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Schulverwaltung und Bildungsentwicklung im 19. Jahrhundert


 
 
 
Im 19. Jahrhundert begann sich das Schulwesen in seiner heutigen Form herauszubilden. Die französische Herrschaft hatte zu einer Zentralisierung, Systematisierung und Bürokratisierung der Verwaltung beigetragen, aus der der moderne Rechts- und Verwaltungsstaat entstand, in dessen Zuständigkeitsbereich auch das Schulwesen fiel. In der 1815 entstandenen preußischen Provinz Westfalen wurde das Höhere Schulwesen vom Provinzialschulkollegium beaufsichtigt, das 1825 aus dem Königlich Preußischen Konsistorium als oberstem Aufsichtsgremium für das Schulwesen hervorging. Dieses hatte, wie der Oberpräsident der Provinz Westfalen, seinen Sitz in Münster. Alle anderen mittleren und unteren Schulen (Elementar-, Bürger- und Privatschulen) unterstanden den drei Bezirksregierungen in Münster (Gebiet des vormaligen Bistums Münster), in Minden (Minden und Ravensberg preußisch seit 1648 bzw. 1614, ab 1719 preußische Herrschaft Minden-Ravensberg, zusammengelegt mit dem Bistum Paderborn) und Arnsberg (Grafschaft Mark, preußisch ab 1609/66 und westfälischer Teil Kurkölns).[1] Die Schulaufsicht auf lokaler Ebene, d.h. über die Land- und Bauernschaftschulen verblieb, auch als Folge heftigen Widerstands der Kirche bis 1918 beim Pfarrklerus. Auf der nächst höheren Aussichtsebene wurden für Westfalen 134 Schulinspektionsbezirke gebildet, die zunächst ausschließlich von geistlichen, ab 1872 auch von weltlichen Inspektoren beaufsichtigt wurden.[2]

Mit der Provinzgründung entstand in Westfalen erstmals der Plan, ein zusammenhängendes Schulwesens aufzubauen. Ausgearbeitet wurde er vom Berliner Staatsrat Süvern für alle preußischen Westprovinzen im Zuge des Wiederaufbaus der preußischen Verwaltung in Westfalen. Der Plan sah eine "einzige Anstalt der Nationalerziehung" vor und reichte von Elementar- über Stadtschulen bis zu Gymnasien. Zwar fand er die Zustimmung der westfälischen Instanzen, scheiterte 1819 aber am Widerstand des preußischen Adels und Klerus.[3] Lediglich das höhere Schulwesen wurde fortan der Regierung direkt unterstellt und in ganz Preußen angeglichen, wodurch sich das höhere und das niedrige Schulwesen ohne einen direkten Zusammenhang auseinanderentwickelten. Letztlich führte dies zur Statusbewahrung höherer Schichten, zumal der Zugang zu vielen Berufen und Beamtenstellen zunehmend ausschließlich über die nur innerhalb des höheren Bildungswesens zu erwerbenden Berechtigungen geknüpft wurde.

Sichtbar wurde diese Entwicklung in der staatlichen Förderung weniger großer bestehender Gymnasien (katholischerseits in Münster, Paderborn und Arnsberg; evangelischerseits in Minden, Herford, Bielefeld, Soest, Hamm und Dortmund sowie Detmold und Lemgo), zu der parallel die Herabstufung zahlreicher Ordensgymnasien zu Progymnasien sowie die Umwandlung von Latein- in Stadt- und Bürgerschulen erfolgte.[4] In zahlreichen westfälischen Kleinstädten verhinderte diese staatliche Regulierung bis Anfang der 1870er Jahre die Neugründung von Gymnasien: Münster war zwischen 1821 und 1863 die größte katholische, Dortmund die größte evangelische gymnasiale Bildungsanstalt. In diesem Zeitraum schlossen 1952 Abiturienten ihre Ausbildung in Münster, 1511 in Paderborn und 588 in Arnsberg ab, denen insgesamt 1956 evangelische Absolventen aus Dortmund, Soest, Bielefeld, Minden, Herford und Hamm gegenüberstanden.[5]

