QUELLE

DATUM1933-01-16   Suche   Suche DWUD
TITEL/REGESTDas Orakel von Lippe. Hitler-Goebbels Im 100%igen Machtanspruch bestärkt. Zeitungsartikel aus: Vossische Zeitung, 16.01.1933
TEXT[...] aus der alten Geschichte ist bekannt, daß Orakel zweideutig sind. Krösus hielt den Endsieg für gesichert, nachdem die delphische Priesterin gegen eine Extrahonorar in Gold versichert hatte, er werde beim Überschreiten des Halys "ein großes Reich zerstören". Die optimistische Deutung war falsch; das Reich, das zerstört wurde, war sein eigenes. Der nationalsozialistische Führer hat die Wahlen im Lippe-Detmold zum Rang eines Gottesurteils erhoben. War es ihm ernst mit der Anrufung des Orakels? Glaubt er wirklich, einen objektiven Maßstab gefunden, eine echte Probe bestanden zu haben? Ist der Gewinn, den seine Partei ausschließlich auf Kosten der Deutschnationalen erzielt hat, ein wirklicher Beweis dafür, daß der Ebbe eine neue Flut folgt, die alle Dämme zerbricht?

Die "freudige Erregung", die nach Münchner Meldung im Hauptquartier des "Führers" herrscht, ist offenbar echt. Man war anscheinend trotz der Siegesfanfaren, die seit Tagen den Redefeldzug Hitlers durch das kleine Land und seine armen Dörfer begleiteten, innerlich unsicher. Man hatte ja auch im Dezember in Thüringen alles darangesetzt, die Gemeindewahlen durch den Einsatz aller Mittel zu einem Prestigeerfolg zu gestalten. Es war nicht völlig ausgeschlossen, daß auch diesmal zwischen Lipp und Kelchesrand ein Malheur passierte. Jetzt ist man erlöst, weil von 100.000 Stimmen immerhin fast 39.000 auf nationalsozialistische Kandidaten entfielen, 5.000 mehr als im Dezember, aber immer noch fast 4.000 weniger als im Juli.

Wer sich für sein letztes Geld ein Los kauft, um sich durch den Hauptgewinn zu sanieren, nimmt es schon als ein gutes Zeichen, wenn er wenigstens mit dem Einsatz herauskommt. Wird Hitler kritischer, skeptischer, vorsichtiger, vorausblickender sein? Es spricht alles dafür, daß er von vornherein entschlossen war, auch dem zweideutigsten Orakelspruch den Sinn unterzulegen, der seinem ganzen Wesen entspricht: Fortsetzung des Kampfes um die "ganze Macht", aus Scheu vor der Verantwortung, aus dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, aus dem Zweifel an der Bewährung seiner "Bewegung" bei der Feuerprobe der Leistung.

Wer sich um ein sachliches Urteil müht, muß zunächst erneut feststellen, daß Lippe kein Schulfall für das Reich ist, sondern ein ganz besonderes Ding. Schon die Tatsache, daß die Verwaltung seit 1918 unverändert unter sozialdemokratischer Führung steht, ist heute fast singulär. Der "Sturz des roten Regimes" konnte hier immerhin den notleidenden Bergbauern und dem verarmten Mittelstand der kleinen Städte als etwas hingestellt werden, was dem dumpfen Drang nach sichtbarer Bekundung der Unzufriedenheit ein erreichbares Ziel bot. Für die Reichspolitik hat die nationalsozialistische Hetze kaum etwas voraus vor der kommunistischen Propaganda des Wortes und der Tat. Nach außen hin ist die "Schlacht um Lippe" als die Marne-Entscheidung über Deutschland behandelt worden, in der Einzelagitation aber wurde der Kurswechsel für das Land in den Vordergrund gestellt. Wie das geschah, verrät der "Angriff" durch den Satz, das Land habe die Wahl zwischen der sicheren Rettung oder "Offenbarungseid, Gerichtsvollzieher, Stempelstelle und dem Strick". Die Dorfbewohner von Lippe, die zu arm und zu müde sind, um eine Zeitung zu lesen, haben nicht den Anschauungsunterricht durchgemacht, der in Thüringen dafür sorgte, daß die nationalsozialistischen Reden nur noch in demselben Verhältnis für bare Münze genommen werden, wie die Milliarden-Scheine der Inflationszeit.

Daß es völlig verfehlt ist, die örtlichen Verhältnisse von Lippe zu verallgemeinern, ist wiederholt betont worden. Schon die Tatsache, daß das Land fast keine Katholiken zählt, beweist, wie falsch es wäre, die Wahlziffern des 15. Januar auf das Reich umzurechnen. Nur ein negativer Schluß ist möglich: Wenn schon in diesem völlig protestantischen und überwiegend dörflichen Gebiet die konzentrierte und massierte Hitler-Propaganda, die diesmal noch mehr als je alles an alles setzte und vor nichts zurückschreckte, nur eine Minderheit der Wähler - ein 61 v.H. stehen gegen 39 - zu gewinnen vermöchte, so ergibt sich zwingend, daß der 100%ige Machtanspruch eine leere Anmaßung ist, die aus Täuschung und Selbsttäuschung zusammengesetzt ist.

Völlig widerlegt ist auch erneut die Behauptung, der Nationalsozialismus sei ein Gegengift gegen die bolschewistische Ansteckung. General Litzmann, der sich gestern wieder in öffentlicher Rede zu brutalen Ausfällen gegen den Reichspräsidenten hinreißen ließ, hat vor dem Eintreffen der Wahlergebnisse den Kampf um Lippe als Beweis für die antimarxistische Mission seiner Partei hingestellt. "Wie der linke Fuß Hermanns auf dem Denkmal im Teutoburger Wald das römische Feldzeichen, den Adler, zu Boden trete, so zerstampfe Hitler den Marxismus, der vernichtet werden müsse, damit es wieder besser im deutschen Lande werde." Der von Hitler persönlich zerstampfte Marxismus hat in Lippe seit dem Juli seine Prozentziffer von 38 auf 41 v.H. gesteigert, während die beiden rechtsradikalen Parteien in der gleichen Zeit von 50 auf 45 v.H. zurückgingen.

Die nationalsozialistischen Stimmen sind nicht im Kampf gegen zersetzende Tendenzen gewonnen, sondern im Gegenteil Früchte einer Arbeit, die jede Einordnung in politische und gesellschaftliche Notwendigkeiten negiert. Die Deutsch-Nationalen haben dieser Zerstörungsarbeit, die als Sabotage jeder aufbauenden Tätigkeit wirkt, keine wirksame Abwehr entgegenzusetzen vermocht. Sie haben durch den Wettlauf im Radikalismus nur die Radikalisierung beschleunigt, die zuerst auf Kosten der Mitte ging und jetzt sie selbst auffrißt.

Um so höher ist es zu bewerten, daß die Mitte und vor allem die Sozialdemokratie sich gut behauptet haben. Hier sind die Ansatzpunkte für Beruhigung und Sicherung in Staat und Wirtschaft, wenn erst die Sintflut der Not zurückgeht.

Das Orakel hat gesprochen, so wie es Hitler sich gewünscht. Vielleicht wird er eines Tages einsehen, daß auch für sein "Reich" das Wort gilt: Wen die Götter verderben wollen, den führen sie in Verwirrung.


QUELLE    Helmert-Corvey, Theodor | Nationalsozialismus - Wahl in Lippe | Dokument 12, S. 46-48


PROJEKT    Diaserie "Westfalen im Bild" (Schule)
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