von akademischen Beamten.[11]

Auch im Bereich der Elementarbildung auf dem Land war vor allem die Nachfrage der Bevölkerung entscheidend für die Gründung von Schulen. So fanden die mit der Durchführung der Reformation auf dem Lande beauftragten Visitatoren u.a. in Minden und Ravensberg schon länger bestehende Dorfschulen vor.[12] In ihnen wurden das Lesen und der Katechismus gelehrt. Für die Einrichtung von Dorfschulen war der örtliche Bedarf ausschlaggebend: Sie bestanden nicht in allen Regionen bereits vor 1500 und schienen in Orten mit regen Verkehrs- und damit Wirtschafts- und Handelsbeziehungen häufiger vorgekommen zu sein.[13] Die im Zuge der Reformation erlassenen Kirchen- und Schulordnungen regelten somit vielfach bereits bestehende Schulstrukturen und manifestierten zugleich den Herrschaftsanspruch des sich herausbildenden Territorialstaates.

Protestantische Kirchen- und Schulordnungen für die Territorien wurden 1530 in Minden, 1532 in Herford und 1571 in Lippe erlassen. In Lippe setzte die Verordnung die Unterweisung in Lesen, Schreiben und Religion fest. Diese Fächer sollten vornehmlich anhand von Katechismus und Kirchenliedern vermittelt werden.[14] 1609 machte der Magistrat von Soest den Küstern – wenngleich unter Aufsicht der Pfarrer – zur Pflicht, Schule zu halten. Die Kirchenordnung für Kleve und Mark von 1687 übertrug den protestantischen Predigern die Schulaufsicht.[15] In den katholischen Territorien erfolgten die Initiativen etwas später: 1611 (Verbot von Winkel- und Privatschulen) im Hochstift Paderborn, 1655 ("Constitutio Bernardina" verlangt Anwesenheitspflicht der Priester in den Pfarreien) und 1675 (Kirchen- und Schulordnung mit der erstmaligen Festsetzung einer allgemeinen Schulpflicht auf dem Lande) im Fürstbistum Münster.[16] Im Herzogtum Westfalen forderte 1656 ein Erlass, Landschulen einzurichten und die Schulmeister ausreichend zu entlohnen.[17]

Unterrichtsniveau und Organisation der im 16. Jahrhundert entstehenden Landschulen blieben bis weit ins 18. Jahrhundert gleich: Vielfach standen in den Dörfern eigene Schulhäuser zur Verfügung oder es wurde ein Raum im Haus des Schulmeisters benutzt. Diese stammten zumeist aus dem Ort und verfügten über keine professionelle Vorbildung; oft wurde das Amt vom Vater lediglich an den Sohn weitervererbt.[18] Unterrichten war ein Nebenerwerb und wurde zusätzlich zu Handwerk und landwirtschaftlichen Arbeiten ausgeübt; vielfach kombiniert mit dem wenig einträglichen Amt eines Küsters. Unterrichtet wurde vorwiegend in den Wintermonaten, wenn die Mithilfe der Kinder auf Acker und Hof entfiel und auch der Lehrer keine Felder bestellen musste. In den Sommermonaten fand der Schulunterricht nur selten statt, eine Zunahme ist gegen das Ende des 18. Jahrhunderts festzustellen. Nach drei bis vier Jahren verließen viele Kinder die Schule. Religion und Lesen, bzw. Auswendiglernen religiöser Texte standen im Zentrum der Unterweisung; Buchstabieren und Aufsagen des Auswendig Gelernten waren Unterrichtsinhalt. Das Lernen von Rechnen und Schreiben war mit zusätzlichen Kosten verbunden und wurde nur von wenigen Kindern erlernt.[19] Während in den deutschen und lateinischen Schulen der Städte Lesen, Schreiben und Rechnen nur die Ausgangsfächer der Unterweisung darstellten, lernte ein Großteil der Landbevölkerung bis 1800 fast ausschließlich das Lesen (biblischer Texte); Schreiben und Rechnen kamen für die meisten Kinder erst im 19. Jahrhundert als Unterrichtsfächer hinzu.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg schien die Nachfrage nochmals gestiegen zu sein: Zwischen 1675 und 1750 nahm der Schulbesuch im deutschen Nordwesten um 30 Prozent zu, ebenso im Gebiet von Minden und Ravensberg. Im späten 17. Jahrhundert entstanden in zahlreichen Dörfern und Bauernschaften von den Eltern getragene Schulen. Parallel dazu folgten in vielen Territorien im 17. und 18. Jahrhundert Verordnungen, die auf die Befolgung der Schulpflicht drängten und Vorschriften für die Prüfung von Schulmeistern enthielten: 1655 in Minden-Ravensberg, 1693 und 1739 im Bistum Münster und 1723 und 1767 in Lippe nach der "Verordnung wegen Unterweisung der Jugend" von 1665.[20] Diese Schulordnungen richteten den Fokus zusätzlich vermehrt auf eine Durchsetzung des Schulbesuchs auch im Sommer.
 
