PERSON

FAMILIEZwiener
VORNAMEKaroline
BERUF / FUNKTIONTextilarbeiterin, Gewerkschaftlerin in Bielefeld


GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1845   Suche
GEBURT ORT[Bielefeld]
EHEPARTNERJosef Zwiener (gest. 1895)
TOD DATUM1906 [ca.]   Suche
TOD ORT[Bielefeld]


BIOGRAFIE

Karoline Zwiener (1845-ca. 1906) - Textilarbeiterin

"Schwach" Geschlecht der Frau'n und Mädchen,
Euch das Männerwort auch gilt:
Stille stehen alle Rädchen,
Wenn dein "schwacher" Arm gewillt!
Soll der Mann den Sieg erlangen,
Auch die Frau ihr Bestes thu':
Haben sie die Fahnenstangen -
Ihr - ihr habt das Zeug dazu!

Frauen, Mädchen aller Länder,
Ungesäumt vereinigt Euch!
Und dann säumt die roten Bänder,
Säumt das rote Bannerzeug,
Daß die Männer nicht erst warten
Müssen auf das Fahnennäh'n
Wenn mit Stangen und Standarten
Sie als Sieger vor Euch steh'n. [1]

Den Lebenslauf einer Arbeiterin um die Jahrhundertwende zurückzuverfolgen, gar ihre Lebenspläne, Vorstellungen und Handlungen der Geschichte zu entlocken, ist ein schwieriges Unterfangen. Gebildete Bürgerinnen haben oftmals Tagebücher, Reiseberichte oder auch literarische Arbeiten hinterlassen, die biographische Rückschlüsse ermöglichen; von Frauen aus dem Arbeitermilieu gibt es nur selten persönliche Aufzeichnungen. Von Kindesbeinen an bot ihr Arbeits- und Familienalltag kaum die Möglichkeit, lange die Schule zu besuchen. Später ließen Arbeit in Fabrik und Haushalt den wenigsten Frauen die Zeit zur Muße, zum Lesen und Schreiben.

Auch über Karoline Zwiener erfahren wir nichts aus eigenen Aufzeichnungen, lebende Nachfahren, die etwas über sie erzählen könnten, sind nicht aufzufinden. Allein die Tatsache, daß sie 1890 die "Freie Vereinigung der Frauen und Mädchen Bielefelds" mitbegründet hat, über deren Aktivitäten die sozialdemokratische Tageszeitung "Volkswacht" regelmäßig berichtete, hinterläßt uns aufschlußreiche Mosaiksteinchen aus ihrem Leben.

Die "Freie Vereinigung" war ein Zusammenschluß von Wäschearbeiterinnen - vorwiegend Näherinnen und Plätterinnen-, eine der seltenen Gründungen im Deutschen Reich zu dieser Zeit, wo Frauen trotz der bedrohlichen Rechtslage versuchten, für ihre gewerkschaftlich-politischen Interessen einzutreten. Dies konnte jedoch nur Frauen gelingen, die auch in diesen Dingen der Unterstützung ihrer Umgebung gewiß sein konnten und deren Familien und Ehemänner mit Rat und Tat zur Seite standen. So ist Karoline Zwieners Position als Erste Vorsitzende eindeutig zu bestimmen. Immer wieder war sie das Bindeglied zwischen der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsbewegung und der Frauenvereinigung, informierte hier über Streikbewegungen in der Bielefelder Industrie und forderte die finanzielle Solidarität der Mitglieder. Wiederholt bat sie ihre Mitstreiterinnen, die Parteipresse und auch die sozialdemokratische Frauenzeitschrift "Die Arbeiterin" zu abonnieren und zu lesen. Die gestandene Sozialdemokratin galt, sicher auch aufgrund ihres einflußreichen Ehemannes Josef Zwiener, der skeptischen örtlichen Sozialdemokratie als Garant für den rechten Weg der "Vereinigung". Die männliche Unterstützung der "Vereinigung" blieb sicherlich widersprüchlich, war eine Gratwanderung zwischen konstruktiver Hilfestellung und einengender Kontrolle. Zwei Jahre lang war Karoline Zwiener Erste Vorsitzende der "Freien Vereinigung", Ende 1882 legte sie ihren Vorsitz nieder und trat aus der Vereinigung aus. Möglicherweise hatte ihr Rückzug aus der Politik private Gründe, denn 1895 starb Josef Zwiener nach einer langen, schweren Krankheit.

