PERSON

FAMILIEKuhlmann
VORNAMEJohanne


GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1882-11-18   Suche
EHEPARTNER[1901] Wilhekm Kuhlmann (gest. 1918)
TOD DATUM1968-12-04   Suche
TOD ORTSchwelentrup


VATERSteinmeyer, Eduard
MUTTEREickmeyer, Auguste


BIOGRAFIE

"Ihr wollfs ja alle wissen"
Johanne Kuhlmann (1882 - 1968),
Hebamme

"Frau Kuhlmann Hebamme" steht auf dem Türschild aus Email, darüber "Bitte drehen". Aber das leise, metallene Geräusch der Drehklingel hört nachts ja niemand. Darum gibt es noch die Alarmglocke, die direkt ins Schlafzimmer läutet. Nun wissen alle im Haus, daß irgendwo in Lemgo oder der näheren Umgebung ein kleines Wesen sich anschickt, auf die Welt zu kommen.

Die Hebamme Johanne Kuhlmann kümmert sich ohne offensichtliche Eile um den werdenden Vater vor ihrer Haustür: "Gehn Sie man schon vor, ich komme gleich, das dauert noch, 's ist ja das erste!" Dann packt sie ihre Tasche, ihre Kleidung, eventuell frische Wäsche für den Säugling und die Wöchnerin und läuft mitten in der Nacht - denn Kinder wollen gewöhnlich nachts auf die Welt - durch die Hölle - denn da wohnt sie - nach Hasenbrede, in die Laubke, zum Langengraben oder auch nur ein paar Straßen weiter, eben um die Ecke. Ihre Schritte hallen auf dem Kopfsteinpflaster. Sie tritt immer ganz fest auf, um sich Mut zu machen. Vielleicht trifft sie Schutzmann Niebuhr aus der Mohlenstraße, fast ein Nachbar, der gibt ihr gerne Geleit. Zu Fuß laufen muß sie, denn das Radfahren hat sie nie gelernt, trotz mehrerer Versuche, die dann in den Tannen am Sportplatz oder vor dem einzigen Telegrafenmast in der Stiftstraße endeten. Ganz selten wird sie mit einem Pferdefuhrwerk abgeholt.

Die Hebammen auf dem Lande hatten alle einen fahrbaren Untersatz, der großen Entfernungen wegen. Sogenannte "Hebammenkotten" mit einer zweiten großen Deelentür zeugen davon. Aber in der Stadt mußte man eben laufen, auch wenn manche Entfernungen nicht viel geringer waren.

Johanne Kuhlmann kommt natürlichpünktlich zur einsetzenden Geburt. Sie ist eine erfahrene Hebamme und nimmt ihren Beruf sehr ernst, besser noch: sie liebt ihn.


Von der "weisen Frau" zur Hebamme

Der Beruf Hebamme war um die Jahrhimdertwende und ist auch heute noch unbestritten ein Frauenberuf. Bis in die jüngste Zeit ist Männern die Zulassung zur Ausbildung verwehrt worden.[1]

Seit Menschengedenken fanden Frauen Hilfe und Beistand in der "schweren Stunde" der Entbindung, zunächst von Frauen ihrer Familie, Müttern, Schwestern, aber auch Nachbarinnen oder erfahrene Frauen aus dem Umfeld wurden zur tatkräftigen Unterstützung hinzugezogen. "Alles, was mit Geburt zusammenhing, war eine Domäne der Frau! Eine Frau gab ihr Wissen einer anderen weiter. Es war zunächst weniger ein Beruf im heutigen Sinne, sondern es handelte sich vielmehr um Hilfestellungen, die die Frauen sich gegenseitig leisteten, aus denen sich einige als besonders geschickt und geeignet hervortaten, Expertinnen auf diesem Gebiet."[2] Der Begriff "weise Frauen", eine frühe Bezeichnung für Hebammen, bringt die damals herrschende Hochachtung vor diesem Berufsstand deutlich zum Ausdruck. Persönliche Reife qualifizierte die Frauen, die in diesem Bereich tätig waren und nicht ein spezielles Privileg oder eine besondere Ausbildung.

Eine Blütezeit erlebte das Hebammenwesen im Mittelalter. Die studierten Ärzte, von denen es wenig genug gab, "sahen die Chirurgie und auch die Geburtshilfe als Handwerk an und überließen dies den ‚Wundärzten', Chirurgen, Badern und Hebammen. Sie beschränkten sich auf das Verschreiben von Arzneien, welche die Apotheker nach ihren Angaben anfertigten."[3] Abgesehen davon "galt es nicht als schicklich, daß ein anderer als der eigene Ehemann den weiblichen Körper zu Gesicht bekam".[4] So war es bis ins 15. Jahrhundert hinein den Frauen vorbehalten, als Hebammen und zugleich Frauenärztinnen mit umfassenden chirurgischen Befugnissen, Geburtshilfe und gynäkologische Eingriffe auszuüben. Trotz des nicht-akademischen Status wird es darunter viele Frauen gegeben haben, die über umfangreiches medizinisches Wissen verfügten, das sie sich im Laufe der Zeit selbst angeeignet hatten. Es lassen sich aber auch diejenigen nicht verleugnen, die geringe praktische Kenntnisse mit einer im Mittelalter stark verbreiteten Wundergläubigkeit vermischten und Mutter und Kind oft großen Schaden zufügten. Die Kirchenordnung von 1568 aus dem Herzogtum Preußen verdeutlicht den Argwohn des Klerus gegenüber diesen Frauen und beschreibt die Hebammen als oft "greuliche Vollsäuferinnen und abergläubische Leute", die manch fromme Frau "jämmerlich um ihr junges Leben gebracht" hätten. Deshalb sollten die Pfarrer sie "zuweilen vornehmen und vermahnen".[5] Gestützt auf diese und ähnliche Diffamierungen geriet so manche "weise Frau" in die Mühlen der päpstlichen Inquisition.

