PERSON

FAMILIENathan
VORNAMEViette, gt. Fanny


GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1803-04-02   Suche
GEBURT ORTPaderborn
KONFESSIONjüd.
TOD DATUM1877-07-12   Suche


VATERNathan Alexander
MUTTERSusanna


BIOGRAFIE

Fanny Nathan 1803-1877. Gründerin des jüdischen Waisenhauses in Paderborn

Wenn wir uns heute Fanny Nathan nähern wollen, so ist es unmöglich, sie in ihrer Individualität zu erkennen, dafür wissen wir zu wenig über ihr Leben. Ihre Persönlichkeit ist jedoch untrennbar mit ihrem Werk verbunden: der Gründung und Leitung des jüdischen Waisenhauses in Paderborn. Fanny Nathan war eine Frau der Tat und nicht der Theorie. Die eigenen Erfahrungen der Jugend und ihr Leben als Jüdin in einer Zeit krisenhafter politischer Übergänge und Entwicklungen prägten sie und forderten sie heraus, sich der sozialen Verantwortung auf ihre Weise zu stellen.

Auch wenn Fanny Nathans Spuren heute verwischt sind, so hat sie doch in ihrer Zeit Zeichen der Humanität gesetzt, die Erinnerung wert sind.


Die Nathans

Als der Jude Nathan Alexander mit seiner Frau Susanna und den Töchtern Schonette und Kachel (geboren 1794 und 1797) Ende des 18. Jahrhunderts in Paderborn lebte, befand sich das Fürstbistum Paderborn noch in der traditionellen Ordnung und war von den Ideen der Französischen Revolution, der Freiheit und Gleichheit aller Menschen - auch der Juden -, noch weit entfernt.

Wie in allen anderen deutschen Territorien lebten auch die Juden des Fürstbistums Paderborn außerhalb der ständischen Gesellschaft und somit der allgemeinen Rechtsordnung. Eine gewisse Rechtssicherheit gewährte ihnen allerdings der sogenannte Geleitschutz des jeweiligen Landesherrn. Dabei handelte es sich um eine schriftliche Verpflichtung, den Juden seines Territoriums den Schutz ihrer Person, ihrer Familie und ihres Besitzes, die Ausübung des Handels sowie die Pfand- und Geldleihe unter bestimmten Auflagen zu gewähren. Dieser Schutz mußte durch hohe Tributgelder und Abgaben erkauft werden, die in der Regel alle zehn Jahre oder bei einem Regierungswechsel fällig wurden. Die Inhaber des Geleites wurden 'Schutzjuden' genannt. Sie unterlagen im Rahmen des Schutzverhältnisses strengen Vorschriften und Kontrollen im persönlichen wie im gewerblichen Bereich. Hervorzuheben ist, daß sie insbesondere keinen Grundbesitz erwerben und kein zünftiges Handwerk erlernen durften. Die Juden des Fürstbistums Paderborn waren bischöflichen Anordnungen unterworfen, und nur ihre Kultus und Gemeindeangelegenheiten konnten sie im allgemeinen selbstverantwortlich regeln. Sie führten, von ihrer christlichen Umwelt weitgehend isoliert, eine religiös-kulturelle Eigenexistenz. Dennoch gewährte ihnen das Leben "unter dem Krummstab" im Vergleich zu anderen deutschen Staaten durchaus menschenwürdige Lebensverhältnisse. Auch Nathan Alexander war ein solcher Schutzjude. [1]

Am 02.04.1803 wird der Familie die dritte Tochter Viette geboren, die später den Vornamen Fanny trägt. Seit einem halben Jahr ist Paderborn nun preußisch. Die napoleonischen Eroberungen hatten die alte Staatenwelt erschüttert. Preußen erhielt für seine linksrheinischen Verluste und Gebietsabtretungen an Frankreich Entschädigung aus dem Besitz der 1802 untergegangenen geistlichen Territorien im Innern Deutschlands.

Für die jüdische Minderheit entfielen nun zwar einige diskriminierende Einschränkungen, wie zum Beispiel das Gebot, an Sonn-, Feier- und kirchlichen Prozessionstagen die Fenster und Wohnungen geschlossen zu halten oder an besonderen Tagen das Haus nicht zu verlassen, aber im übrigen erkannte Preußen die bisher herrschenden Gesetze als verbindlich an. Die preußischen Beamten unterstrichen jedoch das herrschende Vorurteil, das ehemalige Fürstbistum Paderborn besitze einen unverhältnismäßig hohen jüdischen Bevölkerungsanteil, der schädlich für das Land sei.

Diese Umbruchzeit, in die Fanny geboren wurde, erschien daher äußerlich noch in der alten Ordnung: als Keim trug sie aber bereits die Züge des Überganges in die Moderne in sich. Wir können nicht ermessen, ob und inwieweit die Familie Nathan von den politischen Zeiterscheinungen berührt wurde, da wir Näheres über ihr persönliches Leben nicht wissen.