Anmerkungen
[1] Seifert, Arno, Das höhere Schulwesen - Universitäten und Gymnasien, in: Hammerstein, Notker (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, München 1996, S. 197-374, hier S. 256ff, S. 301.
[2] Saal, Friedrich Wilhelm, Das Schul- und Bildungswesen, in: Kohl, Wilhelm (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 3, Das 19. und das 20. Jahrhundert, Wirtschaft und Gesellschaft, Düssedorf 1984, S. 533-618, hier S. 538.
[3] Vgl. Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 537.
[4] Seifert, Das höhere Schulwesen 1996, S. 331.
[5] Seifert, Das höhere Schulwesen 1996, S. 301.
[6] Seifert, Das höhere Schulwesen 1996, S. 537f.
[7] Seifert, Das höhere Schulwesen 1996, S. 304.
[8] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 537f.
[9] Seifert, Das höhere Schulwesen 1996, S. 281, 303.
[10] Z.B. in Dülmen: 1630 wurde hier für die Lateinschüler eine gesonderte Klasse errichtet, für die der Rektor zuständig war. Der Konrektor unterrichtete in seiner Abteilung in den Elementarfächern, sowie in den Anfängen der lateinischen Sprache. Ein Untermeister (Hypodidaskulus) unterwies auch Mädchen Vgl. dazu Bloch Pfister, Alexandra, Geschichte des Dülmener Schul- und Bildungswesens, in: Sudmann, Stefan (Hg.), Geschichte der Stadt Dülmen, Dülmen 2011, S. 705-740, hier S. 706.
[11] Wahle, Walter. Laurentianum. Aufsätze über das Gymnasium zu Arnsberg, 1971, S. 11.
[12] Bruning, Jens, Zwischen Humanismus und Reformation: Hintergründe und Aspekte zur Konstituierung des neuzeitlichen Schul- und Bildungswesen im Weserraum 1500-1650, in: Bulst, Neithard u.a. (Hg.), Die Weser - ein Fluss in Europa, Schloß Brake 2001, S. 93-122, hier S. 103f.
[13] Neugebauer, Wolfgang, Niedere Schulen und Realschulen, in: Hammerstein, Notker und Ulrich Herrmann (Hg.), Handbuch der Bildungsgeschichte Bd. 2, 18. Jahrhundert, München 2005, S. 213-261, hier S. 217f.
[14] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 537.
[15] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 543.
[16] Holzem, Andreas, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570-1800, Paderborn 2000, S. 27ff.
[17] Rothert, Hermann, Westfälische Geschichte, 3. Bd., Absolutismus und Aufklärung, Gütersloh 1962 (2Aufl.), S. 361.
[18] Neugebauer, Niedere Schulen 2005, S. 219, 227.
[19] Vgl. dazu auch Hövelmann, Josef, Berichte über die Schulverhältnisse in der ehemaligen Herrschaft Dülmen. In: Heimatkalender für den Kreis Coesfeld, 1927, S. 66-69.
[20] Bruning, Zwischen Humanismus und Reform 2001, S. 105-108; Bloch Pfister, Alexandra, Geschichte des Dülmener Schul- und Bildungswesen, in: Geschichte der Stadt Dülmen, Dülmen 2011, S. 705-740, hier S. 708; Kirchen- und Schulordnung vom 13. Februar 1693; Kirchen- und Schulordnung vom 11. Oktober 1739, in:. Scotti, Johann Josef (Bearb.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem Königlich Preußischen Erbfürstenthume Münster [...] Vom Jahre 1359 bis zur französischen Militair-Occupation und zur Vereinigung mit Frankreich und dem Großherzogthume Berg in den Jahren 1806 und resp. 1811 ergangen sind, Bd. 1, Münster 1842, S. 277-281, S. 313-315, S. 402-404; Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 539.