Einem ähnlichen Schicksal war der Berufsstand der Hebammen im 16. und 17. Jahrhundert ausgesetzt, als die "Hexenprozesse" gerade auch in Lemgo die Bevölkerung beschäftigten, viele in Angst und Schrecken versetzten und Verleumdungen aus Neid und Mißgunst auf fruchtbaren Boden fielen. Wieder waren es überwiegend Frauen, die verdächtigt wurden wegen Zauberei, Vergiftung von Mensch und Vieh, Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft.[6] Überlebten sie die Folter und gestanden, was immer von ihnen verlangt wurde, nannten Zauberlehrer und -schülerInnen, so wurden sie enthauptet oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Aufgrund ihrer Kenntnisse über bestimmte Vorgänge im menschlichen Körper und ihrer Fähigkeiten, heilende Maßnahmen - z. B. mit Kräutern, Tees, Hitze und Kälte - durchzuführen, waren gerade die Hebammen bzw. die sogenannten "weisen Frauen" in hohem Maße verdächtig, in Übereinstimmung mit dem Teufel Zaubertränklein zu verabreichen, für Mißgeburten verantwortlich zu sein oder den Tod von Gebärenden und Säuglingen zu verschulden. Wieviele der damals in Lemgo tätigen Hebammen tatsächlich Opfer der Hexenverfolgung wurden, läßt sich allerdings nicht mit Gewißheit klären.

Im 17. Jahrhundert wurden allerorts (zumindest in den Reichsstädten) sogenannte "Collegia Medica"[7] gegründet. Diese ärztliche Standesorganisation übernahm alsbald die Oberaufsicht über das Hebammenwesen von den jeweiligen Stadträten. Man war bestrebt, die Ausbildung für Hebammen zu verbessern, die geburtshilfliche Versorgung zu gewährleisten und die gewissenhafte Berufsausübung zu überwachen. In der Folgezeit erschienen zahlreiche Medizinaledikte, Hebammenordnungen, Dienstanweisungen, die zwar regional verschieden ausfielen, aber alle den gleichen Tenor hatten: "Jede Hebammen soll sich ehrbar und sittsam betragen, einen nüchternen Lebenswandel führen, gewissenhaft in der Erfüllung ihrer Berufspflichten sein, der Obrigkeit schuldigen Gehorsam und den ihren Beruf betreffenden Verordnungen treue Folge leisten. Sie muß dabei stets eingedenk sein, daß von ihrem Verhalten die Gesundheit und selbst das Leben zweier Menschen abhängig, und daher in Allem, was ihr Beruf fordert, behutsam, sorgfältig, unverdrossen und, soweit ihre Berufspflicht dies sonst zuläßt, im höchsten Grade verschwiegen sein."[8] (§ 1 der "Instruction für die Hebammen im Königreiche Preußen", 1878). In § 4 derselben "Instruction" heißt es dann weiter "Allen Schwangeren und Gebärenden ohne Unterschied, reichen, wie armen, vornehmen, wie geringen, verehelichten, wie unverehelichten, bekannten, wie unbekannten, soll sie mit gleicher Bereitwilligkeit die verlangte Hülfe zu leisten suchen; eine Gebärende aber, welche vielleicht arm oder gering wäre, soll sie weder ohne deren Einwilligung, noch bevor sie ihr Geschäft völlig beendet hat, aus Eigennutz und niederer Gewinnsucht verlassen, um zu einer reichen oder vornehmeren Gebärenden zu gehen."[9] Die Verfasser solcher Paragraphen zeichnen ein nicht gerade schmeichelhaftes Bild von denjenigen Frauen, die zur Zeit den Hebammenberuf ausübten. Ein Weg zur Verbesserung der Situation sollte die fachkundige Unterweisung und Prüfung, ein Mittel die Kontrolle und Aufsicht der Hebammen durch die Ärzteschaft sein. Befugnisse wie z.B. "das innerliche und äußerliche Curieren"[10] wurden als ärztliche Tätigkeiten den Hebammen vollkommen untersagt, das Hinzuziehen eines Arztes bei nicht normalem Geburtsverlauf unter Strafandrohung zur Pflicht gemacht.

Um die Jahrhundertwende galt das preußische Hebammenwesen erneut als reformbedürftig. Eine Kommission aus Fachleuten des Ministeriums für Medizinalangelegenheiten, Direktoren von Universitätsfrauenkliniken und von Provinzial-Hebammenlehranstalten erarbeitete und veröffentlichte 1904 ein neues Hebammenlehrbuch mit Dienstanweisung. "In der Abfassung des Lehrbuchs sollte die Absicht der Königlichen Staatsregierung, allmählich besser vorgebildete Elemente dem Hebammenstande zuzuführen, ohne daß eine Erweiterung der Befugnisse stattfinden dürfte, berücksichtigt werden. Es sollten ferner die auf Verhütung und Bekämpfung des Kindbettfiebers gerichteten Vorschriften eine eingehende Darstellung erfahren. (...) Dagegen wurde die Operationsbefugnis der Hebamme erheblich beschränkt."[11] Auf dieser Basis beginnt Johanne Kuhlmann ihre Tätigkeit als Hebamme.


Schülerin der Hebammen-Lehranstalt

Johanne Kuhlmann ist 25 Jahre alt, als sie sich 1908 um die Aufnahme in die Hebammen-Lehranstalt in Bochum bewirbt. Sie ist verheiratet mit dem sieben Jahre älteren Schmied Wilhelm Kuhlmann. Ihr erster Sohn, Willi, ist 1901, bereits wenige Monate nach der Hochzeit, geboren worden, ihre Tochter Friedchen kam 1907 auf die Welt. Eine 1903 geborene Tochter, ebenfalls mit Namen Friedchen, starb im Alter von gut zwei Jahren. Später, 1913, wird sie noch einen Sohn, Walter, zur Welt bringen.

Wilhelm Kuhlmann, der als Schmiedemeister zunächst bei der Lemgoer Wagenbaufirma Scheidt und schließlich bei den Bielefelder Dürrkopp-Werken sein Geld verdient, ist gar nicht glücklich über den Entschluß seiner Frau, einen eigenen Beruf auszuüben. Er befürchtet, daß sie ihre Pflichten als Mutter und Hausfrau vernachlässigen könnte. Er selbst ist von morgens 6.00 Uhr bis abends 22.00 Uhr aus dem Haus und kann sich um seine Familie nur sonntags kümmern, was ihn sehr betrübt haben muß, denn er soll ein häuslicher Typ gewesen sein. Aber Johannes Wille, den Beruf zu ergreifen und ihre Kraft, das auch durchzusetzen, sind stärker als der Wunsch ihres Mannes. Sohn Willi kommt zu den Schwiegereltern, Tochter Frieda wird bei ihrer Patentante in Bielefeld untergebracht, und Johanne Kuhlmann nimmt von Mai bis November 1908 in der Landesfrauenklinik Bochum an der Ausbildung zur Hebamme teil.