Josef Zwiener war seit den frühen 1860er Jahren in der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Bewegung Bielefelds aktiv, als Führer der Schneidergewerkschaft und Mitbegründer der Schneider-Krankenkasse, als ADAV-Vorständler und noch in den 1890er Jahren aktiv als leitende Figur der Bielefelder Sozialdemokratie. Wie die "Volkswacht" berichtete, nahmen an seiner Beerdigung auf dem Johanniskirchhof über 3.000 Teilnehmer teil. Die sozialdemokratischen Ortsvereine, die Gewerkschaften und ganze Betriebsbelegschaften Bielefelds schickten Abordnungen; auch aus Städten der Umgebung reisten Genossen und Genossinnen an.

Allein aus den Traueranzeigen und Adreßbüchern Bielefelds der folgenden Jahre können wir Rückschlüsse auf Karoline Zwieners weiteren Lebenslauf ziehen, andere Dokumente liegen nicht vor. Karoline und Josef Zwiener hatten Kinder und Mitte der 1890er Jahre bereits mehrere Enkelkinder. 1898/99 machte sich der Sohn Ernst Zwiener als Schneidermeister selbständig und trat beruflich in die Fußstapfen seines Vaters.

Karoline Zwiener lebte nach dem Tod ihres Mannes noch fünf Jahre im Haushalt ihres Sohnes Ernst, dann zog sie in die Louisenstraße 18, wo sie bis 1905/1906 verzeichnet war. Danach gibt es keine weiteren Eintragungen, so daß vermutet werden kann, daß Karoline Zwiener in dieser Zeit gestorben ist.


Frauenarbeit in der Bielefelder Industrie

Bedeutsam für Karoline Zwieners Leben und für ihr Engagement in der "Freien Vereinigung" war ihr Beruf als Näherin, den sie sicherlich erst in einem Bielefelder Betrieb ausgeübt und nach ihrer Heimat mit Schneidermeister Josef Zwiener womöglich auch in der Werkstatt ihres Mannes verwertet hat. Um uns ihre Arbeits- und Lebensbedingungen vorstellen zu können, muß auf bekanntes historisches Material über die Bielefelder Wäscheindustrie zurückgegriffen werden.

Wer als junges Mädchen aus der Arbeiterschaft zum Ende des 19. Jahrhunderts in Bielefeld Arbeit suchte, fand Möglichkeiten vorwiegend in der Textil- und Wäscheindustrie. Dabei war die Arbeit in den Spinnereien am unbeliebtesten; Lärm, Staub und Nässe in den Produktionsräumen verfolgte die Frauen bis ins Privatleben. In einem Zeitungsartikel dieser Zeit hieß es:
"In den Spinnereien werden vorwiegend weibliche Arbeiter beschäftigt, die meistens aus Ostpreußen und Böhmen stammen. Auch die einheimische Bielefelderin geht in die Fabriken, aber nicht in die schmutzigen Spinnereien, sondern in die Webereien, wo die Löhne niedriger, wo aber auch die Arbeit reinlicher ist. Man kann, zumal am Sonntag, in den Tanzlokalen sehr genau beobachten, welche gesellschaftliche Kluft zwischen Spinnerin und Weberin herrscht und mit welchem Standesdünkel die Weberin auf die Spinnerin, die, von ihr ‚Bramser' genannt, herabsieht. Nie wird sich eine Weberin gefallen lassen, daß sich eine Spinnerin zu ihr an den selben Tisch setzt. Woran aber dieses unglückliche Geschöpf sogleich von der Weberin erkannt wird? An dem penetranten Leimgeruch, den ein ‚Bramser' ausströmt, und der sich durch alle Wohlgerüche Arabiens nicht verdrängen läßt. Wie die Weberin über dem ‚Bramser', so wieder - immer Hand in Hand mit dem aus seinem rohen Urzustand in den Zustand der Veredelung übergehenden Flachsfaser - die Jungfrau aus den Wäschefabriken über die Weberin." [2]


Die Bielefelder Wäscheindustrie

Die Wäscheindustrie bestand in den 1890er Jahren erst aus wenigen Fabriken; vorherrschend waren die städtischen Werkstätten, Nähstuben, Plättereien und Wäschereien. Während die größeren Werkstätten eine Anzahl ausgebildeter Arbeiterinnen und zahlreiche Lehrmädchen beschäftigten sowie meist von einem sachkundigen Geschäftsinhaber und seiner Frau oder einer Directrice geleitet wurden, umfaßten die kleineren Betriebe nur eine bis fünf Arbeitskräfte: Hier arbeitete eine ausgebildete Näherin mit mehreren Lehrmädchen zusammen oder hatten sich mehrere Frauen zusammengefunden, um selbständig oder
Auftrag größerer Betriebe Aufträge auszuführen.