Als Preußen 1805 seine neuen Untertanen statistisch erfaßte, gab der 1760 in Paderborn geborene Nathan Alexander seinen Beruf mit "Information in Musik und Schreiben" an. Er besaß nur einen temporellen Geleitschutz. Wahrscheinlich mußte er jedes Jahr erneut darum nachsuchen. Das spricht für beschränkte Vermögensverhältnisse, da im allgemeinen in diesem nur diejenigen Juden standen, denen die Zahlung der Zehnjahrestributgelder unmöglich war. Nathan Alexander arbeitete vermutlich nach heutiger Bezeichnung freiberuflich, denn er war nicht ein von der jüdischen Gemeinde engagierter Lehrer an ihrer Elementarschule. Wir können uns aber vorstellen, daß Nathan vielleicht den Kindern der bemittelten Paderborner Judenfamilien Musikunterricht erteilte und sie in der deutschen Grammatik unterwies, denn die Nähe zu den fürstbischöflichen Behörden hatte auch eine jüdische Oberschicht hervorgebracht. Reichere Judenfamilien besaßen ohnehin Privatlehrer. Vielleicht bedienten sich auch die Gemeindemitglieder des im Deutschen schrift- und schreibgewandten Nathan bei Eingaben an die Behörden oder auch bei privater Korrespondenz, denn die Umgangssprache war das Jüdisch-Deutsche. [2] Wir können davon ausgehen, daß Nathan seine inzwischen sechsköpfige Familie nur mühsam aus seinem Verdienst unterhalten konnte. Inzwischen war nämlich 1806 eine weitere Tochter Esther und 1808 noch Hannchen geboren worden, deren Geburt er nicht mehr erlebte.

Er konnte somit auch nicht das neue "Königreich Westphalen" begrüßen, das Napoleon nach der preußischen Niederlage 1806 aus höchst heterogenen Landesteilen zu einem Staat zusammengefügt hatte. Unter König Jerôme, dem Bruder Napoleons, blieb es zwar ein von ihm abhängiger Vasallenstaat, und auf den neuen Staatsbürgern lastete schwer der Druck der Kontributionen, aber die Juden hatten nun Anteil an den Früchten der Französischen Revolution. Jerome verkündete 1808 mit einem Schlage die Emanzipation der Juden in seinem Staat. Zwar hatte auch die Bewegung der Aufklärung mit ihrer Betonung von Naturrecht und Menschenwürde, ihrem Streben nach Freiheit von Vorurteilen und einer auf rationaler Einsicht gründenden Humanität sich bemüht, eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit dem Judentum herbeizuführen und ihre bürgerliche Gleichstellung zu fordern (man denke nur an Herders Schriften über die jüdische Poesie, an Lessings großartigen Aufruf zur religiösen und menschlichen Toleranz in seinem Versdrama "Nathan der Weise", erstmalig 1779 erschienen, und vor allem an die Schrift des preußischen Kriegsrates Wilhelm von Dohm "Über die bürgerliche Verfassung der Juden"), aber die Kräfte der Beharrung und Tradition hatten sich zumeist als stärker erwiesen. Die überkommenen Vorstellungen, gegen die die Aufklärer sonst mit allen Kräften ankämpften, beherrschten in der "Judenfrage" weiter die Gedanken und Gefühle.

Die faktische Veränderung der gesellschaftlichen und rechtlichen Stellung der Juden war daher hauptsächlich der Französischen Revolution und der napoleonischen Ära zu verdanken. Die Errungenschaft der Revolution, die Menschen- und Bürgerrechte, wurde auch den Juden im "Departement der Fulda" zuteil, zudem Paderborn nun zählte. Sie erhielten die gesetzliche Gleichstellung mit den übrigen Staatsbürgern. Alle rechtlichen Einschränkungen entfielen: Sie durften ihren Beruf und ihren Wohnort frei wählen, sie besaßen das Wahlrecht und konnten nun Haus- und Grundbesitz erwerben.

Die neuen Staatsbürger im Königreich Westphalen "mosaischer" Konfession waren bislang nur mit ihrem Vornamen und dem Namen ihres Vaters benannt worden, z. B. Nathan (Sohn des) Alexander. Nunmehr mußten sie feste Familiennamen annehmen. Mit den übrigen Judenfamilien der Stadt erwarb Nathans Witwe Susanna 1808 vor dem Paderborner Bürgermeister - nun Maire genannt - das Stadtbürgerrecht und nannte sich in Anlehnung an ihren Geburtsort Heidingsfeld bei Würzburg fortan Heidingsberg. Ihre Töchter hingegen übernahmen später als Familiennamen Nathan, den Vornamen ihres Vaters. Bei einer Erfassung der neuen jüdischen Stadtbürger vermerkt der Bürgermeister bei der Familie Heidingsberg, sie sei arm und lebe von Almosen. Diese knappe Aussage spiegelt die Existenz der Heidingsbergs wider, und in ihr ist wohl der Ansatz für Fanny Nathans spätere Aufgabe zu suchen.

Es bedarf keiner großen Phantasie, sich das Leben einer vierzigjährigen armen Witwe mit fünf Töchtern - sofern alle lebten, was nicht eindeutig zu klären ist - vorzustellen, die ihre Kinder auf der Grundlage von Betteln und Almosenempfang großziehen muß. Beides war allerdings im Judentum nicht diskriminierend. Das Wohltun gegenüber dem sozial Schwächeren ist in der Lehre fest verankert und eine der vornehmsten Tugenden des Judentums. Es ist nicht eine huldvoll geübte Wohltat, sondern die Verpflichtung zur "Zedaka", einer Pflicht zur Gerechtigkeit, die dem Menschen auferlegt ist, um durch seinen Willen die Ungleichheit des menschlichen Geschicks zum besseren Ausgleich zu bringen. Daher wird der Almosenempfänger als rechtmäßig Fordernder betrachtet. [3]

Dennoch dürfte dieses Leben - abhängig vom Almosenempfang - Susanna Heidingsberg und ihre Kinder innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, deren Mitglieder Macht und Ansehen aus ihrem wirtschaftlichen Status bezogen, sozial ausgegrenzt haben. Wir stellen uns deshalb vor, daß der Zusammenhalt in dieser ganz auf sich zurückgeworfenen Familie besonders fest gewesen sein muß und ihren Mitgliedern daraus starke lebensgestaltende Kräfte erwuchsen.