Die Zulassung zur Hebammen-Lehranstalt war abhängig von der Beibringung:
"1. eines Kreis-Physikats-Attestes über die körperliche und geistige Befähigung der Schülerin. Dieses Attest darf nur solchen Schülerinnen erteilt werden, welche des Schreibens und Lesens kundig sind;
2. eines ortspolizeilichen Attestes über ihren unbescholtenen Ruf;
3. eines Tauf- und Geburtsscheins.
Personen welche jünger als 20, oder älter als 35 Jahre sind, dürfen als Hebammenschülerinnen nicht aufgenommen werden"[12].

Trotz mannigfaltiger Versuche, den Hebammenberuf auch für höhere soziale Schichten attraktiv zu machen, bewarben sich die meisten Hebammenschülerinnen aus materieller Not. Oft waren es Witwen oder Ehefrauen, deren Männer durch längere Krankheit öder Entlassung ihren Beruf nicht ausüben konnten. Meist hatten sie eine vielköpfige Familie zu versorgen. Die schulische Bildung war schlecht, und trotz der oben beschriebenen Aufnahmebedingungen beherrschten viele dieser Frauen das Lesen und Schreiben nur unzureichend.

Der Unterricht während der sechs Monate dauernden theoretischen Unterweisung war genau geregelt: "Montags, Dienstags, Donnerstags und Freitags hält der Lehrer von 9-11 Uhr morgens Vorlesung über die Geburtshilfe. Mittwochs aber nur von 9-10, indem die Stunde von 10-11 Uhr an diesem Tage den Übungen im Untersuchen der Schwangeren und am Phantom gewidmet ist. Letztere findet auch Sonnabends statt, wo übrigens die Stunde von 9-10 Uhr zur Wiederholung des in der Woche Vorgetragenen bestimmt ist"[13] heißt es in der Verordnung des Kölner Hebammeninstituts. Während der theoretische Teil der Ausbildung von Ärzten - also Männern - geleistet wurde, beaufsichtigte die Oberhebamme die praktischen Ausführungen. Bis zum Ende der Ausbildung hatten die Hebammenschülerinnen mindestens zwei Babys selbständig auf die Welt geholt. Das Hebammenlehrbuch war Grundlage des gesamten Unterrichts, es wurde den Schülerinnen zu Beginn der Ausbildung zur Verfügung gestellt und ging später in ihren Besitz über. Die im Lehrbuch enthaltene Dienstanweisung hatte rechtsgültigen Charakter. Erst 1922 wurde das erste Hebammengesetz vom Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt erlassen.

In § 1 wird jeder Frau in Preußen Hebammenhilfe zugestanden. "Diese erstreckt sich auf die Beratung und Hilfe in der Schwangerschaft, Hilfe bei Störungen in der Schwangerschaft, Hilfe bei der Geburt, Versorgung der Wöchnerinnen im Wochenbett und der Neugeborenen sowie auf Beratung über die Pflege und das Stillen der Kinder"[14].

In demselben Gesetz werden Regelungen getroffen zur Altersversorgung der Hebammen (§ 18) und zur Gebührenordnung (§§ 15-17). Eine Entbindung wird in den 20er Jahren mit ca. 25 bis 30 Mark honoriert. Das war selbst in der damaligen Zeit nicht viel Geld. Schwangerenberatung und 10 Tage Nachsorge für Mutter und Säugling sind darin eingeschlossen. Allerdings werden Hebammen während der Geburten gut versorgt, vielfach auch mit Naturalien entlohnt. Besonders bei den Taufen, zu denen sie pflichtgemäß die von ihnen geholten Kinder bringen müssen, gibt es reichlich zu essen. Manchen Hebammen konnte man die gute Verpflegung ansehen - vielleicht waren sie auch deshalb so kräftig, weil sie kräftig zupacken mußten - man sagte oft: sie brauchen zwei Stühle.


Niederlassung in Lemgo

Mit Abschluß der Ausbildungszeit, nach bestandener Prüfung, erhält Johanne Kuhlmann das gültige Hebammenlehrbuch sowie einige der wichtigsten Utensilien zur Ausübung des Hebammenberufs ausgehändigt: Irrigator (Spülkanne mit Schläuchen), gläserne Scheiden- und Afterrohre, Katheter, verschiedene Bürsten (auch zur Wiederbelebung scheintoter Kinder), verschiedene Scheren (für Fingernägel, Schamhaare und Nabelschnur). Ferner sind von der Hebamme ständig mitzuführen: Desinfektionslösungen, diverses Verbandmaterial, Bandmaß, Thermometer, Uhr zum Pulszählen, Stethoskop, Badethermometer und -schwamm, Gummihandschuhe, Gummiballonspritze und Augentropfen für das Neugeborene, Schüsseln, Schürzen (waschbare!), Handtücher[15].

Alle diese Dinge hatten in der Hebammentasche Platz zu finden und mußten zu jeder Entbindung mitgenommen werden.

Johanne Kuhlmann ist nun staatlich geprüfte Hebamme, hat ihren Hebammeneid geleistet und darf sich in Lemgo niederlassen. 1908 sind bereits fünf Berufskolleginnen für die Versorgung der Stadt- und Landbevölkerung dort ansässig. Drei von ihnen scheiden jedoch innerhalb der folgenden drei Jahre aus dem Dienst. Von da an ist Lemgo bis nach dem 2. Weltkrieg stets mit vier niedergelassenen Hebammen versorgt[16].