Im Rahmen des Bielefelder Arbeitsmarktes bot allein die Wäsche- und Konfektionsindustrie den Frauen die Möglichkeit einen Beruf, nämlich den der Näherin, zu erlernen oder gar zur Directrice aufzusteigen; alle übrigen Tätigkeiten setzten nur eine kurze Anlernzeit voraus. Die Ausbildung zur Näherin betrug je nach Betrieb ein bis zweieinhalb Jahre. Gerade die kleinen Werkstätten waren auf die Lehrlinge angewiesen und versuchten, die Ausbildungsdauer der billigen Arbeitskräfte zu verlängern.

Während die räumlichen Arbeitsverhältnisse größerer Betriebe in der Regel als geräumig, hell und luftig beschrieben wurden, lagen der Bielefelder Polizeiverwaltung ganz andere Berichte über kleine Werkstätten vor. In einem Beschwerdebrief wurde die Wäschekonfektionärin Frl. Emma Heybrock, Obernthorwall 10 in Bielefeld, beschuldigt, in einem Raum von 5,30m Länge, 3,10m Breite und 2,55m Höhe vierzehn junge Mädchen mit Nähen zu beschäftigen, so daß jede Person nicht einmal drei Kubikmeter Luft zur Verfügung hatte. Die Gesundheitsverhältnisse, die der Öffentlichkeit auch von der Gewerbeaufsicht, der Gesundheitspolizei, den Krankenkassen und Kassenärzten vermittelt wurden, beschrieb man folgendermaßen:
"Bei diesem Mangel an frischer Luft und freier Bewegung kann es nicht Wunder nehmen, wenn viele der Arbeiterinnen über Krankheiten und körperliche Beschwerden klagen, so besonders über Rücken-, Magen- und Kopfschmerzen." [3]
Daneben berichteten die Kassenärzte über Bleichsucht, Blutanmut, Lageveränderungen der Gebärmutter und vor allem auch Schwindsucht.

Hatten die jungen Frauen geheiratet und dann Kinder bekommen, war ihnen die außerhäusliche Erwerbstätigkeit kaum mehr möglich. Die Familien waren auf einen Verdienst der Frauen jedoch angewiesen, und so bot sich das Nähen von Kleidungs- und Wäschestücken in Heimarbeit an. Aus diesem Grund war eine ausgebildete Näherin eine begehrte Partie in der Bielefelder Arbeiterschaft. Aber was sich so ideal zusammenzufügen schien, bedeutete für die Heimarbeiterin oft schwerste Belastung.
"Jetzt näht sie Blusen zu Haus und verdient bei ungleich längerer Arbeitszeit nur viel weniger. Dabei wird sie innerlich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, das nötige zu erwerben, und dem Verlangen, für die Kinder zu sorgen, deren Bedürfnisse ihr jetzt immer vor Augen treten. Gereizt über jede Unterbrechung der Arbeit und anderseits von ein Zustand gepeinigt, in dem sie beim Aufblicken von der Maschine die Kinder und die Häuslichkeit sieht - genötigt, eine Pflicht über der anderen zu vernachlässigen - so wird das Leben zu einem so aufreibenden Vielerlei, daß ich morgens immer denke, du kannst nicht aufstehen und einen solchen Tag wieder beginnen." [4]
Die Arbeitszeiten der erwerbstätigen Frauen lagen bei 57 Wäschefabriken bis zu 63 1/2 Stunden (Ravensberger Spinnerei) pro Woche bei sechs Arbeitstagen; die Lohnspanne bewegte sich z. B. in der Ravensberger Spinnerei zwischen 1,00 M und 1,99 M (pro Tag) und in der Wäscheindustrie zwischen 1,00 M und 3,00 M (Directrice). Damit verglichen verdiente ein qualifizierter Zuschneider (ein damals rein männlicher Ausbildungsberuf) ca. 5 bis 7 M pro Tag, ca. 2,10 M bis 3,20 M ein männlicher Arbeiter in der Ravensberger Spinnerei.