Die Gymnasien vermittelten mit strenger Disziplin ab 1816 ein neuhumanistisches Bildungsideal, wozu der Unterricht in Griechisch zählte. Erst ab 1837 wurde an diesen Schulen die Stundenzahl des Unterrichtsfachs Griechisch zugunsten von Latein, Deutsch und Mathematik beschränkt.[6] Als 'Gelehrtenschulen' regelten die Gymnasien den Universitätszugang (1834 Abiturprüfungsordnung). Verzögert gestaltete sich der Ausbau der Mädchenbildung: 1837 standen in Westfalen erst 12 Mittelschulen Mädchen offen, deren Erziehungsziele sich am traditionellen Bild der Frau als Mutter, Hausfrau und Ehegattin orientierten.[7] Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm der Ausbau der Mädchenbildung zu.

Mitte des 19. Jahrhunderts verschärften sich die Spannungen zwischen der fortschrittlichen Wirtschafts- und Gewerbepolitik des preußischen Staates und seiner restriktiven Schulpolitik. Verschärft wurde diese Entwicklung durch die wachsende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und den steigenden Fachkräftebedarf im Zuge der Industrialisierung.[8] Dem trug die Gründung von Realschulen ab 1859 Rechnung, die in den oberen Klassen einen deutlichen Schwerpunkt in den Fächern Naturwissenschaften und Mathematik legten. Die Realschulbewegung, getragen von städtischen Bürgern, gilt als das eigentlich vorwärtstreibende und modernisierende Element der Schulentwicklung im 19. Jahrhundert.[9] Bereits 1832 hatte das preußische Kultusministerium mit einer Instruktion zu Entlassungsprüfungen, welche die Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Militärdienst und damit den Zugang zu mittleren Staatsdiensten eröffneten, eine Normierung der unterschiedlichen Formen von Bürger- und Stadtschulen eingeleitet. Die Zahl der von den Städten unterhaltenen höheren Bürgerschulen wuchs in der ersten Jahrhunderthälfte rasch an.[10] 1837 gab es bereits zehn höhere Bürgerschulen in Westfalen (u.a. in Hagen und Siegen), in denen neben Englisch Mathematik und kaufmännische Fächer unterrichtet wurden. Aus ihnen entstanden mit der wachsenden Bedeutung von Real-Fächern im Zuge der Industrialisierung ab 1859 die Realschulen erster (Realgymnasium ab 1882) und zweiter Ordnung (Oberrealschule). Die Realschulen 1. Ordnung führten Latein und gehörten dem höheren Bildungswesen an, diejenigen 2. Ordnung boten kein Latein an und blieben Mittelschulen. 1900 wurde auch die Realschule 2. Ordnung, zusammen mit der Oberrealschule (die sich aus dem Gewerbeschulwesen entwickelt hatte) dem Abitur der humanistischen Gymnasien gleichgestellt. Einen Wandel markierte die liberale Kulturpolitik unter Kulturminister Adalbert Falk. Die Schulkonferenz von 1872 leitete den Aufbau eines Mittelschulwesens ein: Vermehrt kam es nun zur Umwandlung von Rektorats- und Bürgerschulen in Progymnasien oder Mittelschulen, die mit Vergabe des Abschlusses der Mittleren Reife den Übergang zu höheren Fach- und Handelsschulen ermöglichten. Der in den 1870er Jahren ausbrechende Kulturkampf führt zur Schließung zahlreicher Klosterschulen, wovon vor allem Frauenorden und Mädchenbildung betroffen waren. Die Schulkonferenz von 1890 sprach sich für den weiteren Ausbau der gymnasialen Bildung ein: Zwischen 1882 und 1914 wuchs die Zahl der höheren Schulen von 41 auf 114. Damit einher ging die Gleichsetzung von Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule ab 1900: Alle ermöglichten nun den uneingeschränkten Universitätszugang.[11]

Betrug die Zahl der höheren Schüler in Westfalen im Jahre 1825 nur rund 2000, so war sie 1882 bereits auf 9200, 1914 auf über 27 000 gestiegen: Bezogen auf die Gesamtbevölkerung bedeutet dies für 1825 einen Anteil höherer Schüler von 0,17%, für 1882 von 0,45% und für 1914 von 0,6%. Die Zulassung von Frauen zum Studium ab 1908, begleitet von einem Ausbau des öffentlichen Mädchenbildungswesens (1914 besaß Westfalen 40 Lyzeen mit je 10 Klassen sowie neun Oberlyzeen mit je drei Klassen), stellte einen weiteren Baustein zu einem zusammenhängenden, allmählich gleiche Partizipationschancen gewährenden Schul- und Bildungssystem dar.[12]