Für Johanne Kuhlmann wird der Beruf zur Lebensaufgabe. War die wirtschaftliche Notwendigkeit zu Beginn der Ausbildung noch nicht so offensichtlich, erweist sich ihre Entscheidung sehr bald als weitsichtig: 1913 übernehmen die Kuhlmanns das Elternhaus des Mannes in der Hölle 27 und verschulden sich, um die anderen Verwandten auszahlen zu können; 1914 geht Wilhelm Kuhlmann in den Krieg, 1918 stirbt er im Lazarett an Nierenblutungen. Mit 56 Jahren ist Johanne Witwe, muß allein für drei kleine bis halbwüchsige Kinder sorgen, erhält eine ärmliche Kriegsrente und kann froh sein, daß sie einen Beruf hat. "Nach dem Krieg haben sie ja so erbärmlich wenig Rente gekriegt, die hätten verhungern müssen. Wenn sie da ihren Beruf nicht gehabt hätte, dann hätte sie wahrscheinlich waschen müssen bei anderen Leuten, das war ja damals so", mutmaßt Enkelin Margret Jaspers. Sie ist die Tochter von Johannes Sohn Willi, der nach allen Erzählungen ein richtiger Draufgänger gewesen sein soll. Als 15jahriger war er rauchend in der Öffentlichkeit (auf der Mittelstraße erwischt von Schutzmann Lilie) aufgefallen, eine Tat, die in einer Stadt wie Lemgo, wo in fast jedem dritten Haushalt in Heimarbeit Zigarren gedreht wurden, nur allzu verständlich ist, die aber in einem Obrigkeitsstaat sogleich entsprechende Ordnungsmaßnahmen nach sich zieht: eine Mark Strafe, ersatzweise ein Tag Gefängnis! "Ochuttechutt, jetzthaben wir einen Kriminellen in der Familie", soll Johannes Kommentar gewesen sein. Wie alle schwierigen Entscheidungen, die die Kinder betrafen, wird sie auch diesen Vorfall ihrem Mann nach Frankreich ins Feld gemeldet haben, der dann, weitab der Heimat, dem Ungehorsamen die Leviten lesen mußte. Zu ihrem Sohn Willi hatte Johanne Kuhlmann eigentlich nie ein gutes Verhältnis. Vielleicht lag es daran, daß ihre Temperamente so ähnlich waren. Wie Johanne, war auch Willi früh selbständig, "wollte aus dem Kreislauf kleiner Leute herauskommen"[17], liebte die Geselligkeit und die Abwechslung. Als er sich 1932 von seiner ersten Frau scheiden läßt, fühlt sich seine Familie von Johanne verstoßen. Doch als Willi 1961 im Alter von 60 Jahren stirbt, empfindet seine nun schon 79jährige Mutter großen Schmerz. Ein erwachsenes Kind vor sich hergehen lassen zu müssen, war für sie schlimmer als der frühe Tod des kleinen Friedchens oder auch der Verlust des eigenen Mannes.


Erinnerung an die Kindheit

Johanne Kuhlmann, die 1918 plötzlich allein dasteht und Entscheidungen für ihre Familie treffen muß, schöpft Kraft aus ihrem Beruf, der sie in der ganzen Stadt bekannt und beliebt macht. Außerdem erinnert sie sich an ihre Mutter - Auguste Eickmeier -, die einst auch eine Entscheidung traf, die Johannes Leben entscheidend beeinflussen sollte:

In jener Nacht des 18.11.1882, Auguste Eickmeier war von einem gesunden Mädchen entbunden worden - eben Johanne -, feierte der Ziegler Eduard Steinmeyer dieses Ereignis mit reichlich Alkohol, denn er war der Vater des Kindes und freute sich, daß es eine Tochter geworden war. Und wie er nun im Rausch in einer Schneewehe - es muß hoher Schnee gelegen haben - unter Augustes Fenster lag, faßte diese den Entschluß: Diesen versoffenen Kerl heirate ich nicht! Sie ließ Johanne bei ihren Eltern und setzte sich, wegen der verlorenen Ehre, nach Bad Harzburg ab. Dort ging sie in Stellung bei Herrschaften, ehelichte deren Kutscher Lutz, bekam einen Sohn und zwei Töchter und avancierte später zur Leiterin eines Altenheimes.

Derweil blieb Johanne bei ihren Großeltern und wurde von ihnen aufgezogen. Der Großvater war Ziegler und ging jedes Jahr im Frühling auf Ziegelei nach Dänemark oder Schleswig-Holstein, um im Herbst mit ein paar verdienten Mark zurückzukommen, die dann für das ganze nächste Jahr reichen mußten. Die Großmutter bestellte den Garten und zog morgens mit einer Kiepe auf den Markt nach Detmold und bot Gemüse feil für ein paar Pfennige zum Lebensunterhalt.

Sie starb früh, und ihr Mann heiratete daraufhin ihre Schwester. Von da an mußte Johanne wohl auf jegliche Nestwärme und Herzensgüte verzichten. Geld fehlte an allen Ecken, und es reichte nicht für die nötigen Schulutensilien. "Sag deinem Lehrer, du brauchst keinen Zeichenblock, du sollst kein Baumeister werden", hieß es, als Johanne um 5 Pfennig für einen solchen Zeichenblock bat. Nun, Baumeister wollte sie auch nicht werden, aber etwas werden, das wollte sie schon. So ärmlich wie ihre Kindheit sollte ihr Leben nicht verlaufen.

Mit 13 ging sie in Stellung. Wahrscheinlich diente sie in mehreren Stellen. Die Angaben der Enkelinnen dazu sind uneinheitlich. Möglich ist, daß sie zunächst in einer Metzgerei Nebelsiek Anstellung fand. Ob dieser Laden dann übernommen wurde, oder ob Johanne gewechselt hat, bleibt unklar. Eher unwahrscheinlich ist die Angabe über eine Bielefelder Hebamme, bei der Johanne Kuhlmann gedient und nebenbei ein Hebammen-Praktikum gemacht haben soll. Bei der bereits geschilderten sozialen Stellung von Hebammen erscheint es nicht logisch, daß diese sich Dienstmädchen leisten konnten. In der Bäckerei, Kolonialwaren, Wirtschaft Wehrmann in der Schuhstraße hat sie sich schließlich bis zur Verkäuferin hochgearbeitet. Als sie mit 18 Jahren heiraten mußte, hat Frau Wehrmann ihr etwas Wäsche als Aussteuer geschenkt. Von ihren leiblichen Eltern hatte sie nichts zu erwarten. Es war nicht die Zeit für große Geschenke. Doch später wurde sie im Testament ihrer Mutter bedacht, und sogar Vater Steinmeyer soll ihr einmal Geld gegeben haben, als sie junge Witwe war.