Die sozialdemokratisch orientierte Bielefelder Tageszeitung "Volkswacht" beschrieb die Verhältnisse am 11.07.1891 folgendermaßen:
"Eine geschickte Arbeiterin kann bei angestrengstester Arbeit und täglich 10stündiger Arbeitszeit bei der besten Arbeit, also Hemden zu 8 Mk. das Dutzend, 10 bis 11 Mk. die Woche verdienen, danach kann ungefähr der Verdienst ermittelt werden, welchen die minder geschickten Arbeiterinnen bei ihrer nicht so hoch bezahlten Arbeit haben; derselbe beträgt wöchentlich nicht viel über 5 bis 6 Mk. An Kostgeld müssen aber solche Näherinnen 5 bis 5,50 Mk. zahlen. Es kommt also vor, daß diese Mädchen nicht einmal das Kostgeld verdienen; für Kleidung und sonstige Bedürfnisse bleibt also garnichts übrig. Hierin liegt die traurige Ursache, weshalb viele dieser unglücklichen Mädchen auf anderweitigen Nebenverdienst angewiesen sind."
Alleinstehende Frauen waren also kaum imstande, für sich selbst zu sorgen; Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse waren so beschaffen, daß der Frauenlohn nur als Zuverdienst ausreichte, sei es noch im Elternhaus oder bereits im eigenen Hausstand.


Die Freie Vereinigung der Frauen und Mädchen Bielefelds

In dieser Situation versuchte so manche Frau, angeregt vom männlichen Vorbild im Familien- oder Bekanntenkreis, für ihre politischen Rechte zu streiten und ihre Arbeits- und Lohnbedingungen zu verbessern. Es war Frauen, Schülern und Lehrlingen bis 1908 nicht gestattet, sich politisch zu engagieren, so daß die Frauen gezwungen waren, Vereine mit betont unpolitischen Statuten als Organisationsform zu wählen. Eine andere Möglichkeit war es, den Gewerkschaften beizutreten; hier weigerten sich vielfach die Kollegen, der Arbeiterinnenfrage überhaupt Relevanz zuzubilligen, faßten sie doch die Frauenarbeit entweder als lohndrückende Konkurrenz oder als notwendiges Übel auf, das so bald wie möglich abzuschaffen sei. Auch der gewerkschaftlichen und politischen Avantgarde galt das weibliche Wesen am Herd als höchstes familiäres Gut. Die "Freie Vereinigung der Frauen und Mädchen" wurde im April 1890 gegründet. Karoline Zwiener, Ehefrau des Schneidermeisters und Vorsitzenden der Bielefelder SPD, Josef Zwiener, war Anfang 1891 bis Ende 1892 eine der Vorsitzenden. Weitere Frauen sozialdemokratischer Aktivisten bildeten das personelle Rückgrat der neuen Vereinigung. Die ersten Versammlungen der "Vereinigung" wurden von über dreihundert Frauen besucht, Männer waren in der Regel (es sei denn als Referenten) nicht zugelassen. Die Themen der Abende und die immer wieder ausgesprochenen Einladungen zu Familienabenden, Tanzkränzchen und Maskenbällen deuten darauf hin, daß Frauen jungen bis mittleren Alters Mitglieder und Adressatinnen der "Vereinigung" waren. Am 23.05.1890 stimmten die anwesenden Frauen über Namen und Statuten ihrer Gründung ab:
"Danach nennt sich der Verein künftig ‚Freie Vereinigung der Frauen und Mädchen'. Der Vereinsvorstand soll aus 9 Personen bestehen. Politik und Religion sind ausgeschlossen. Mädchen, welche das 16. Lebensjahr zurückgelegt haben, können als Mitglieder aufgenommen werden. Das Eintrittsgeld soll 25 Pfg und der monatliche Beitrag 2o Pfg betragen. Die Vereinsversammlungen sollen alle 14 Tage an einem Montagabend stattfinden." [5]
Josef Zwiener wies darauf hin, daß die Mitgliederzahl der "Vereinigung" auf 142 gestiegen sei.

Über die genauere personelle Zusammensetzung des Vorstandes berichtete die Polizeibehörde am 22.06. und 18.07.1890 an das Oberpräsidium in Münster im Rahmen eines Resümees über den Stand der sozialistischen Bewegung im Regierungsbezirk Minden. Unter den "versteckt sozialdemokratische Tendenzen" verfolgenden Zusammenschlüssen wurde neben anderen die "Freie Vereinigung" erwähnt. Weiter hieß es:
"Der eigentliche Leiter der Freien Vereinigung von Frauen und Mädchen ist der Schneidermeister Zwiener aus Bielefeld; nominell gehören folgende Personen zum Vorstand derselben:
Verehelichte Tüker, Vorsitzende
Näherin Kornitzky, Stellvertreterin
Verehelichte Straterneier, Kassiererin
Näherin Luise Kastrup, Kassiererin
Näherin Anna Korte, Schriftführerin
Plätterin Luise Schützler, Schriftführerin". [6]

Am 13.01.1891 berichtete die "Volkswacht" über die Neuwahl des Vorstandes. Daß einige Ämter erst nach einer Stichwahl vergeben wurden, deutet auf personell-politische Diskussionen hin. Es wurden gewählt:
Frau Zwiener, Erste Vorsitzende
Frau Kendelbacher, Zweite Vorsitzende
Frau Kralemann, Erste Kassiererin
Frl. Flachmann, Zweite Kassiererin
Frau Kleintje, Erste Schriftführerin
Frl. Fattinger, Zweite Schriftführerin.