Ein Berufsbildungswesen bildete sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts heraus. Bereits 1814 und 1816 eröffneten Essen und Bochum Schulen für Bergarbeiter. Die in den 1820er Jahren auf Veranlassung des Handelsministeriums gegründeten Gewerbeschulen (u.a. in Münster, Bielefeld, Bochum, Iserlohn und Hagen), stießen auf eine wachsende Nachfrage, entwickelten sich zu allgemeinbildenden Schulen und verschmolzen Ende des 19. Jahrhunderts mit den Realschulen. Aus den Sonntagsschulen für Handwerker, die erste entstand 1830 in Soest, bildeten sich gewerbliche Fortbildungsschulen zunächst als Abendschulen heraus.[13]

Das Elementarschulwesen entwickelte sich in der ersten Jahrhunderthälfte auf der Basis der bereits Ende des 18. Jahrhunderts eingeleiteten Reformen. 1825 verpflichtete eine preußische Kabinettsordre alle Kinder ab fünf Jahren zum achtjährigen Schulbesuch (bis zum vollendeten 14. Lebensjahr). Dadurch wuchs die Zahl der Elementarschulen zwischen 1821 und 1838 in Westfalen von 1709 auf 1849. Auch die Schulpflicht setzte sich durch: Zwischen 1816 und 1870 stieg der Schulbesuch auf dem Land von 60 auf 90%. Die Schulbesuchsrate betrug in Westfalen 1861 98%. 85,3% der Kinder besuchten zu diesem Zeitpunkt Landschulen, 14,7% städtische Einrichtungen. Die kirchliche Dominanz im Elementarschulwesen verringerte sich im 19. Jahrhundert dagegen nur langsam, 1840 und 1875 brachen zwischen den staatlichen und kirchlichen Institutionen Westfalens öffentlich ausgetragene konfessionelle Schulkonflikte aus: Der Staat beanspruchte das Recht auf Lehrerwahl und Schulaufsicht; das Bistum war nicht bereit, auf diese Zuständigkeitsbereiche zu verzichten. In beiden Fällen kam es zu Kompromissen: Eine endgültige Trennung von Schule und Kirche wurde nicht vollzogen. Der Konflikt flackerte heftig in der Weimarer Republik und in einem schwächeren Grade nochmals nach 1945 auf. Bis 1893 waren die niederen Küsterdienste mit dem Amte des Volksschullehrers verbunden, die lokale Aufsicht durch den Pfarrer fiel erst 1918.[14]

Die Kommunen hatten aufgrund der preußischen Städteordnung, die Schulverwaltung als Gemeindeaufgabe betrachtete, beträchtlichen Gestaltungsfreiraum und ein Mitspracherecht bei der Entwicklung ihrer Schulen. Je nach Region und Konfession existierten unterschiedliche Lehrpläne.[15]

Inhaltlich setzte nach der gescheiterten Revolution 1848 eine konservative Wende vor allem im Volksschulwesen ein. Schule sollte die Aufgabe haben, dem "praktischen Leben in Kirche, Familie, Beruf und Staat zu dienen." Die Stiehl‘schen Regulative von 1854 präferierten die einklassige Volksschule, legten sechs Wochenstunden Religionsunterricht fest; Auswendiglernen blieb die vorherrschende Unterrichtsmethode. Wurden die antiemanzipatorischen Erziehungsziele in der Volksschule 1872 unter Kulturminister Falk gelockert, rückte unter Kaiser Wilhelm II. die vaterländische Erziehung durch die politisch instrumentalisierte (Volks-)Schule in den Vordergrund.[16]

Obwohl 1886 immer noch drei Viertel aller Landschulen einklassig geführt wurden, näherte sich das untere Bildungswesen von Stadt und Land an. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte mit dem Bevölkerungswachstum und der fortschreitenden Industrialisierung ein Ausbau des Volks- und Realschulwesens ein. Die Klassenzahlen nahmen zu, innerhalb der Schulen differenzierte sich der Unterricht und gleichzeitig nahm die Schüler-Lehrer-Relation ab. Schließlich wurde 1888 das Schulgeld für Volksschulen aufgehoben und Staatsbeiträge gesetzlich fixiert.[17] Das wachsende Interesse von Staat und Gesellschaft am Ausbau der Volksbildung schlug sich in zahlreichen repräsentativen Neubauten von Schulen um die Jahrhundertwende nieder.