Engagement und Berufsauffassung "Sehr viele Frauen sind Gattinnen und Mütter nur deshalb, weil ihnen keine andere Laufbahn offensteht, keine andere Betätigung für ihre Gefühle oder ihren Tätigkeitstrieb sich findet",[18] beschreibt der englische Philosoph John Stuart Mill die Situation der Frauen Mitte des 19. Jahrhunderts. Das gilt zwar in erster Linie für die gehobenen Kreise, in denen Prüderie und die Heuchelei der bürgerlichen Moral jegliche weibliche Aktivität bis zur seelischen Leere lähmen. Aber auch Arbeiterinnen, besonders ungelernte, sind zunächst viel zu sehr mit ihrer Not und der ständigen Angst vor Entlassungen beschäftigt, um sich über eine Veränderung ihrer Situation Gedanken zu machen. Bis - in Deutschland etwa ab 1848 - mutige Frauen den Kampf aufnehmen, beginnend mit der Erstreitung des Frauenwahlrechts, weiter mit der Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und keineswegs endend mit den ersten Erfolgen auf dem Gebiet der Gleichstellung. Aber nicht nur die berühmten öffentlichen Kämpferinnen, viele einzelne Frauen, die für sich selbst, im engsten Kreise begannen, das Ideal der selbstbewußten, selbstbestimmten Frau zu verwirklichen, trugen schließlich zur Durchsetzung emanzipatorischer Ideen bei.

Man könnte Johanne Kuhlmann in die Reihe dieser Frauen einordnen. Sie ist eine selbstbewußte Frau, die ihr Leben selbst bestimmt hat. Aber man kann es nicht ohne Einschränkungen tun. Als Vorbild für ihre Tochter sah sie ihr Leben jedenfalls nicht, wie später noch zu berichten sein wird. Sie ist auch nicht politisch engagiert, während beispielsweise ihr Mann, Wilhelm Kuhlmann, 1897 am Aufbau der SPD-Ortsgruppe Lemgo beteiligt war. Johanne Kuhlmann engagiert sich für die privaten Belange der Menschen. Ein anderer Beruf als Hebamme kommt für sie gar nicht in Frage. "Ich könnte mir vorstellen, daß sie sich für die Fabrik zu schade war. Sie war ein Mensch, der sich auch nicht unterordnen konnte, sie war also sehr freiheitsliebend oder selbstbestimmend", sagt Ute-Elisabeth Hecker über ihre Großmutter, und Ursula Müller vermutet: "Vielleicht lag es ihr auch einfach, sie war so 'ne zupackende Frau. Mit Dienstmädchen oder Putzfrau wäre ihr das nicht genug gewesen, und ich glaube, das war damals die einzige Möglichkeit, als Frau in einen Beruf zu kommen." Für künstlerische oder schöngeistige Betätigung war ihre Herkunft und Ausbildung zu schlecht. Als Hebamme kommt sie mit Menschen zusammen, kann durch ihre Kompetenz überzeugen. In ihrer Berufsausübung ist sie resolut. Sie entspricht dem Typ der selbst- und verantwortungsbewußten Hebamme, die kommt, um zu helfen. Verschwiegenheit und Diskretion gegenüber den Wöchnerinnen sind ihr oberstes Gebot. Ihre drei Enkeltöchter berichten übereinstimmend: Jedesmal, wenn eine noch nicht als schwanger zu erkennende Frau zu ihr kommt, verschwindet Johanne mit ihr in der Wohnstube und läßt sich erst nach längerer Zeit wieder sehen. Worüber gesprochen wurde, daß es bereits das vierte Kind in fünf Jahren sein wird, ob eine Abtreibung in Frage kommt (Johanne Kuhlmann hätte eine Abtreibung nie gutgeheißen, geschweige denn durchgeführt) oder ob ein langgehegter Kinderwunsch endlich in Erfüllung geht, darüber weiß niemand zu berichten, denn Johanne Kuhlmann hat in ihrer Familie nie über die privaten Verhältnisse der von ihr betreuten Frauen gesprochen. Selbst das Hebammentagebuch, in das der Ablauf aller Geburten eingetragen werden mußte, hat sie noch vor ihrem Tod vernichtet, damit niemand unbefugt Einsicht nehmen konnte. Es sollen auch manche Summen offengeblieben sein, die sie, obwohl selbst nicht mit Reichtum gesegnet, in Anbetracht der sozialen Not in den Familien nicht eingetrieben hat.

Voller Stolz dagegen hat sie folgende Episode gerne erzählt: Es war Kläschenmarkt in Lemgo, und unter den Schaustellern befand sich auch eine Zigeunerfamilie. Als bei der hochschwangeren Frau die Wehen einsetzten, lief der Mann hilfesuchend von einer Lemgoer Hebamme zur anderen, die sich alle entschuldigen ließen. Schließlich fand er Johanne Kuhlmann in der Kirche (möglicherweise bei einer Tauffeier). Sie hat die schwere Entbindung durchgeführt und als Dank dafür von dem Zigeuner ein Goldstück bekommen, das damals einen unvorstellbar hohen Wert darstellte.

Ebenfalls stolz ist Johanne Kuhlmann darauf, daß ihr von den etwa 3000 Kindern, die sie als Hebamme geholt hat, zumindest unter der Geburt keins gestorben ist. Ein Baby - der lange ersehnte Stammhalter eines Großbauern - das scheintot zur Welt kommt, erweckt sie mit Massagen und anderen ihr zur Verfügung stehenden Methoden zum Leben.[19] Ihre hohe Fachkompetenz und ihre ernsthafte Berufsauffassung bringen ihr auch die Achtung der Lemgoer Ärzte ein, mit denen sie kollegial und gut zusammenarbeitet und vor deren akademischer Bildung sie keineswegs allzu hohen Respekt zeigt. Ihre Vertraulichkeit und ihre Fürsorge wiederum machen sie beliebt bei den Wöchnerinnen und deren Familien, so daß sie schließlieh in Lemgo als stadtbekannte und allseits beliebte Persönlichkeit gilt.

Die Geburten ihrer eigenen Enkel und Urenkel hat Johanne Kuhlmann wesentlich weniger gelassen erlebt, als es bei ihrem Beruf zu erwarten gewesen wäre. Ihre Hilflosigkeit und Aufgeregtheit überspielt sie mit verbaler Härte, ja Kaltschnäuzigkeit. Als Enkelin Ute-Elisabeth Hecker ihre Tochter Johanna zur Welt bringt und ihrer Großmutter am Telefon von der Schrecklichkeit dieses Ereignisses - Kaiserschnitt nach zwölf Stunden heftiger Wehen - berichtet, kommentiert diese lakonisch: "Tja, ihr wollt's ja alle wissen!"