Im Februar 1891 sah sich die "Vereinigung" erneut mit polizeibehördlicher Aktivität konfrontiert. Der Vorstand war angeklagt, innerhalb von drei Tagen nach Gründung des Vereins keine Mitgliederliste bei der Behörde vorgelegt zu haben. Die "Volkswacht" berichtete am 17.02.1891:
"Der Vorstand war der Ansicht gewesen, daß der betreffende Verein, dem Politik ausdrücklich nach den Statuten fernbleiben sollte, nicht unter das Vereinsgesetz falle und daß deshalb eine Mitgliederliste überflüssig wäre. Die Strafkammer des Landgerichts Bielefeld bildete sich nach der Beweisaufnahme jedoch eine andere Ansicht; sie führte in den Urteilsgründen aus, daß der Verein eine Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten auszuüben strebe und daß er deshalb unter die Bestimmungen des Vereinsgesetzes falle. Demgemäß wurde jedes der 6 weiblichen Vorstandsmitglieder zu einer Geldstrafe von 15 Mk. sowie den Kosten des Gerichtsverfahrens verurteilt."
Wie empfindlich diese Geldstrafe war, zeigen die in Bielefeld gezahlten Frauenlöhne: Sie entspricht etwa dem Lohn für zwei bis drei Wochen. Im Herbst 1891 wurden zwei Frauen des Vorstandes erneut zu je 15 Mark Geldstrafe oder drei Tagen Gefängnis verurteilt. Vermutlich war den Behörden eine Versammlung im August 1891 aufgefallen, wo ein Frl. Blechschmidt zum Thema "Frau und Sozialismus" referierte.

Die in Vorträgen und Versammlungen angesprochenen Probleme als auch die Berufsbezeichnung der Vorstandsdamen deuten darauf hin, daß sich vorwiegend Arbeiterinnen der Wäscheindustrie in der "Vereinigung" organisierten bzw. als Interessierte die Versammlungen besuchten. Gleich auf der ersten Versammlung
"...führte die Vorsitzende über die große Konkurrenz der Näherinnen aus der Umgegend Beschwerde, welche die Preise immer mehr herunterdrückten und für einen Spottnählohn, so z. B. 1 Dutzend Faltenhemden sogar für 6 M. 50 Pf fertig stellten." [7]
Schneidermeister Zwiener berichtete über die bestehenden Lohnverhältnisse in den Nähereien und bat die Versammlung, die streikenden Arbeiterinnen der Ravensberger Spinnerei materiell zu unterstützen. Einige Wochen später hieß es in einem Versammlungsbericht zum selben Thema:
"Ebenso schlimm wie die Konkurrenz sei, welche die weibliche Arbeitskraft der männlichen auf fast allen Gebieten der Industrie mache, sei auch die Konkurrenz unter den Frauen selbst. So sei es ja allgemein bekannte Tatsache, daß aus der ländlichen Umgebung schiebekarren- und selbst wagenweise Arbeiten aus der Wäsche- und Konfektionsbranche von hier abgeholt würden; die Fabrikanten fragen nur danach, wer bei gleicher Leistung den geringsten Lohn verlangt, und die ländlichen Näherinnen könnten etwas billiger sein als die städtischen, weil diese höhere Wohnungsmiete zu zahlen hätten und weil jene oft einen Teil ihrer Lebensmittel nebenbei selbst durch Bearbeitung eines Gärtchens sich beschaffen." [8]

