Kirche und Kirchhof im Dorf > "Kirchhöfer"
Christof Spannhoff
Abenteuer Leben: der Kirchhof
Vom sozialen Brennpunkt zur
"guten Stube" des Dorfes
Wer heute an einen westfälischen Dorfkirchhof denkt, dem erscheinen beschauliche Bilder vor dem geistigen Auge. Die Vorstellung eines von Linden bestandenen und von einer bemoosten Sandsteinmauer umsäumten Kirchplatz entsteht. Ein Häuserring umschließt ihn. Neoklassizistische Häuserfronten wechseln sich mit liebevoll restaurierten Fachwerkbauten des 17. und 18. Jahrhunderts ab. Diese Idylle wird durch kleine Geschäfte und urige Gaststätten unterstützt. Bei einem kühlen Glase Bier im Schatten der Linden wird so mancher Besucher seufzend denken: "Ach, die gute alte Zeit!" - Aber der Historiker fragt kritisch: War die "alte Zeit" wirklich so idyllisch? - Spiegelt die heutige Gestalt der Dorfkirchhöfe wirklich ein Stück Vergangenheit wider? - Selbstverständlich nicht! Forschungen haben ergeben, dass der Kirchhof samt seiner jeweiligen Bewohner in den letzten Jahrhunderten einem einschneidenden Wandel unterlag. Im 17. und 18. Jahrhundert war der Kirchhof kulturelles und administratives Zentrum des gesamten Ortes. Er war sowohl letzte Ruhestätte der Toten als auch Wohnraum der Lebenden. Hier lebten der Pfarrer, der Küster, der Organist, der Kaplan oder Vikar, die "Lichtmutter", die für die Kerzen in der Kirche zuständig war, der Lehrer, da das Schulwesen damals noch in kirchlicher Hand lag, der Totengräber und andere Menschen mit kirchlichen Aufgaben.
Auch die Vertreter der weltlichen Gewalt waren hier ansässig. Der Kirchspielsvogt und seine Helfer fanden sich ebenfalls oft am Kirchhof - ebenso der "Chirurgus". Die Kirchhofbebauung des ausgehenden Mittelalters bestand aus Speicherbauten, den "Spiekern", die rund um das Gotteshaus gelegen waren. Sie gehörten Klöstern, die sie zur Lagerung ihrer Abgaben nutzten, oder zählten zu größeren Höfen der Umgebung. Ab ca. 1500 wurden diese ehemals ausschließlich der Lagerung dienenden Fachwerkbauten zunehmend als Wohnraum genutzt. Die archivalischen Quellen vieler westfälischer Orte erzählen von dieser Tatsache. In den engen Räumen der Spieker lebten Tagelöhner und kleine Handwerker mit ihren Familien, die für ihre Wohnung Abgaben an die Hauseigentümer zu entrichten hatten. Der Kirchhof beherbergte also - neben den geistlichen und weltlichen Funktionsträgern - auch die niederen sozialen Schichten der Dorfgemeinschaft, die sich in den klösterlichen und großbäuerlichen Speicherbauten häuslich niederließen. In dieses Bild passt, dass sich in vielen Orten auch das Armenhaus, ebenfalls als kirchliche Institution, am Kirchhof befand.
Auf dem Kirchhof herrschte ein besonderes Recht, das durch die Mauer abgegrenzt war. Seine Bewohner unterlagen nicht der weltlichen, sondern der kirchlichen Gerichtsbarkeit und Steuerhoheit. Aus diesem Grunde erstaunt es nicht, dass es an solchen Kirchhöfen immer wieder zu Konflikten zwischen geistlichen und weltlichen Herren kam. Diesen Umstand drücken beispielsweise die Quellen über die Verkleinerung von Kirchhöfen aus.
Die armen Bewohner versuchten ihr karges Auskommen dadurch zu verbessern, dass sie wirtschaftliche Nischen in der Dorfgemeinschaft besetzten. So webten sie Leinen, handelten damit oder versorgten die Kirchgänger sonntags mit alkoholischen Getränken. Daraus konnten sich gutlaufende Geschäfte bzw. gut besuchte Gastwirtschaften entwickeln. Das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert kennt für Dörfer mit stetem wirtschaftlichen Wachstum auch wohlhabende Kaufleute am Kirchhof, die ihre ehemaligen Wohnspeicher zu repräsentativen Gebäude umbauten. Sie gaben dem Kirchhof so sein heutiges idyllisches Gepräge, das unsere Vorstellung eines westfälischen Dorfkirchhofes geformt hat. Der Lebensraum Kirchhof avancierte also von einem kirchlichen "Armenhaus" zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mittelpunkt des Dorfes. Somit war der Kirchhof nicht nur ein um die Kirche gelegener Raum, auf dem Tote beigesetzt wurden oder ein besonderes Recht galt, sondern er war auch ein besonderer menschlicher Lebens- und sich entfaltender Wirtschaftsraum. Hinter der für den Tourismus inszenierten Idylle des Kirchhofes sind also manch' spannende Entwicklungen und Geschichten der Vergangenheit verborgen. Es lohnt sich, hinter die Kulissen zu schauen.
Die Kirche und der Kirchhof im Dorf -
Berichte aus Westfalen im
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Kirche und Fachwerkspeicher im
Dorfkern von Günne, 1930
Kirchplatz Delbrück mit Fachwerkhäusern
des 17.-19. Jhs., 1976
Fachwerkhäuser und Ziehbrunnen
am Kirchplatz Dinker, 1930
Fachwerkensemble am Kirchplatz
zu Halle, 1951