Lebenswege der Kinder

Als "Straßenengel", aber "Hausteufel", wird sie beschrieben, Begriffe wie "kleiner Deubel" und "Drabbel" zeigen, daß die Familienmitglieder auch ganz gehörig unter ihrer burschikosen Art zu leiden hatten. Aber es fehlte schon allein die Zeit, sich viel um ihre Kinder zu kümmern. Für die spielt eher der Vater die tragende Rolle in der Familie. Wenn er da ist, herrscht Ruhe, Frieden und Gelassenheit. Wilhelm Kuhlmann hat sich auf einer Feldpostkarte am 07.09.1917 einmal bei seiner Frau beschwert:
"Lieb. Joh.
Schon lange auf ein Schreib, gewartet, hast gewiß wenig Zeit,
wenn möglich schreibe d. bald, s. langweilig. Hast den Brief
gewiß erhalten. Sonst alles beim alten
fr. Gruß sendet Wilhelm"[20]

Nach seinem frühen Tod mußten die Söhne schleimigst eine Ausbildung machen, obwohl beide Stipendien für das Gymnasium bekommen hätten. Willi, der ältere, lernte Schmied wie sein Vater, setzte später eine technische Ausbildung ohne graduierten Abschluß drauf und arbeitete als Techniker bei Rheinpreußen. Walter, der jüngere, machte eine kaufmännische Lehre in der Fabrik des jüdischen Zigarrenherstellers Moritz Kabaker und kam später zur Freien Presse. Tochter Friedchen, die gerne eine Lehre als Putzmacherin absolviert hätte, mußte den Haushalt führen und sich auf die Ehe vorbereiten. Als Hausfrau sah sich Johanne Kuhlmann selbst gar nicht gerne, "da stehen mir heute morgen die Hände überhaupt nicht nach". Abgesehen davon, daß sie ihre Hände aus Berufsgründen in einem gepflegten Zustand halten mußte, war sie eher eine "Lauffrau". Trotzdem mußte alles immer "prick" sein, sauber und ordentlich, denn es konnte ja immer jemand kommen. Dabei entwickelte sie bereits eine für ihre sozialen Verhältnisse ungewöhnliche gehobene Wohnkultur: Beim Essen mit Gästen wurde stets ein Tischtuch aufgelegt, damit man die Speisereste in den Fugen nicht sah, und auch die gestickten Sofakissen waren immer sauber und gestärkt. Dafür sorgte Friedchen bereits als Schulmädchen. Nach der schweren Hausarbeit wurden abends noch schnell die Hausaufgaben erledigt. Später durfte sie bei einer Weißnäherin, einer Hutmacherin und in einer Hemdenbügelei hospitieren, um sich die notwendigen Fertigkeiten zur Führung ihres eigenen Haushalts anzueignen. Sie wurde eine perfekte Hausfrau, heiratete einen Ingenieur und bekam zwei Töchter.

Die berufliche Entwicklung ihrer Kinder war von Johanne Kuhlmann schon bewußt so angestrebt gewesen, obwohl sie, besonders im Fall ihrer Tochter, in krassem Gegensatz zu ihrer eigenen Lebensauffassung stand. Es waren wirtschaftliche Gründe, die in jenen unsicheren Zeiten den Ausschlag gaben, die schnelle Ausbildung der längerfristigen höheren Bildung vorzuziehen. Es mag auch eine gewisse "Bildungsfeindlichkeit", die damals noch in den unteren sozialen Schichten verbreitet war, eine Rolle gespielt haben. Zu ihrer Enkelin Ursula Müller sagte sie, wenn diese Schularbeiten machte oder ein Buch las: "Hast du nichts Ordentliches zu tun?"


Helfen, weil es Freude macht

Wie Johanne Kuhlmann die Lebenswege ihrer Kinder dahingehend regelt, daß auch sie im Notfall versorgt wäre, so kümmert sie sich um ihre eigenen finanziellen Ansprüche. Versicherungsbeiträge werden selbstverständlich geklebt. Schon bald nach dem Tod ihres Mannes tritt sie dem "Reichsbund der Kriegsopfer- Behinderten- Sozialrentner- und Hinterbliebenen e. V." bei, um ihre Rechte als Kriegerwitwe wahrzunehmen. Daraus entwickelt sich eine neue Aufgabe für Johanne Kuhlmann, der sie sich bis ins hohe Alter im Vorstand und später als Ehrenmitglied widmet. Besonders nach dem 2. Weltkrieg gehen junge Witwen, denen sie Trost und Hilfe mit auf den Weg gibt, bei ihr ein und aus. Hilfe - das ist für Johanne Kuhlmann immer eine ganz praktische Angelegenheit: sie gibt, was immer sie selbst entbehren kann, denen, die es nötig haben. Nach dem 2. Weltkrieg ist Lemgo Durchgangsstation für viele Flüchtlinge und Heimatvertriebene[21]. Johanne Kuhlmann bringt ihnen Kleidung und Hausrat in die Lager, damit sie das Nötigste vorfinden. Noch während des Krieges sammelt sie für junge Russen in einem Kriegsgefangenenlager getrocknete Brotreste, die sie in einer Tüte über den Zaun wirft. "Mama! Mutter!" rufen die Wind und Wetter ausgesetzten Häftlinge ihr schon von weitem entgegen. Als eines Tages der Wachsoldat aufmerksam wird und sie wegschicken will, sagt sie: "Du dummer Junge, was meinst du wohl, wie deine Mutter froh wäre, wenn du irgendwo so lägst und dir gäbe einer 'nen Brocken Brot."[22]

Ähnlich couragiert verhält sie sich auch gegenüber anderen Obrigkeiten. Sie verweigert den "deutschen Gruß" und "akediert"[23], wie sie es selbst nennt, lauthals mit einem ehemaligen KZ-Häftling, einem Sozialdemokraten, über die dort stattfindenden Grausamkeiten. Daß sie nicht selbst Unannehmlichkeiten ausgesetzt ist, liegt wohl wieder an ihren vielschichtigen Beziehungen, die sie aufgrund ihres Berufes hat. Auch nach dem Krieg kommen ihr solche Beziehungen zugute. Bei den Bauern hamstert sie Mehl und Speck und kommt in der sogenannten "schlechten Zeit" gut über die Runden.