Ein weiteres Thema, das von Beginn an im Zentrum der Diskussionen stand, war die Frage, ob die Lage der Frauen sich erst durch den Sozialismus bessern ließe oder ob schon hier und jetzt Fortschritte erkämpft werden könnten. Je nach Standpunkt folgten daraus unterschiedliche politische Handlungsstränge: Der Sozialismus ließe sich nur mit der Sozialdemokratie erkämpfen, die Frauenfrage sei also unlösbar mit der Klassenfrage verknüpft, reformerische Schritte dagegen ständen nicht im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft und könnten rein "frauenrechtlerische" Vereinigungen zur Folge haben. Immer wieder berichtete die sozialdemokratische "Volkswacht" ablehnend über die Aktivitäten bürgerlicher, herabsetzend "frauenrechtlerisch" genannte, Frauenvereinigungen. Da deren Kampf um das Frauenwahlrecht, die Frauenbildung und das Frauenstudium gar für die Behandlung von Patientinnen durch Gynäkologinnen im Licht der Klassenfrage als unerheblich erschien, wurde dieses Engagement als Irrweg und abschreckendes Beispiel für die Arbeiterfrauen interpretiert. Welcherart die Lage und Aufgabe der Frauen sei, formulierte die "Volkswacht" in einem Artikel Mitte 1890 so:
"Der Einfluß auf den Entwicklungsgang der Menschheit ist immer ein sehr bedeutender gewesen und gerade die deutsche Frau ist stets von den Dichtern unseres Volkes vor allen anderen Frauen der Welt als treue Genossin des Mannes im Kampf um des Lebens Not und als unermüdliche Spenderin von Trost und Zuspruch in gefährlichen Lagen gefeiert. Schon die Römer, von deren blutigen Kämpfen mit unseren Vorfahren zum Beginn der Deutschen Geschichte das nahe Hermannsdenkmal bleibende Kunde vermeldet, sprechen in ihren uns erhaltenen Berichten mit besonderer Scheu von Frauen der Deutschen, welche ihre Männer zum Kampfe anfeuerten und manche ins Wanken geratene Schlachtordnung durch ihre tapfere Verteidigung der Wagenburg wieder zum Stehen brachten. Darum liege es im eigensten Interesse der sozialdemokratischen Partei, die Frauen und jungen Mädchen für ihre Ziele zu gewinnen und hierzu sei das Lesen eines Parteiblattes ein sehr geeignetes Mittel." [9]

Immer wieder kündigte die "Freie Vereinigung" Veranstaltungen zu politisch-aktuellen Themen an, z. B. referierte Pastor von Bodelschwingh über die Wohnsituation in Bielefeld, oder lud zu historischen Vorträgen ein, z. B. über Regierung und Eheleben Friedrich Wilhelm II. von Preußen oder die Geschichte der Frauenfrage. Auch wurde auf den Versammlungen aus Reuters Werken gelesen oder Börne vorgetragen, ein Tanzkränzchen sorgte für eine "vollständig gefüllte Volkshalle", und ein Maskenball wurde veranstaltet. Diese wohl gut besuchten, unterhaltsamen Abende stießen bei den Journalisten der "Volkswacht", zugleich führende Bielefelder Sozialdemokraten, nicht auf einhellige Zustimmung: "Das übliche, und bei Vergnügen von Frauenvereinen wohl auch unvermeidliche Tanzkränzchen, hielt die Festteilnehmer bis zur frühen Stunde in ungestärkter Fröhlichkeit zusammen." [10]

So gab es mehrere Gründe, warum die Frauenvereinigung vor Ort auch argwöhnisch beobachtet wurde: Einmal geriet sie allein durch die Organisierung nur von Frauen in den Verdacht "frauenrechnerischer" Tendenzen, manche Thematiken und Festivitäten entbehrten gar sozialdemokratischer Geradlinigkeit. Immer wieder wurde in Artikeln angedeutet, ob es nicht förderlicher sei, sich den Gewerkschaften anzuschließen, um bessere Arbeitsbedingungen an der Seite der Männer zu erstreiten.


Krise und Ende der Freien Vereinigung"

Verfolgung durch die Justiz und sozialdemokratische Kritik setzten die "Vereinigung" von außen unter Druck; andererseits gab es auch Hinweise auf politische Differenzen innerhalb der Gruppe, die möglicherweise in Karoline Zwieners Rücktritt als Erste Vorsitzende gipfelten. Schon im Sommer 1890 hatten die Frauen beschlossen, "bis auf weiteres jedem erkrankten Mitgliede nach Vorzeigung einer ärztlichen Bescheinigung wöchentlich 3 Mark aus der Vereinskasse auszuzahlen, und zwar auf Dauer von drei Wochen. Die Einrichtung einer förmlichen Krankenkasse lehnte die Versammlung ab, weil die Mitgliederzahl nicht groß genug sei und weil die Einrichtung und Verwaltung einer Krankenkasse mit verhältnismäßig zu vielen Umständen verknüpft wäre". [11]

