Kirche und Kirchhof im Dorf > Simultaneum: Turm


Turm der St. Servatius-Kirche in Brunskappel, 1930 (Ausschnitt) / Münster, Westfälisches Landesmedienzentrum, 01_2264







Anja Pförtner / Dennis Kramer

Tumult im Turm

Im Jahr 2003 fand in Berlin der erste ökumenische Kirchentag statt. Mehr als 200.000 Katholiken und Protestanten feierten, diskutierten und beteten friedlich unter einem Dach, und am Ende der Veranstaltung wurde von beiden Konfessionen eine positive Bilanz gezogen. Doch so friedlich wie in Berlin war der Umgang der beiden christlichen Konfessionen nicht immer. Das Verhältnis war vielmehr bis in die jüngste Vergangenheit von Konflikten geprägt. Dies galt besonders für ländlich geprägte Gegenden, wie zum Beispiel für das Dorf Niederwenigern in der Grafschaft Mark.

Die Grafschaft Mark gehörte zu einem großen Gebiet, um das sich seit dem  Dortmunder Rezess von 1609 zwei mächtige Herrscherfamilien stritten. Während der Auseinandersetzungen konnte keiner der Parteien die beanspruchten Gebiete ganz unter ihre Kontrolle bringen. Erst 1666 einigten sich der Pfalzgraf von Pfalz-Neuburg und der Kurfürst von Brandenburg auf eine endgültige Teilung: Die Mark fiel, ebenso wie Kleve und Ravensberg, an die Brandenburger, Jülich und Berg an den Pfalzgrafen. Erst dann konnten die protestantischen Brandenburger wie die katholischen Pfalz-Neuburger beginnen, die eigene Konfession einheitlich bei den neuen Untertanen einzuführen.

Im Mittelpunkt des Dorfes steht die Pfarrkirche St. Mauritius. In der Vergangenheit war diese Kirche und der sie umgebende Kirchhof das soziale und religiöse Zentrum der Gemeinde: sie dienten als Versammlungsort ebenso wie als Friedhof, waren gleichzeitig Ort des Gesprächs und der stillen Trauer. Die Glocken des Turms riefen zur täglichen Arbeit wie zum sonntäglichen Kirchgang und strukturierten so den Tagesablauf der Menschen. Im 17. Jahrhundert aber war der friedliche Alltag im Dorf durcheinander geraten: In einem langwierigen Prozess war es nach der Reformation zu einer Spaltung der einst geschlossenen Gemeinde gekommen. Neben den katholischen Glauben, der bis dahin alle Menschen verbunden hatte, war die evangelische Lehre getreten, der sich eine Minderheit der Bewohner angeschlossen hatte. Neben dem katholischen Pfarrer gab es in der Kirche eine Vikariatsstelle, die seit 1607 mit evangelischen Vikaren besetzt wurde. Katholiken und Protestanten waren so gezwungen, sich den Raum in der Kirche zu teilen: die Katholiken feierten mit ihrem Pfarrer die Messe am Hochaltar, die Protestanten mit ihrem Vikar den Gottesdienst an einem Seitenaltar, der zur Vikariatsstelle gehörte.

Im Jahre 1650 wurde die Vikariatsstelle Konrad Heinrich Kruse übertragen. Mit den Einkünften sollte er zuerst sein Studium finanzieren und dann die Stelle übernehmen. Für die Zeit des Studiums vertrat ihn sein Vater Georg Kruse, der bereits evangelischer Pastor in der Nachbargemeinde Blankenstein war. Er war entschlossen, für die protestantische Gemeinde in Niederwenigern endlich einen festen Platz in der Kirche und sichere Nutzungsrechte zu erlangen. Zu diesem Zweck sollte ein verbindlicher Vertrag mit den Katholiken geschlossen werden. Georg Kruse hoffte, dass durch diesen Vertrag die Konflikte zwischen den Konfessionen geregelt werden konnten, bevor sein Sohn die Vikariatsstelle antrat. Aber auch die Katholiken hatten kurz zuvor mit Georg Padberg einen neuen Pfarrer bekommen, der als strenger Verfechter des katholischen Glaubens galt. So standen sich zwei gut geschulte Theologen gegenüber, die schon bald heftig miteinander in Streit gerieten.

Im Jahr 1654 kam es daraufhin zu schweren Auseinandersetzungen zwischen den katholischen und den evangelischen Dorfbewohnern. Auslöser war ein Schreiben der klevischen Landesregierung. Darin forderte Kurfürst Friedrich Wilhelm den Amtmann im benachbarten Blankenstein auf, die Protestanten in Niederwenigern bei der Ausübung ihrer Religion zu schützen. Beide Konfessionen sollten die Pfarrkirche von nun an nutzen dürfen. Katholiken und Protestanten sollten "die Tagstunden bequemlich unter sich teilen und die eine um die andere ihren Kirchendienst in der erwähnten Kirche dergestalt verrichten, dass kein Teil von dem anderen verhindert werde". Damit war die Pfarrkirche nicht länger eine katholische, sondern ebenso eine protestantische: Hatten die Protestanten vorher nur den Seitenaltar benutzen dürfen, sollten sie nun als gleichberechtigte Partner neben die Katholiken treten.

Als dieser Befehl bekannt wurde, besetzten einige katholische Gemeindemitglieder den Turm der Kirche und verwehrten den Protestanten den Zutritt. Auf Befehl des Landesherrn kam der Droste aus dem benachbarten Blankenstein und holte die Frevler gewaltsam aus der Kirche. Elf Personen wurden verhaftet.

Doch auch nach diesem Zusammenstoß kehrte keine Ruhe in Niederwenigern ein, denn die beiden Parteien führten den Streit auf juristischer Ebene weiter. 1666 formulierten die Katholiken einen Brief, in dem sie sechs gravamina, also Beschwerden, gegen den Drosten formulierten. In Bezug auf die Ereignisse von 1654 heißt es, die Lutheraner hätten die Kirche "mit gewehrter Handt eingenommen, die Catholischen terribiliter tractieret, die Schlösser von der Kirchen abgeschlagen, [und] elffen Persohnen gefangen genommen". Andere katholische Gemeindemitglieder seien darüber hinaus "alß Diebe und Schelmen gebunden und mit Schlegen gleich Hunde tractieret, […] ja die Frawleuthe auf offentlicher Straßen spolijrt [und] ausgezogen". In seiner Verteidigungsschrift weist der Droste alle Vorwürfe als falsch zurück: Er habe nur dem Befehl der Regierung gehorcht, um für die "Erhaltungh landtsfürstlichen Respects" zu sorgen.

Das Ergebnis des Streits war, dass die Protestanten für ihre Gottesdienste in das Vikarhaus "am Pott“ auswichen. Die Pfarrkirche wurde im Religionsvergleich von 1672 endgültig den Katholiken zugesprochen.

1751 wurde mit dem Bau einer neuen evangelischen Kirche begonnen, nachdem der Vorgängerbau zusammen mit dem Pfarr- und Schulhaus zwei Jahre zuvor durch ein Feuer zerstört worden war. Der Friedhof und die Kirchenglocken der katholischen Kirche wurden jedoch noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gemeinsam benutzt, was immer wieder zu Streitigkeiten führte. Erst 1844 bekamen die Protestanten einen eigenen Friedhof neben ihrer Kirche, 1874 kamen eigene Glocken hinzu.











Die Kirche und der Kirchhof im Dorf -
Berichte aus Westfalen im
konfessionellen Zeitalter