Im Laufe der folgenden Jahre scheinen sich die Vermögensverhältnisse der Familie verbessert zu haben, denn 1817 wird Susanna als Besitzerin eines Hauses ausgewiesen. Weiteres berichtet die Quelle nicht. Wir wissen nicht, welche Schritte sie unternahm, um materiell unabhängig zu werden, aber wir können uns vorstellen, daß Susanna Heidingsberg sich von der neuen Handelsfreiheit im Königreich Westphalen herausfordern ließ und sie zum Aufbau einer eigenen Existenz nutzte. Aufgrund traditioneller Berufsbeschränkungen war bekanntlich der Handel eine Domäne der Juden. Hierin besaßen sie ausgeprägte Fähigkeiten, und in der damaligen Zeit war es für eine jüdische, sozial nicht etablierte Frau durchaus denkbar, ihren Lebensunterhalt durch Hausier-, Trödel- oder Lumpenhandel zu verdienen. Die allgemeine Armut zwang dazu, noch dem Allergeringsten Handelswert beizumessen und es zu verwerten. Unterstützung in ihrem Handel mag Susanna Heidingsberg durch ihre um 1810 etwa 16 Jahre zählende älteste Tochter gefunden haben, während die 13jährige Rachel zu Haus die jüngeren Geschwister versorgen konnte.

Fanny wuchs in einer Umgebung auf, in der trotz materieller Not Bildung einen besonderen Stellenwert besaß. Der in ihrer Lebensgestaltung an Thora und Talmud orientierten und von jüdischen Traditionen normierten jüdischen Gesellschaft war die Kenntnis der Schrift schon im frühen Kindesalter wichtigstes Erziehungsziel, und zwar unabhängig vom sozialen Status und materieller Privilegierung. Der jüdische Gelehrte blieb durch die Jahrhunderte das Bildungsideal der Juden, und der jüdische Knabe wurde von seinem frühesten Lebensalter auf dieses Ideal hin erzogen. Für die jüdische Frau galten andere Inhalte. Ihre Stellung war mit dem Leben der Familie eng verknüpft. Sie erfüllte wichtige Pflichten in Haus und Familie in Übereinstimmung mit den Regeln und Traditionen, die für das jüdische Leben galten, und die sie in die Praxis umsetzte, so wie sie es bei der Mutter gesehen und von ihr gelernt hatte. Wenn auch ihre Teilnahme am jüdischen Gottesdienst nicht aktiv war, so besaß sie dafür Autonomie im häuslichen Bereich.

Was die jüdischen Mädchen anging, so erhielten sie gewöhnlich keinen systematischen Unterricht. Doch die geistige Atmosphäre im väterlichen Haus gab auch den Töchtern Antrieb und Gelegenheit, sich Kenntnisse anzueignen, so daß sie meistens lesen und schreiben konnten. Sicherlich wird auch Nathan Alexander bis zu seinem Tode seine beiden ältesten Töchter mit diesem geistigen Rüstzeug ausgestattet haben. Die spätgeborene Fanny hingegen profitierte von den Neuerungen im Königreich Westphalen, wo ihr nun immerhin ein zeitweiliger Elementarschulunterricht ermöglicht wurde. Das Königreich Westphalen war allerdings bald wieder von der Landkarte verschwunden, und nach der Niederlage Napoleons hing seit 1815 in Paderborn der preußische Adler wie zuvor.

Mit all ihren Glaubensgenossen mußte Fanny bald erfahren, daß diese politische Entwicklung ihrer Emanzipation einen Rückschlag versetzte. Zwar blieb den Juden das Stadt- und Staatsbürgerrecht erhalten, aber die in französischer Zeit gewährten Rechte und Freiheiten wurden auf dem Verwaltungswege nach und nach wieder rückgängig gemacht.


Fanny Nathan als Erzieherin

Paderborn zählt um 1816 etwa 195 Juden bei einer Bevölkerungszahl von 5.700 Personen. Die Hauptstadt des ehemaligen Fürstbistums Paderborn ist vor allein eine Ackerbürgerstadt und bietet unverheirateten Frauen und insbesondere Jüdinnen keine Möglichkeiten der Berufsausübung, die im übrigen damals ohnehin äußerst begrenzt waren. Wann Fanny Nathan Paderborn verläßt und welche weitere Ausbildung sie erfährt, ist nicht genauer bekannt. Überliefert ist, daß sie Anfang der dreißiger Jahre als Erzieherin in Frankfurt am Main arbeitete, aber wir wissen nicht, in welchen Familien sie wirkte. Aus der Festschrift des Jahres 1906 zur 50-Jahr-Feier des jüdischen Waisenhauses erfahren wir jedoch, daß sie dort bereits Verbindungen knüpfte, die ihren späteren Plänen ideell und materiell zugute kamen.

