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(90 KB)   Anna Schmitz (geb. 1900), Schneiderin, und Clara Pieper, Schneidermeisterin  / Münster, Landwirtschaftliches Wochenblatt Westfalen-Lippe / Gisbert Strotdrees   Informationen zur Abbildung

Anna Schmitz (geb. 1900), Schneiderin, und Clara Pieper, Schneidermeisterin  / Münster, Landwirtschaftliches Wochenblatt Westfalen-Lippe / Gisbert Strotdrees
FAMILIESchmitz
VORNAMEAnna


GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1900-02-25   Suche
GEBURT ORTGütersloh
EHEPARTNER1923: Johannes Schmitz


VATERMahne, Wilhelm
MUTTERFriesenhausen, Agnes


BIOGRAFIEIhren ersten Traumberuf hat Anna Schmitz bis heute nicht vergessen: "Als junges Mädchen wollte ich so gerne Schreinerin werden", bekennt die 90jährige Frau mit einem leisen Seufzer. Ihr Vater war Schreiner und besaß eine kleine Werkstatt in Gütersloh. "Er hätte mich doch gut ausbilden können", sagt sie, und Entrüstung mischt sich in ihre Stimme. "Ich hätte dann liebend gerne seine Tischlerei weitergeführt."

Eine Frau in einem Männerberuf ist noch heute nicht selbstverständlich. Doch damals, zu Kaisers Zeiten, galt so ein Beruf für eine Frau schlicht als unschicklich. "Damals", so Anna Schmitz, "hätte man über so was nur gespottet und gelacht." Die Leute, so meint sie, hätten sich wohl die Mäuler zerrissen, und als Kunden wären wohl nicht mehr viele in die Tischlerei gekommen.

Anna Schmitz ist sieben Wochen jünger als dieses Jahrhundert. Sie wurde am 25.02.1900 geboren als älteste Tochter des Tischlers Wilhelm und seiner Ehefrau Agnes geborene Friesenhausen.

Als sie elf Jahre alt war, mußte ihr Vater die Tischlerei in Gütersloh verkaufen, um einen drohenden Bankrott abzuwenden. Die Familie Mahne zog aufs Land, von Gütersloh nach Spexard. Hier besuchte Anna Schmitz die Landschule. Drei Jahre später hielt sie das Abschlußzeugnis in Händen, doch der Traum von der Schreinerlehre war längst ausgeträumt. "Als nächstes kam für mich nur Schneiderin in Frage", damals ein gebührender Beruf für Mädchen ihrer Schicht und ihres Alters. Doch auch daraus wurde zunächst nichts. Am 10.08.1914 sollte sie eine Lehrstelle in Rietberg antreten. Wenige Tage zuvor flatterte ein Brief ins Haus, in dem die Schneidermeisterin die Stelle kurzfristig "wegen der allgemeinen Kriegswirren" absagte.

Kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges mußte ihr Vater Soldat werden. "Meine Mutter bekam ganze 48 Mark Kriegsunterstützung", erinnert sich Anna Schmitz. "Wie sollte sie uns sechs Kinder davon sattkriegen? Ich war die Älteste, und da mußte ich etwas hinzuverdienen." Ihre erste Arbeitsstelle war eine Weberei in Gütersloh. Blaue Arbeiterjacken hatte sie im Akkord zu nähen, das Stück für 22 Pfennig Lohn. Niemand scherte sich darum, daß sie gerade erst 14 Jahre alt war: "Wenn man aus der Schule kam, dann war man kein Kind mehr."

Jeden Morgen um sieben Uhr begann sie - wie viele junge Mädchen und Frauen - ihre Arbeit in der großen Werkshalle. 120 Nähmaschinen ratterten gleichzeitig im Takt, über Transmissionsriemen angetrieben von einer Dampfmaschine. Während die alte Frau davon erzählt, hält sie unwillkürlich ihre Hände an die Ohren. "Es war ein entsetzlicher Lärm in der Fabrik. Als ich am ersten Tag nach neun Stunden Arbeit heimging, war ich ganz taub."

Etwa ein Jahr später entließ die Weberei viele Arbeiterinnen und Arbeiter, unter ihnen auch Anna Schmitz. Doch sie hatte ungeheures Glück: Durch eine Zeitungsannonce erhielt sie für zwei Jahre eine Stelle als Kindermädchen auf dem Gutshof Schulze Gassel nahe Münster.

Mit glänzenden Augen erinnert sich die betagte Frau an diese Zeit: Kinder versorgen, Essen vorbereiten, Putzen - das war ihre neue Hauptbeschäftigung, die körperlich und seelisch weitaus weniger anstrengend war als die Plackerei in der Webfabrik. Gutsherrlich ging es auf dem Hof schon zu, so Anna Schmitz: 'Die Herrschaften' aßen in der Guten Stube, wir, das Dienstpersonal, in der Küche. So war das eben damals, aber das hatte auch sein Gutes. Denn da konnten wir nehmen, was wir wollten." Das bedeutete viel in einer Zeit, als die Menschen in Deutschland dem "Steckrübenwinter" entgegenhungerten.