"Sie wollte ja im Leben stehen"[24]

Welch ein schwerer Schlag muß es für sie gewesen sein, als sie ihren Beruf aufgeben mußte. Ihr 25jähriges Dienstjubiläum hatte sie gebührend gefeiert, und im allgemeinen war es üblich, daß Hebammen bis über die Altersgrenze hinaus im Dienst waren. Aber schon mit 54 Jahren ist Johanne Kuhlmann gesundheitlich so angegriffen, daß ihr die Erfüllung ihrer Pflichten immer schwerer fallt. Ihr Herz ist schwach, Atemnot stellt sich ein. Eine Kur bringt nicht den erhofften Erfolg, ihr Hausarzt schreibt sie nicht wieder gesund. Für Johanne Kuhlmann bricht eine Welt zusammen. Aber sie macht für sich das Beste daraus. Sie lebt und ernährt sich sehr bewußt. Ein wöchentlicher Reistag, Kneippsche Anwendungen, homöopathische Mittel, das reicht, um sie physisch wiederherzustellen. Für die Psyche übernimmt sie im Freundes- und Bekanntenkreis wenigstens die Nachsorge für die Säuglinge, die sie nun nicht mehr holen darf. Sie trägt sie auch zur Taufe, wie es vorher ihre Pflicht gewesen war. Für diesen kirchlichen Akt, der gewöhnlich kurz nach der Entbindung stattfand, da Säuglinge dem Volksglauben nach bis zur Taufe nur Nabelschnurlänge von ihrer Mutter entfernt sein durften und die Frauen gewöhnlich bald ihre Tätigkeit als Bäuerin, Hausfrau oder Arbeiterin wieder aufnehmen mußten, lieh Johanne Kuhlmann das Taufkleid mit rosa oder hellblauem Futter, das Steckkissen, und wenn es die Witterung erforderte, deckte sie den Säugling mit einem Kaschmir-Tuch zu.

Die Babys liebt sie über alles. Alle sind "schöne Kinder", und aus allen ist später etwas geworden. "Kuhlmannstante" wird sie von der Jugend genannt in Anlehnung an "Storchentante", und das hat sie sicher gerne gehört.

Mit dem abrupten Ende ihrer Berufstätigkeit 1938 gewinnt Johanne Kuhlmann plötzlich Zeit, sich um andere Dinge zu kümmern. Sie intensiviert ihre Reichsbundtätigkeit, macht viele Reisen, u. a. nach Bad Harzburg zu ihren Geschwistern oder auch nach Düsseldorf zur Familie ihrer Tochter. Sie hat gerne Gäste und macht gerne Besuche. Allerdings, die Diskretion, die sie gegenüber ihren Wöchnerinnen immer gewahrt hat, kennt sie im Kreise ihrer Familie nicht. Von einer Einladung zurückgekommen schimpft sie zunächst über die Bewirtung: "Kuchen bis unter die Nase" und "3 Bohnen Kaffee ins Wasser gehängt" (ein Mangel, der sie als leidenschaftliche Kaffeetrinkerin besonders hart trifft), bevor sie feststellt, daß alles "wunderbar" gewesen sei. An keinem Menschen läßt sie ein gutes Haar, und sogar ihre Kinder wiegelt sie gegeneinander auf. Ihr fehlen offenbar jetzt die Möglichkeiten, auf andere Art "Dampf abzulassen", es fehlt ein vertrauter Mensch, mit dem sie den "Alltagskram" besprechen könnte. Dabei hatte sie - ein attraktives, kleines, zierliches Persönchen - mehrfach Gelegenheit, wieder zu heiraten. An ernstgemeinten Anträgen fehlte es nicht. Aber im letzten Moment hat sie immer einen Rückzieher gemacht, "'nen Mann für mich finde ich alle Tage, aber 'nen Vater für meine Kinder, den find' ich nicht", weiß Ursula Müller über Johannes Einstellung zu Männern zu berichten. Doch Schwiegertochter Elisabeth Kuhlmann hat genauere Informationen: Den Kurt aus dem Rosengarten, groß, schlank, stattlich wie ihr Wilhelm, dazu noch Geld, den hätte sie schon gerne genommen, aber der hatte dann eine andere als Haushälterin, und so blieb eine tiefere Verbindung aus.

Wie sie grundsätzlich zu Männern stand, läßt sich nicht eindeutig klären. Über Sexualität wurde in ihrer Familie nicht gesprochen, und so kann sich niemand vorstellen, daß Johanne zu einem Mann sexuellen Kontakt gehabt haben soll. "Ich kann mir unsere Oma nicht in Kontakt mit Männern vorstellen", "denen steht sie ablehnend gegenüber, sie hat wohl immer das Gefühl, Frauen würden ausgenutzt." "Sie hat nie wieder eine Liebschaft gehabt." "Sie hatte mal 'nen Klüngel - da ist sie aber nicht mit ins Bett gegangen." "Sexuelle Lust muß ihr abgegangen sein." "Sie hatte ein verkorkstes Verhältnis zur Sexualität und das bei dem Beruf!" Inwieweit sich in diesen Äußerungen der Enkeltöchter eine verklärte Sicht auf die Großmutter, schlichte Unwissenheit und die Wahrheit über Johannes Männerbeziehungen mischen, kann heute nicht mehr beantwortet werden.

Johannes Selbstbewußtsein ist dagegen sehr ausgeprägt. Sie ist sich ihrer Persönlichkeit bewußt. Sie läßt sich auch gerne feiern. Jedes Familienmitglied erinnert sich lebhaft an ihre Geburtstagsfeiern ('s ist sicher der letzte!). Der 80. war wohl das größte Fest. Schon am Vorabend wird Stimmung gemacht - beim Sohn Walter, der in der Helle (wie die Straße später hieß) gegenüber dem alten Kuhlmannschen Haus neu gebaut hat. Am 18.11.1962 werden wohl an die 100 Gäste durch das Wohnzimmer geschleust. Johanne immer mittendrin, ohne müde zu werden. Danach aber geht es mit ihrer Gesundheit stetig bergab. Starke Osteoporose verhindert, daß sie weiterhin reisen kann. Als sie 1967 auch noch ihren Sohn Walter beerdigen muß, ist sie eine gebrochene Frau. Nach einem Schlaganfall lebt sie das letzte Jahr bei ihrer Tochter in Schwelentrup. Am 04.12.1968 stirbt Johanne Kuhlmann im Alter von 86 Jahren.