Welche Gründe Fanny Nathan bewogen, nach Paderborn zurückzukehren, sind ebenfalls nicht überliefert. Gesichert ist nur die Tatsache, daß sie 1832 Leiterin eines "Institutes zur Ausbildung jüdischer Mädchen" war, das sie unter der Zustimmung der Regierung in Minden errichten durfte. Damit entspricht sie einem allgemein gestiegenen Bedürfnis nach besserer Mädchenbildung und -erziehung in der jüdischen Oberschicht des Paderborner Landes, für die - trotz aller Hemmnisse und Verzögerungen in der jüdischen Emanzipation - die Periode bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts insgesamt eine Zeit des sozialen Aufstiegs bedeutete, in der sich auch die Rolle und Stellung der jüdischen Frau veränderte. Bislang war es allgemein üblich, daß eine Frau im Geschäft ihres Mannes mitarbeitete. Da sie dabei gute Geschäftskenntnisse erwerben konnte, zog ein früher Tod des Familienoberhauptes nicht zwingend eine materielle Notlage nach sich, wie das häufig in bürgerlichen Familien zu beobachten war. Meistens war die jüdische Frau in der Lage, das Handelsgeschäft ihres Mannes weiterzuführen. Mit steigendem Wohlstand jedoch zogen sich die Frauen der jüdischen Ober- und Mittelschicht aus dem Geschäft zurück. Sie orientierten sich damit am gehobenen Bürgertum der Städte, das Frauenarbeit mit dem Odium sozialer Minderwertigkeit versah. Die, bürgerliche Jüdin besaß also keine Verbindung mehr zum Geschäftsleben, sondern nahm immer mehr den Status einer Dame des Hauses mit gesellschaftlichen Verpflichtungen an.

Wie einem Bericht über die "Höhere Unterrichts- und Erziehungs-Anstalt der Geschwister Nathan in Paderborn" (etwa um 1850) zu entnehmen ist, erhielten die jüdischen Mädchen eine systematische Ausbildung, die aber nicht berufsqualifizierend war. Staatlich geprüfte Lehrer und Erzieherinnen erteilten den Unterricht; Fanny Nathan stand dem Haus als Leiterin vor, unterrichtete aber nicht selbst. lm Kanon der aufgeführten Unterrichtsfächer erscheinen: Religionslehre, Mythologie, deutsche Sprache, Rhetorik, Aufsatz, Weltgeschichte, Geographie, Naturgeschichte, Naturlehre, Lesen, Literatur, Kopf und Tafelrechnen, Schönschreiben, Zeichnen, weibliche Handarbeiten und Führung der Hauswirtschaft.

1854 zählte das Pensionat 20 Schülerinnen jeder Altersstufe - auch christlicher Konfession. Mit der Vermittlung bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten als Rüstzeug für zukünftige Aufgaben in Familie und Gesellschaft verband Fanny Nathan vorrangig einen pädagogischen Auftrag. Sie selbst führt dazu aus:
"Uns ist Erziehung und Unterricht eine allseitige Ausbildung - wir wiederholen es hier ausdrücklich - keineswegs bloßes Mittel zur Erreichung gewisser äussern Zwecke, sondern aufrichtiges, ja heiliges Streben, das uns geschenkte Vertrauen zu rechtfertigen, durch rastloses Bemühen alle Anlagen auf das Schönste zu entwickeln, selbst die von geringeren Fähigkeiten einer möglichen Vervollkommnung entgegen zu führen. - Um diesem unserem Wirken einen schönen Erfolg zu sichern, halten wir es für unerläßlich, Lust und Liebe in unseren Eleven anzuregen, für Alles, was wir ihrem Geiste als Nahrungsstoff darbieten; ihre freie Selbstthätigkeit überall möglichst in Anspruch zu nehmen, und mit dem Ernste der Bildnerin - mütterliche Liebe zu paaren." [4]

Der Landrat und der Bürgermeister zollten der Persönlichkeit Fanny Nathans und ihrem Pensionat höchstes Lob, ebenso die (katholischen) Kreisschulinspektoren. Sie stellten fest, Fanny Nathan sei "eine wie es scheint allseitig gebildete Dame", die das ihr in der Stadt entgegengebrachte Vertrauen zu Recht verdiene.


Die Gründerin und Leiterin des jüdischen Waisenhauses

Als Fanny Nathan ihr bisheriges Wirken in Frage stellte und in ihr der Entschluß reifte, der Not und dem Elend sozial benachteiligter Gruppen in ihrer Umwelt nicht mehr tatenlos zuzusehen, sondern ihr Leben und Handeln im Sinne der "Zedaka", also der Gerechtigkeit, auszurichten, hatte sie bereits die Lebensmitte überschritten.

In der Jahrhundertmitte hatte sich die herrschende Massenarmut im Paderborner Land gesteigert. Auch die jüdische Minderheit war hiervon nicht ausgenommen, denn die Vermögensverhältnisse der Juden im ehemaligen Fürstentum Paderborn entsprachen den allgemein herrschenden. Die Tatsache, daß es einige vermögende Familien gab, verstellte allerdings den Blick auf die zahlreichen Juden, die wie alle anderen am Rande des Existenzminimums lebten.

In dieser Zeit allgemeiner Bedrängnis identifizierte sich Fanny Nathan mit dem Schicksal elternloser jüdischer Kinder in ihrer näheren und weiteren Umgebung. Diese Waisen lebten bei christlichen Handwerkern und Bauern "in Pflege", mußten aber aufgrund der traditionellen Speisegesetze reihum in jüdischen Familien beköstigt werden. Ob ihnen Liebe und Fürsorge zuteil wurde, mag bezweifelt werden. Im allgemeinen blieben sie auch ohne schulische Bildung und religiöse Unterweisung. Der weitere Lebensweg dieser Kinder als Bettler oder Hausierer schien entsprechend vorgezeichnet zu sein.

Der Wunsch, sich in diesen schweren Zeiten insbesondere Waisenkindern anzunehmen, muß, wie die Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Hauses 1906 kurz erwähnt, schon länger in Fanny Nathan gewachsen sein, und nur die fehlenden Geldmittel hemmten die Verwirklichung. Welches Ereignis oder gar Erlebnis Fanny Nathan bestimmte, unbeirrbar und konsequent dieses Ziel zu verwirklichen, ist nicht überliefert. Fast mystisch mutet es an, wenn sie selbst berichtet, an sie sei "der Ruf des Allmächtigen am 14.01.1855 (ergangen, d.V.), ein Waisenhaus für arme, elternlose Kinder zu stiften". [5] Fanny Nathan hat konkretere innere und äußere Beweggrunde im dunkeln gelassen, unterstreicht aber immer wieder ihr unbegrenztes Gottvertrauen. Sie war sicher, Gott werde ihr Werk mit seinem Segen begleiten, und daraus schöpfte sie die Kraft, es zu beginnen.