1917 kehrte Anna Schmitz nach Spexard zurück. Sie fand neue Arbeit bei den Miele-Werken in Gütersloh. Mädchen und Frauen arbeiteten inzwischen überall in der Kriegswirtschaft. Daß sie in Berufen arbeiteten, die vorher ausschließlich Männern vorbehalten waren, galt längst nicht mehr als unschicklich. Frauenarbeit hatte nun einen neuen Namen: "Patriotischer Hilfsdienst". So fand sich auch Anna Schmitz an einer Bandsäge wieder, wo sie aus schweren Holzplatten Felgen für Transportkarren zusägte.

Erst ein Jahr nach Kriegsende, im Oktober 1919, konnte Anna Schmitz eine Lehre zur Schneiderin beginnen. Im nahen Dörfchen Verl trat sie eine Stelle bei der drei Jahre älteren Schneidermeisterin Clara Pieper an. "Sie hat mich eingewiesen, und dann gingen wir von Haus zu Haus und von Bauernhof zu Bauernhof. Wir nähten alles, was gebraucht wurde - Arbeitshemden, Wäsche, Kleider und einfache Kostüme für die Bäuerinnen. Ganze Aussteuern für die Bauerntöchter haben wir manchmal zusammengenäht, und auch Brautkleider."

Die Leinenstoffe hatten die Bäuerinnen, die Töchter und Mägde auf den Höfen meist selbst hergestellt. Manchmal bekamen die beiden Schneiderinnen die Stoffballen in die Hand gedrückt, um sie mitzunehmen und daraus in der kleinen Werkstatt in Verl die gewünschten Stücke herzustellen. Oft aber nähten die beiden Schneiderinnen gleich auf den Höfen: "Die Bauern holten die Nähmaschine mit dem Pferdewagen ab, und dann arbeiteten wir von morgens bis abends in der Wohnstube. Fünf Mark gab's dafür pro Tag, und dazu ein gutes Mittagessen."

Ihr drittes Lehrjahr absolvierte Anna Schmitz im Gütersloher Textilgeschäft Bernhörster. In den Hinterstuben saß sie mit fünf anderen Frauen an den Nähmaschinen. "Bei Bernhörster wurde für die höheren Kreise der Stadt genäht", erzählt die betagte Frau. "Und da hab' ich noch mal richtig was gelernt."

Kurz darauf machte sich Anna Schmitz selbständig. Für 1.500 Mark kaufte sie sich 1922, in der Inflationszeit, eine Nähmaschine. Im Elternhaus richtete sie sich eine kleine Werkstatt ein und zog wieder, wie sie es gelernt hatte, von Haus zu Haus.

Inzwischen hatte sie ihren zukünftigen Mann kennengelernt, den Postbeamten Johannes Schmitz. Nach der Hochzeit im Dezember 1923 zogen die Eheleute nach Münster. Dort fand Anna Schmitz zunächst eine Stelle bei einem Damenschneider, bevor sie sich wiederum selbständig machte. "Aufgeben wollte ich den Beruf ja nicht sofort", erklärt sie, "denn die Schneiderei hat mir immer große Freude gemacht. Außerdem verdiente mein Mann nicht gerade viel. Und das war auch das Schöne an dem Beruf. Ich konnte zu Hause arbeiten, ich konnte mir die Zeit einteilen, und unsere kleine Tochter konnte ich dabei auch gut aufpassen."

Mit dem ersten Kind ließ sich die Arbeit als Schneiderin, Hausfrau und Mutter noch vereinbaren. "Als dann unser Sohn geboren wurde, im Herbst 1928, da mußte ich die Schneiderei dann doch langsam drangeben." Als sie im April 1936 ihr drittes Kind bekam, hatte sie ihre Werkstatt längst aufgelöst. Gerne wäre Anna Schmitz selbständig geblieben, aber diesen Wunsch mußte sie zurückstecken: "Mit drei Kindern war das einfach nicht mehr zu machen." Hier und dort hat sie später immer noch genäht, für Bekannte oder Nachbarn. "Aber Schneiderin als Beruf, das ging einfach nicht mehr."

QUELLE  Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 147f.
PROJEKT  Lebensbilder westfälischer Frauen
AUFNAHMEDATUM2004-09-09


QUELLE    Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 147f.

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Zeit3.9   1900-1949
3.10   1950-1999
Ort2.2.2   Gütersloh, Stadt
3.5   Münster, Stadt <Kreisfr. Stadt>
Sachgebiet6.8.8   Frauen
10.15   Handwerk, Handwerker
DATUM AUFNAHME2003-11-07
DATUM ÄNDERUNG2010-04-08
AUFRUFE GESAMT5400
AUFRUFE IM MONAT579