Anmerkungen

[1] Vgl. Zimdars/Sauer 1940, 4, und Bialucha 1988, S. 17.
[2] Grönniger 1990, S. 79.
[3]Baruch 1955, S. 7.
[4] Ebda.
[5] Zit. n. Mühlenbeck 1977, S. 8.
[6] Vgl. Schild 1990, S. 170.
[7] Vgl. Baruch 1955, S. 16.
[8] Lehrbuch der Geburtshülfe 1878, S. 301.
[9] Ebda, S. 303.
[10] Mühlenbeck 1977, S. 9.
[11] Hebammen-Lehrbuch, Vorwort zur Ausgabe 1904, S. III/IV.
[12] Lehrbuch der Geburtshülfe 1878, S. 314.
[13] Hadtstein 1977, S. 22.
[14] Krohne 1923, 1. Außerdem enthält das Gesetz Aussagen über die Niederlassungsgenehmigung ( 4-10) sowie die Verpflichtung, sich Nachprüfungen zu unterziehen und an Fortbildungslehrgängen teilzunehmen (12). Auch Johanne Kuhlmann hat regelmäßig Fortbildungskurse an der Landesfrauenklinik Paderborn bzw. in Blomberg besucht.
[15] Vgl. Bömke 1936,S.80.
[16] Stadtarchiv Lemgo: Adreßbücher 1909 bis 1946.
[17] Margret Jasper über Johanne Kuhlmann.
[18] Zit. n. Göpel 1986, S. 175.
[19] Dieser Erfolg, wenn auch nicht amtlich belegt, so doch von sehr hoher Wahrscheinlichkeit, ist in der damaligen Zeit tatsächlich etwas Besonderes. Einer "Internationalen Erhebung über die Ursachen der Säuglingssterblichkeit" (Stadtarchiv Lemgo, AZ 5596), durchgeführt 1927 und 1928 in 4 Untersuchungsgebieten: den Städten Augsburg und Kassel und den Freistaaten Mecklenburg Strelitz und Lippe, ist zu entnehmen, daß in Lemgo im Jahre 1927 auf 235 Geburten 8 Totgeburten entfielen und 19 Kinder zur Vollendung des 1. Lebensjahres starben. Das entspricht einem Prozentsatz von 11,5 % auf die Zahl der Geburten. Lemgo hatte damals 11390 Einwohner (Stadtarchiv Lemgo, Adreßbuch 1926).
[20] Privatarchiv Ute-Elisabeth Hecker.
[21] Stadtarchiv Lemgo. 1948 waren von 19395 Einwohnern Lemgos 35,6 % Evakuierte, Flüchtlinge, Ausländer.
[22] Ursula Müller, Originalzitat aus dem Interview.
[23] "akedieren" heißt soviel wie "diskutieren", "mit Nachdruck Argumente austauschen".
[24] Elisabeth Kuhlmann, Originalzitat aus dem Interview.


Literatur

BARUCH, FRIEDRICH
Das Hebammenwesen im Reichsstädtischen Nürnberg, Diss. med., Erlangen 1955.

BIALUCHA, BARBARA
Befragung niedergelassener Hebammen im Lande Bremen über Volksbräuche in ihrem Fach, Diss., Bochum 1988.

BÖMKE, GUSTAV
Das badische Hebammenwesen, Diss. med., Freiburg 1936.

GÖPEL, MARIE LISE
Frauenalltag durch die Jahrhunderte, Ismaning b. München 1986.

GRÖNNIGER, BRUNHILDE
Zur Geschichte des Hebammenwesens in Lingen und Umgebung, in: Uns gab es auch! Frauen in der Geschichte des Emslandes, Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Frauen in der Geschichte des Emslandes, Lingen 1990.

HADTSTEIN, ANNETTE
Das Hebammenwesen in Aachen im 19. Jahrhundert, Diss. med., Aachen 1977.

Hebammen-Lehrbuch, hrsg. im Auftrage des Königl. Preußischen Ministers des Inneren, Berlin 1912.

KROHNE, OTTO
Das preußische Hebammengesetz vom 20. Juli 1922, Osterwieck am Harz 1923.

Lehrbuch der Geburtshülfe für die Preußischen Hebammen, Hrsg. im Auftrag des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, Berlin 1878.

MÜHLENBECK, SABINE
Die Tagebücher der Hebamme Martha Reichner. Untersuchungen zum Hebammenwesen in Preußen im 19. und 20. Jahrhundert, Diss. med., Berlin 1977.

SCHILD, WOLFGANG
Alte Lemgoer Kriminalgerichtsbarkeit, in: 800 Jahre Lemgo. Aspekte der Stadtgeschichte, Lemgo 1990.

ZIMDARS, KURT UND KARL SAUER
Hebammengesetz vom 21. Dezember 1938, Berlin 1940.

außerdem:
Stadtarchiv Lemgo: Adreßbücher, Akten über Medizinalangelegenheiten, Statistiken.

Außer der Durchsicht vorstehend angeführter Literatur zum Thema Hebammen dienten mir für die Erstellung dieses Textes Gespräche mit den Enkeltöchtern Ute-Elisabeth Hecker, Margret Jasper und Ursula Müller sowie der Schwiegertochter Elisabeth Ruhlmann. Ihnen möchte ich für ihre Hilfsbereitschaft und die Bereitstellung privaten Dokumentationsmaterials herzlich danken.


Sabine Boing

QUELLE   | "Was für eine Frau!" | S. 191-208
PROJEKT  Portraits von Frauen aus Ostwestfalen-Lippe
AUFNAHMEDATUM2007-03-20


QUELLE     | "Was für eine Frau!" | S. 191-208

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Zeit3.8   1850-1899
3.9   1900-1949
3.10   1950-1999
Ort2.5.11   Lemgo, Stadt
Sachgebiet6.8.8   Frauen
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6.8.15   Säuglinge, Kinder, Jugendliche
8.5   Medizinische Versorgung, Ärztin/Arzt
10.9.3   Berufsausbildung
DATUM AUFNAHME2003-10-28
DATUM ÄNDERUNG2010-04-12
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