Unbeirrbar verfolgt Fanny Nathan die Verwirklichung ihres Zieles: Eigene Mittel und die Spenden naher Verwandter sowie der Paderborner Bankiers Paderstein und Meyersberg und der Kaufleute Katz legten den Grundstock zu einer Stiftung, der König Friedrich Wilhelm IV. nach dem Statut vom 11.05.1855 im August des Jahres die Rechte einer öffentlichen Körperschaft (Korporationsrechte) verlieh. Als eigentlichen Zweck des künftigen Waisenhauses sah das Statut in § 2 die Aufnahme unbemittelter Waisen vor und die unentgeltliche Zuwendung elterlicher Pflege und Erziehung.

Am 01.03.1856 nahm Fanny Nathan in ihr Haus am Domplatz zwei Waisenknaben auf. Die städtischen Honoratioren, u. a. der Landrat und Bürgermeister, verliehen durch ihre Anwesenheit der offiziellen Eröffnung ein besonderes Gewicht: Mit der Aufnahme weiterer Knaben - bis September 1857 waren es fünf - erwies sich ihr Haus rasch als zu klein und die Errichtung eines größeren Waisenhauses war zwingend geworden. Überdies hatte das Kuratorium beschlossen, künftig auch jüdische Waisen weiblichen Geschlechts Erziehung und Aufenthalt zu gewähren und den Einzugsbereich auf die Rheinprovinz auszudehnen.

Um das erforderliche Kapital für ihr Waisenhaus zu beschaffen, unternahm Fanny Nathan Reisen, die sie über Köln und Frankfurt, ihre frühere Wirkungsstätte, bis nach Stuttgart und München führten. Sie selbst nannte sie halb scherzhaft "philantropische Wanderungen", tatsächlich handelte es sich um "Bettelreisen", für die ihr sogar der Mindener Regierungspräsident ein persönliches Empfehlungsschreiben ausgestellt hatte. Darin hob er ihre anerkennenswerte "Opferwilligkeit und Beharrlichkeit" ausdrücklich hervor und legte ihren jüdischen Glaubensgenossen die Unterstützung dieses Projektes wärmstens ans Herz. Auf diesen Reisen begegnete Fanny Nathan alten Freunden aus ihrer Frankfurter Zeit, knüpfte aber auch neue Kontakte mit zum Teil bedeutenden Persönlichkeiten (vgl. die bereits erwähnte Festschrift), in denen sie tatkräftige Förderer fand. Die späteren Legate zugunsten des Waisenhauses legen ein beredtes Zeugnis über ihren Erfolg ab. "Überall, wohin Fanny Nathan kam, hinterließ sie dank der Begeisterung, die sie ausstrahlte und anderen Menschen mitzuteilen verstand, einen tiefen und nachhaltigen Eindruck. Die fromme Ehrlichkeit, mit der sie ihr Werk aufbaute, überzeugte die Zuhörer und spornte sie zur Teilnahme an", schreibt Lothar Rothschild, ein ehemaliger Lehrer des jüdischen Waisenhauses, 1962 in seinem Beitrag "Jüdische Wohltätigkeit in Westfalen vor 100 Jahren". [6]

Fünf Jahre nach der Gründung des Hauses konnte mit einem Sockelbetrag von 12.000 Talern im Mai 1861 der Grundstein für ein Waisenhaus mit ausgedehnten Grünflächen in der Leostraße vor den Toren der Stadt gelegt werden. Die Planung und Bauüberwachung übernahm der Kreisbaumeister Stratmann honorarfrei, und nach zwei Jahren war das Haus errichtet. Das Kuratorium setzte den Einzugstermin mit gleichzeitiger Einweihungsfeier auf den 25.08.1863 fest. Unter Mißachtung des Kuratoriumsbeschlusses und unter dem Einfluß des Rabbiners Dr. Schwarz zog Fanny Nathan jedoch mit 21 Waisenkindern bereits am 01.08.1863 ein. Bei der offiziellen Einweihung am 29.08.1863 spricht der Festredner Oberrabbiner Dr. Cahn aus Trier, zugleich Kuratoriumsmitglied, daher ganz konkret bestehende Auseinandersetzungen mit Fanny Nathan an und appelliert an sie, den Kindern Mutter zu sein und nicht in die Vaterpflichten des Kuratoriums einzugreifen. [7] Leider ist die Festschrift zur Einweihung verlorengegangen, so daß wir über Inhalt und Ausmaß der Auseinandersetzungen nur Vermutungen anstellen können.