Da das Krankengeld häufig in Anspruch genommen wurde, mußte die "Vereinigung" schon im März 1891 den Kreis der im Krankheitsfall Berechtigten verkleinern; erst nach 6 Monaten Mitgliedschaft und regelmäßiger Beitragszahlung hatte eine Frau Anrecht auf Krankengeld. Nachdem ein Versuch im April 1893, die Frauenbewegung in Bielefeld zu reorganisieren, gescheitert war, fand ein Jahr später eine schwach besuchte Frauenversammlung zum selben Thema statt. Hier lassen sich die Interessengegensätze der engagierten Frauen klar erkennen: Die einen plädierten zumindest für einen sozialdemokratisch orientierten Verein, die anderen stellten die Frage der Krankenunterstützung in den Mittelpunkt und sprachen sich für eine bewußt unpolitische Arbeit aus; dies sicher aus der Erfahrung heraus, stets von der politischen Polizei beobachtet und bedroht zu werden.
"Eine kleine Minderheit der anwesenden Frauen sprach sich dafür aus, nur einen Unterstützungsverein, vielleicht nach dem Muster des Vaterländischen Frauenvereins, zu bilden, dagegen in den Vereinsversammlungen alles Halten von Vorträgen und allen Disputationen zu vermeiden, weil selbst bei der größten Sorgfalt es sich kaum verhüten lasse, mit dem Paragraphen des Vereinsgesetzes in Konflikt zu geraten, welcher den Frauen die Beschäftigung mit politischen Angelegenheiten in Vereinen verbietet. Die große Mehrzahl der Anwesenden war aber entschieden dagegen, nur einen Unterstützungsverein bilden zu wollen, noch dazu einen solchen, bei welchem Anhängerinnen des Vaterländischen Frauenvereins Pathenstelle vertreten hätten; niemals würden sie einem Verein beitreten, der auch nur in den Verdacht kommen könnte, nicht ein Glied in der großen, modernen Arbeiterbewegung zu sein. Die Frauen müßten Schulter an Schulter mit ihren Männern kämpfen. Ließe sich ein Verein, der gleichsam die geistige Rüstkammer für die weiblichen Glieder des Proletariats bilden solle, bei den bestehenden Gesetzen nicht aufrecht halten, dann sei es noch weit besser, überhaupt keinem Verein anzugehören, als einen Verein zu gründen, dessen Thätigkeit nur eine verflachende Wirkung ausüben könne. Genosse Schreck, der als einziger männlicher Gast der Versammlung beiwohnte, gab den Frauen anheim, zu überlegen, ob sie nicht einer Gewerkschaft beitreten wollten. Jedes Gewerkschaftsstatut enthalte die Bestimmung, daß in der Gewerkschaft auch die geistigen Interessen der Mitglieder zu fördern seien. Vor allen Dingen käme es darauf an, bei der Frauenagitation die Frauen und Mädchen zu tüchtigen Mitkämpfern ihrer Männer in dem Befreiungskampfe zu machen und sie zu befähigen, ihre Kinder in den sozialistischen Ideen zu erziehen." [12]
Laut "Volkswacht"-Bericht fanden diese Ausführungen Zustimmung, und es wurde festgelegt, in Kürze eine weitere Versammlung einzuberufen und dort einen endgültigen Beschluß zu fassen.

Die Versammlung vom 24.04.1894, besucht von zwanzig bis dreißig Frauen, beschloß, auf statuarischer Grundlage der Gewerkvereine einen neuen Verein zu gründen, der sich strikt unpolitisch verhalten sollte. Im Mai erschien eine kurze Notiz, daß die Ausarbeitung der neuen Statuten abgeschlossen wäre. Eine erneute Versammlung beschloß dann Ende Mai 1894 die Auflösung der "Freien Vereinigung der Frauen und Mädchen" und sprach sich dafür aus, sich eventuell dem "Centralverein für Frauen und Mädchen" in Hamburg anzuschließen. Dieser Verein, 1892 gegründet, befand sich zu diesem Zeitpunkt aber ebenfalls in Auflösung. Hier wird überdeutlich, daß die übriggebliebenen Bielefelder Frauen nach einem funktionierenden Organisationsmuster suchten; zwischen dem "Vaterländischen Frauenverein" und dem "Hamburger Centralverein" lagen allerdings soziale und politische Welten. Während hier gutbürgerliche bis adlige Damen der Gesellschaft Gutes für die Armen leisteten, z. B. Suppe und Wäsche verteilten oder in Kriegszeiten Pflegepersonal im vaterländischen Dienst stellten, versuchten die Arbeiterinnen des Centralvereins, sich bessere Arbeits- und Lohnbedingungen zu erstreiten.