In der Veränderung der Lehrerausbildung und ihrer – erst spät geschaffenen – institutionellen Verbindung mit den übrigen Schulinstitutionen schlägt sich die wachsende Annäherung von niederem und höherem Schulwesen nieder. In der ersten Jahrhunderthälfte gab es in Soest und Detmold evangelische Seminare, in Münster, Paderborn und Arnsberg katholische Normalschulen für Lehrer, ab 1825 in Büren ein katholisches Lehrerseminar. 1867 folgte ein weiteres evangelisches Seminar in Hilchenbach; 1876 ein katholisches in Rüthen. Die Vorbildung der Bewerber erwies sich vielfach als unzureichend, da die Seminarausbildung nicht an die Elementarschule anschloss: Zwischen dem Entlassungsalter der Volksschüler und dem Eintrittsalter der Seminaristen klaffte eine mehrjährige Lücke. 1874 schuf der Staat Präparandenanstalten zur Vorbildung der Seminarbewerber. Erst nach 1900 folgten im Zusammenhang mit der Reorganisation des gesamten höheren Bildungswesens in rascher Zahl zahlreiche Seminar-Neugründungen beider Konfessionen, die alle mit Präparanden-Anstalten verbunden waren.[18] Der Lehrerberuf wurde nun von einem starken Professionalisierungsschub erfasst.
 
Anmerkungen
[1] Saal, Friedrich Wilhelm, Das Schul- und Bildungswesen, in: Kohl, Wilhelm (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 3, Das 19. und das 20. Jahrhundert, Wirtschaft und Gesellschaft, Düssedorf 1984, S. 533-618, hier S. 559ff., 573.
[2] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 559.
[3] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 560. Ein für alle preußischen Provinzen gültiges Volksschulgesetz kam erst 1906 zustande.
[4] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 573.
[5] Wahle, Walter, Laurentianum. Aufsätze über das Gymnasium zu Arnsberg, 1971, S. 120; Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 573ff.
[6] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 573.
[7] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 576ff.
[8] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 572ff.
[9] Jeismann, Karl-Ernst, Preussische Bildungspolitik vom ausgehenden 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, In: Arnold, Udo (Hrsg.), Zur Bildungs- und Schulgeschichte Preussens, Lüneburg 1988, S. 9-37, hier S. 30.
[10] Jeismann, Karl-Ernst, Die Bildungsinstitutionen zwischen 1815 und 1945, in: Jakobi, Franz-Josef (hrsg.), Geschichte der Stadt Münster, Bd. 2, S. 663-727, hier S. 681.
[11] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 584, 592, 595.
[12] Wischermann, Clemens, An der Schwelle der Industrialisierung (1800-1850). In: Kohl, Westfälische Geschichte 1984, S. 41-162, hier S. 44; Teuteberg, Hans Jürgen, Vom Agrar- zum Industriestaat (1850-1914). In: Kohl, Westfälische Geschichte 1984, S. 163-312, hier S. 166; Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 578. S. 595ff.
[13] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 579f.
[14] Jeismann, Bildungsinstitutionen, S. 695-700; Kuhlemann, Frank-Michael, Niedere Schulen, in: Berg, Christa (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungs¬geschichte, Bd. 4, München 1991, S. 179-278, hier S. 192; Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 561, 569, 572, 582.
[15] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 561, 582.
[16] Lundgreen, Peter, Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, Teil 1: 1770-1918, Göttingen 1980, S. 90, 92; Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, 592.
[17] Lundgreen Sozialgeschichte 1980, S. 181, 194, 197.
[18] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 563, 588ff.