Offensichtlich will das Kuratorium die Waisenhausgründerin die mit schöpferischer Tatkraft und einem außergewöhnlichen Eifer ihr Ziel erreicht hat, nun ausschließlich auf das soziale Engagement - die Betreuung der Kinder - ganz im Sinne der traditionellen Frauenaufgabe zurückverweisen. Aber ihre Fähigkeiten und ihr Engagement widersprechen dem herrschenden Frauenbild jener Tage, so daß Fanny Nathan in späteren Festreden als Frau gewürdigt wird, die mit "männlicher Tatkraft und Beharrlichkeit" dieses Werk ins Leben gerufen hat. Dem traditionellen jüdischen Frauenbild entsprach Fanny Nathan ebenfalls nicht. Sie hat außerhalb hierarchischer Familienstrukturen ein zwar selbstbestimmtes aber untypisches Leben führen können und auch müssen. Dem Waisenhaus und seinen Kindern kam dies nur zugute: "Ein prächtiges Haus mit großen Räumen, umgeben von Gärten mit glücklichen, heiteren Kindern, der bitteren Not entrissen." Eine Vision war Realität geworden. [8]

Gemäß den Statuten des Waisenhauses [9] bestanden die Erziehungsziele darin, die Waisenkinder "mit Liebe und Festigkeit zu frommen und rechtschaffenen Menschen, friedlich duldsamen Bürgern, treuen Genossen des Staates und tüchtigen Arbeitern, dem gemeinen Wohl zur Förderung und Gott zu Ehren", zu erziehen (§ 21) und ihnen daneben gleichzeitig ihre jüdische Religion und Tradition, die überlieferten Gebräuche und Feste sowie die Wirtschaftsführung nach jüdischem Ritual zu vermitteln (§ 11). Nach Beendigung des Heimaufenthaltes sollten die Knaben mit 15 Jahren zu einer Ausbildung für "bürgerliche Gewerbe" und die Mädchen mit 15 Jahren "zur Besorgung häuslicher Geschäfte" befähigt sein (§ 12), jedoch standen begabten Kindern auch Weiterbildungsmöglichkeiten offen (§ 13). Besonders gefordert wurden eine einfache, aber nicht karge Lebensweise, eine strenge Ordnung und Reinlichkeit sowie eine schlichte, aber anständige bürgerliche Kleidung der Kinder (§§ 14, 15). Ausdrücklich sah das Statut eine Zurückweisung "sittlich verwahrloster" Zöglinge vor, da von ihnen "verderbliche" Einflüsse auf die übrigen Kinder ausgehen könnten.

In ihrer pädagogischen Zielsetzung legte Fanny Nathan einen ganzheitlichen Ansatz zugrunde, der die geistige, seelische und körperliche Dimension in der Erziehung umfaßte. Die strenggläubige jüdische Familie diente als Modell der religiösen Bildung. Das großzügige Grundstück ließ es zu, daß sich insbesondere im Sommer das Leben weitgehend im Freien abspielen konnte. Um die Verantwortung der Kinder zu entwickeln, oblag jedem von ihnen die Pflege eines kleinen Gartenbeetes. Optimale äußere Bedingungen sollten dazu beitragen, die soziale Entwicklung der Kinder zu unterstützen.

In der Rede zum 50jährigen Bestehen des Hauses erinnert Rabbiner Dr. Jacob aus Dortmund 1906 an die Erziehungsziele und nennt sie die Tugenden, auf denen das Glück der Heimkinder für ihren späteren Lebensweg beruhe:
"Gehorsam und Pflichtgefühl, Pünktlichkeit, Ordnung und Sauberkeit, Zuverlässigkeit, die Pietät und Dankbarkeit und zugleich die jugendliche Freundschaft. Die Kinder lernen, was manche Eltern nur sehr zu lehren versäumen."
[10] Vor allem aber würden sie eines Segens teilhaftig, der vielleicht nirgends so sehr ausgestreut werden könne: des Segens einer harmonischen, in sich wahrhaften und religiösen Erziehung. Das religiöse Leben sei der Grund, auf dem allein alles Gute und Große erwachsen kann, Gottes- und Nächstenliebe, Achtung und Ehrfurcht vor der Autorität, Vaterlandsliebe und Pflichttreue.

Fanny Nathan hatte in Übereinstimmung mit dem Kuratorium bei jeder Gelegenheit unterstrichen, das Haus werde treue Untertanen und rechtschaffene Staatsbürger heranziehen. Wie ernst ihr dieses Anliegen war, bewies sie im Alltag. Nationale Feste, patriotische Gedenktage besahen einen festen Platz im Leben der Waisen. Zu Ehren der gefallenen Krieger fand alljährlich eine Gedenkfeier in der Waisenhaussynagoge statt. 1871 stiftete Fanny Nathan für die Gefallenen der Kriege von 1866 und 1870/71 eine Gedenktafel mit einer stets brennenden Silberlampe. Zur Einweihung der Gedenkstätte am 17.10.1871 erschienen zahlreiche Ehrengäste aller Konfessionen, die Spitzen der Zivil- und Militärbehörden. Selbst der Oberpräsident der Provinz Westfalen, von Kühlwetter, war eigens aus Münster gekommen.
"Dieses Fest", so schrieb er später Fanny Nathan, "lebt in den Herzen der Anwesenden als Fest des Friedens und der Verbrüderung unter Gleichgesinnten... Mir aber hat dasselbe in zweiter Begegnung ein edles Herz gezeigt, das für das geistige und körperliche Wohl der von Gott an dasselbe gewiesenen Kinder in Begeisterung schlägt und in wahrhaft mütterlicher Liebe für seine Mühen keine Grenzen kennt." [11]

Als am 04.03.1876 das Waisenhaus sein zwanzigjähriges Bestehen feierte, konnte die Gründerin ein in jeder Hinsicht wohlgeordnetes Haus präsentieren, dem sie als inzwischen 73jährige immer noch vorstand. In diesem Zeitraum hatten 93 Waisenkinder ihre Erziehung im Heim erhalten und waren in eine berufliche Ausbildung bei jüdischen Lehrherren vermittelt worden. Um die mutige Pioniertat angemessen zu würdigen, müssen wir uns vor Augen halten, daß die Leiterin das Haus ohne staatliche Zuschüsse, lediglich auf einer Basis von Wohltätigkeit und Spendenbereitschaft, führen mußte. Das ist heute in einer Zeit jeglicher materieller Absicherung kaum noch vorstellbar. Eine wesentliche finanzielle Basis bildeten allerdings die hohen Legate und die Einnahmen aus den sogenannten "Jahreszeitenstiftungen" für Verstorbene. Damit übernahm das Waisenhaus die Verpflichtung, mit einer einmaligen Stiftungssumme von 300,- Mark während des Trauerjahres sowie für ewige Zeiten an den jährlich wiederkehrenden Todestagen das Kaddisch-Gebet, das Totengebet für Verstorbene, durch die Kinder verrichten zu lassen. Prominentester Stifter war der Bankier Baron Amschel (später Anselm) Meyer Rothschild aus Frankfurt.