Diese Zerreißprobe zwischen zwei Orientierungsmustern war das Ende der "Freien Vereinigung der Frauen und Mädchen"; auch von dem Versuch, einen Frauengewerksverein zu gründen, wurde später nichts mehr berichtet. Am 01.07.1910 wurde die "Vereinigung" nochmals erwähnt. Anläßlich des zwanzigjährigen Bestehens des Sozialdemokratischen Vereins gab die "Volkswacht" eine Jubiläumsbeilage heraus, in der auch ein Resümee der Frauenbewegung Bielefelds gezogen wurde:
"Bereits im Juli 1890 wurde in Bielefeld eine freie Vereinigung der Frauen und Mädchen gegründet; sie konnte selbstverständlich nur unpolitischer Natur sein. Eine von der Genossin Ihrer herausgegebene sozialdemokratische Wochenschrift, ‚Die Arbeiterin', wurde in dreißig bis vierzig Exemplaren gelesen. Die Vereinigung ging im Jahre 1894 wieder ein."
Ein reichlich lapidares Urteil wird hier ausgesprochen, das vielleicht aus der Sicht sozialdemokratischer Funktionäre seine Berechtigung haben mochte, der Geschichte der Vereinigung und dem Engagement der Frauen jedoch in keinster Weise gerecht wurde.


Anmerkungen

[1] "Die Volkswacht" vom 16.12.1905.
[2] "Berliner Tageblatt" vom 08.01.1905, zit. n. Ditt 1982, S. 205
[3] StaB Gst XII, Nr. 568.
[4] Hausen 1983, S. 166.
[5] "Der Wächter" vom 24.05.1890.
[6] Hellfaier 1963, S. 220. Vgl. Herzig 1971 , S. 165.
[7] "Der Wächter" vom 08.05.1890.
[8] "Die Volkswacht" vom 09.07.1890.
[9] "Die Volkswacht" vom 01.07.1890.
[10] "Die Volkswacht" vom 27.04.1891.
[11] "Die Volkswacht" vom 12.08.1890.
[12] "Die Volkswacht" vom 17.04.1894.


Quellen/Literatur

UNGEDRUCKTE QUELLEN
Stadtarchiv Bielefeld, Geschäftsstelle XII, Nr. 568.


PERIODIKA
"Der Wächter" - Bielefelder Zeitung, 1890.

LITERATUR
"Die Volkswacht" - Organ der Sozialdemokratie für das östliche Westfalen und die lippischen Fürstentümer, 1890ff.

BITTER, B.
Ihr Frauen aufgewacht! Die Entstehung der sozialdemokratischen Frauenbewegung von der Aufhebung des Sozialistengesetzes bis zur Novenberrevolution in Ostwesfalen-Lippe, Bielefeld 1990.

DITT, K.
Industrialisierung, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Bielefeld 1850-1914, Bielefeld 1982.

EVANS, R. J.
Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im Deutschen Kaiserreich, Bonn 1979.

HAUSEN, K.
Frauen suchen ihre Geschichte, München 1983.

HELLFAIER, K. A.
Probleme und Quellen zur Frühgeschichte der Sozialdemokratie in Westfalen, in: Archiv für Sozialgeschichte 3 (1963), S. 157-221.

HERZIG, A.
Die Entwicklung der Sozialdemokratie in Westfalen bis 1894, in: Westfälische Zeitschrift 121 (1971), S. 97-172.

LOSSEFF-TILLMANNS, G.
Frauenemanzipation und Gewerkschaften, Wuppertal 1978.

NIGGEMANN, H.
Emanzipation zwischen Sozialismus und Feminismus. Die sozialdemokratische Frauenbewegung im Kaiserreich, Wuppertal 1981.

TITTEL, P.
Die Wäscheindustrie in Bielefeld unter besonderer Berücksichtigung von Organisation und Betrieb, Bielefeld 1914.


Regine Hagedorn

QUELLE   | "Was für eine Frau!" | S. 107-120, 272f.
PROJEKT  Portraits von Frauen aus Ostwestfalen-Lippe
AUFNAHMEDATUM2005-06-08


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QUELLE     | "Was für eine Frau!" | S. 107-120

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3.8   1850-1899
3.9   1900-1949
Ort2.1   Bielefeld, Stadt <Kreisfr. Stadt>
Sachgebiet6.8.8   Frauen
10.6.5   Gewerkschaften, Arbeitervereine, Interessenverbände
10.9.2   Arbeitswelt
10.13   Industrie, Manufaktur
DATUM AUFNAHME2003-10-28
DATUM ÄNDERUNG2014-09-19
AUFRUFE GESAMT5607
AUFRUFE IM MONAT550