Fanny Nathan verstand es auch, sich die ideelle 'Unterstützung der leitenden Verwaltungsbeamten in Münster und Minden zu sichern. Sie stand in regem geistigen Austausch mit politischen Persönlichkeiten, und der jüdische Reichstagsabgeordnete Eduard Lasker schätzte ihr Urteil hoch.

In den überlieferten Aussagen irritieren ihr Pathos und ihre steten Loyalitätserklärungen als Beweis für ihre enge Bindung an den Staat. So unterstreicht sie zum wiederholten Male in einem Brief an den Regierungspräsidenten in Minden, dem Staate "gute und nützliche Menschen" im Waisenhaus erzogen zu haben, und mit Genugtuung bringt sie zum Ausdruck, nur selten sei es schwachen Frauen wie ihr vergönnt gewesen, "ihre Thätigkeit ausdauernd dem Staate zu widmen".

Mit vielen Juden Deutschlands teilte Fanny Nathan auch nach der endgültigen rechtlichen Gleichstellung der Juden durch die Reichsverfassung von 1871 offensichtlich eine aus den vorwiegend negativen Strömungen der Emanzipationszeit herrührende Unsicherheit, die ihre Kompensation durch einen überzogenen Patriotismus erfuhr. Die Qualität der Juden als Staatsbürger wurde ja daran gemessen, wie weit sie ihre jüdische Identität und ihre ethisch-religiösen Werte aufgaben und sich in der nichtjüdischen Umwelt assimilierten. Der wirtschaftlich-soziale Aufstieg der Juden in Groß- und Mittelstädten, der Einstieg in angesehene akademische Berufe und nicht zuletzt die Schrittmacherfunktion der Juden in wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Bereichen beschleunigten allerdings diesen Prozeß. Aber die jüdische Seite legte selbst Wert darauf, ihr Judentum als Religion definiert zu wissen und nicht mehr als Zugehörigkeit zu einer separierten Gruppe. Der Preis für die Angleichung an Normen und Verhaltensweisen der nichtjüdischen Mehrheit waren allerdings tiefgreifende Auflösungstendenzen des Judentums als religiöser Gruppe. Um sich der Emanzipation "würdig" zu erweisen, zeichneten sich die deutschen Juden durch einen ausgeprägten Lokalpatriotismus und Reichsnationalismus aus. In der Zeit von der Jahrhundertmitte bis zur Reichsgründung 1871 hatte sich bei ihnen immer stärker das Gefühl entwickelt, hier "zu Hause" zu sein. Ungehindert wollten sie nun auch an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben sowie an den kulturellen Zielen mitwirken. Seine demonstrative Vaterlandsliebe machte das deutsche Judentum auch blind gegenüber der - nach wirtschaftlichem Aufschwung und der Euphorie über die Reichsgründung - sich anbahnenden gefährlichen nationalvölkischen Entwicklung im Reich und dem aufkommenden Antisemitismus. [12] Der Großteil der deutschen Juden folgte bedenkenlos und unkritisch der Reichspolitik. In den jüdischen Schulen und Jugendverbänden wurden deutschnationale Bürger jüdischen Glaubens erzogen, die sich in ihrer mangelnden Kritikfähigkeit von Nichtjuden in keiner Weise unterschieden.

Das Judentum als Religion folgte in seinen Zielen dem traditionellen christlichen Obrigkeitsdenken. Fanny Nathan blieb es allerdings erspart, die Konsequenzen dieser verhängnisvollen Entwicklung zu erleben. Bei der Feier zum 20jährigen Bestehen des Waisenhauses im März 1876 konnte sie an dem Rang der zahlreichen Ehrengäste ablesen, welche öffentliche Anerkennung ihr als Gründerin und Leiterin entgegengebracht wurde. Dieses Fest war aber auch ein letzter äußerer Höhepunkt in ihrem Leben. Am 12.07.1877 starb sie im Alter von fast 75 Jahren. Ihre Nichte Johanna Marcks-Nathan, seit Jahren mit dem Haus vertraut, führte ihr Werk in ihrem Sinne weiter.

Oberpräsident von Kühlwetter kondolierte:
"... ich bewahre ihr ein liebevolles Andenken, denn sie hatte ein großes Herz, und dieses Herz hatte sich in treuer Anhänglichkeit mir erschlossen, ... und ich betrachte es als ein Vermächtnis der Verstorbenen, ihr Werk - die Arbeit - nach besten Kräften zu schützen und zu fordern" [13],
und der Nachruf im "Westfälischen Volksblatt" erinnerte noch einmal an ihre "seltene Beredsamkeit und Begeisterung, die Herzen der Menschen für ihre Waisen erwärmend". [14] "Mit den besten Juden Deutschlands empfanden ihre christlichen Freunde, daß eine edle und große Seele, die dem Judentum und der Menschheit zur Zierde gereichte, dahingegangen war", [15] würdigt die Festschrift des Jahres 1906 noch einmal die Leistung Fanny Nathans.

Ein Wunsch Fanny Nathans erfüllte sich nicht: 1873, vier Jahre vor ihrem Tode, legte sie dem Oberpräsidenten von Kühlwetter noch einmal die Sorge für eine angemessene materielle Unterstützung des Hauses ans Herz. Sie schrieb:
"... Sie werden ... finden, daß für das leibliche und geistige Wohl der Zöglinge in der Anstalt gewissenhaft gesorgt und Alles geboten wird, um sie zu guten Menschen und nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu erziehen. ... und daß unsere Anstalt ... letztere (die jüdischen Waisen, d.V.) in den Stand setzt, sich eine sichere Zukunft und eine geachtete Stellung unter ihren Mitbürgern zu verschaffen. Dann darf ich in der glücklichen Gewißheit meine Augen schließen, daß das Werk, welches mit Gottes und guter Menschen Hilfe zu schaffen mir vergönnt war, in seinem Bestande und segensreichen Wirken auf Jahrhunderte gesichert sei, und daß, wenn mein Name längst vergessen und nur vergilbte Urkunden noch Nachrichten über die Entstehung des jüdischen Waisenhauses zu Paderborn liefern werden, das letztere noch fortwährend seine gastlichen Pforten den armen verlassenen Waisen öffnet." [16]

Fanny Nathan ist nicht vergessen, sie zählt zu den bedeutendsten Jüdinnen Westfalens. Ihr Lebenswerk ging jedoch bereits zwei Generationen später in der Katastrophe des deutschen Judentums im Nationalsozialismus unter. Das Haus existiert nicht mehr, es wurde im Krieg zerbombt und später gänzlich abgetragen.


Anmerkungen

[1] Vgl. Naarmann 1988.
[2] Nach Weinberg 1973 war das Jiddischdeutsch - ein Mischdeutsch, nämlich Deutsch mit reinen und eingedeutschten hebräischen Zusätzen - eine westliche Variante des Jiddischen. Jiddisch war jedoch nur eine regelrechte Verkehrs- und Literatursprache des osteuropäischen Judentums und wurde im westlichen Bereich nie übernommen. Das Jüdischdeutsche war nie eine selbständige Sprache und schrumpfte im Gefolge von Aufklärung und Emanzipation immer mehr zusammen.
[3] Zum Begriff "Zedaka" ausführlich Löwenthal 1963.
[4] Zit. n. Naarmann 1988, S. 358
[5] Die Feier, o.J., S. 8.
[6] Rothschild 1962, S. 39.
[7] Molinski 1963.
[8] Festschrift 1906, S. 9.
[9] Statut des Waisenhauses vom 11.05.1833: Stadtarchiv Paderborn A 1413.
[10] Westfälisches Volksblatt Nr. 59 vom 03.03.1906
[11] Festschrift 1906, S. 17.
[12] Grundlegend Mosse 1979.
[13] Festschrift 1906, S. 24.
[14] Westfälisches Volksblatt Nr. 165 vom 23.07.1877.
[15] Festschrift 1906, S. 22.
[16] Schreiben vom 01.11.1873 an den Oberpräsidenten v. Kühlwetter, in: Archiv Landschaftsverband Westfalen-Lippe B Nr. 37, fol. 22f.


Literatur

Die Feier der Grundsteinlegung des jüdischen Waisenhauses zu Paderborn, für die Provinzen Westphalen und Rheinland, Köln o. J.

Festschrift zur 50jährigen Stiftungs-Feier der jüdischen Waisen-Erziehungs- Anstalt für Westfalen und Rheinland zu Paderborn 1856-1906, Kassel 1906.

LÖWENTHAL, E. G.
Angewandte Zedaka, in: Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein, Köln 1963, S. 585-600.

MOLINSKI, F.
Jüdisches Waisenhaus vor 100 Jahren eingeweiht, in: Westfälisches Volksblatt Nr. 199 vom 29. August 1963.

MOSSE, G. L.
Ein Volk - Ein Reich - Ein Führer. Die völkischere Ursprünge des Nationalsozialismus. Königstein/Ts. 1979.

NAARMANN, M.
Die Paderborner Juden 1802-1945, Emanzipation, Integration und Vernichtung, in: Paderborner historische Forschungen Nr. 111/1988, bes.: Das jüdische Waisenhaus für Westfalen und Rheinland in Paderborn von 1836-1942, S. 355-385.

ROTHSCHILD,
L. Jüdische Wohltätigkeit in Westfalen vor 100 Jahren, in: Meyer, H. Ch.: Aus Geschichte und Leben der Juden in Westfalen. Eine Sammelschrift, Frankfurt a. M. 1962, S. 37-44.

WEINBERG, W.
Die Reste des Jüdisch-Deutschen, Stuttgart 2. Aufl. 1973.


Margit Naarmann

QUELLE   | "Was für eine Frau!" | S. 33-49, 262-264
PROJEKT  Portraits von Frauen aus Ostwestfalen-Lippe
AUFNAHMEDATUM2005-05-23


QUELLE     | "Was für eine Frau!" | S. 33-49

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Zeit3.7   1800-1849
3.8   1850-1899
Ort2.7.8   Paderborn, Stadt
Sachgebiet6.8.10   Juden
6.8.15   Säuglinge, Kinder, Jugendliche
8.4   Sozialfürsorge, Fürsorgeeinrichtungen
16.4   Jüdische Gemeinden
DATUM AUFNAHME2003-10-27
DATUM ÄNDERUNG2010-09-20
AUFRUFE GESAMT6989
AUFRUFE IM MONAT583