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TITEL | 1648: Krieg und Frieden in Europa | |
ORT | Münster | |
JAHR | 1998 | |
ONLINE-TEXT | Nehlsen, Eberhard: Liedpublizistik des Dreißigjährigen Krieges | |
SEITE | Bd. 2, S. 431-437 | |
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Während des Dreißigjährigen Krieges entstanden Hunderte von Liedern. Wer sich mit ihnen beschäftigen will, findet scheinbar eine ausgezeichnete Quellenlage vor, existieren doch mit den Sammlungen von Weller, Opel/Cohn, Ditfurth und Wolkan [1] mehrere Editionen, die umfangreiches Material bereitstellen. Macht man sich die Mühe, weitere Sammlungen historisch-politischer Lieder durchzusehen, wird man noch viele andere Lieder des Dreißigjährigen Krieges finden. [2] Dieses relativ leicht zugänglich gemachte Material bildete die Grundlage für mehrere Untersuchungen der Vergangenheit. [3] Das Korpus an Liedern mit Bezug zum Dreißigjährigen Krieg ist jedoch erheblich größer, als die bisherigen Editionen suggerieren. Der "barocke Eisberg", von dem Dünnhaupt sprach [4], beinhaltet zahlreiche bislang völlig unbekannte Lieder, die noch der wissenschaftlichen Erschließung bedürfen. In einem Teilbereich ist durch die editorischen Anstrengungen der letzten Jahrzehnte auf dem Gebiet der Forschung über das illustrierte Flugblatt schon eine erhebliche Anzahl an Liedern zugänglich gemacht worden. [5] Der viel größere Komplex der Flugschriften ist jedoch weitgehend unerschlossen. [6] Der folgende Beitrag ist zu verstehen als eine Art Zwischenbilanz auf der Grundlage des bislang verfügbaren Materials. Dabei stehen zwei bisher wenig beachtete Aspekte im Vordergrund, zum einen die Publikationsmedien Flugblatt und Flugschrift, zum andern die spezifisch musikalische Dimension der Lieder. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts begann die Nutzung des Buchdruckes als Medium zur Liedverbreitung. Damit wurde eine entscheidende Umwälzung in der Liedkultur eingeleitet. Waren Lieder im Volksgesang bis dahin im wesentlichen mündlich überliefert worden, ermöglichte der Druck eine schnelle und massenhafte Verbreitung von Liedern. Liedflugblatt und Liedflugschrift [7] wurden zu ersten Massenmedien der populären Musik, die die Liedkultur der frühen Neuzeit entscheidend prägten. Das Repertoire an Liedern setzte sich zusammen aus alten, bekannten Liedern und aus neuen, aktuellen Liedern. Die Motivation der Produzenten der kleinen Lieddrucke bestand aus zwei Aspekten: "Zum einen dienen geistliche und weltliche Lieder von jeher der Verbreitung der in den Texten übermittelten Botschaften oder Aussagen, d.h. sie sind Medien der Katechese und Propaganda, zum andern sind sie für die Drucker auch ein Gegenstand der Warenproduktion und kommerzieller Kalkulation". [8] Das zahlenmäßig dominierende Medium war in der frühen Neuzeit eindeutig die Liedflugschrift. [9] Beiden Medien gemeinsame Merkmale sind Titel, die den Inhalt des Liedes oder der Lieder angeben, z.T. sehr ausführlich, und Tonangaben, die auf bekannte Lieder verweisen, damit die Lieder auch gesungen werden können. Noten werden solchen Lieddrucken nur sehr selten beigegeben. Während die Illustration beim Liedflugblatt eine große Rolle spielt, ist die Bedeutung des Bildes bei der Liedflugschrift wesentlich geringer. Oft passen Illustrationen überhaupt nicht zu dem gedruckten Lied, oder sie sind durch Zierstücke ersetzt oder fehlen ganz - vor allem im 17. Jahrhundert. Die Infrastruktur der Liedpublizistik, d.h. Produktion, Distribution und Rezeption von Lieddrucken, war - so weit man dies aus dem erhaltenen Bestand erschließen kann - in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts noch intakt. Erst nach 1633 nimmt die Zahl der Lieddrucke rapide ab, vermutlich eine Folge des Krieges. Was sind "Lieder des Dreißigjährigen Krieges"? Kurz gesagt, verstehe ich darunter Lieder der Jahre 1618-1649, die einen expliziten Bezug zum Krieg oder seinen unmittelbaren Folgen haben. Somit gehören dazu:
Ausgenommen sind Lieder, die während dieser Jahre ebenfalls im Druck erschienen, aber im Text keinen direkten Bezug zum Krieg besitzen, etwa ältere Lieder, die wieder neu aufgelegt wurden, Liebeslieder usw. Nicht aufgenommen in das Liedkorpus werden des weiteren rein literarische Dichtungen ohne musikalische Komponente. Berücksichtigt werden also nur singbare Dichtungen. [11] Die Relevanz der musikalischen Dimension wird deutlich, wenn man bedenkt, daß durch eine bewußte Melodiewahl die inhaltliche Aussage der Dichtungen verstärkt oder kommentiert werden kann. Darauf wird später noch ausführlicher eingegangen werden. Fast alle der bisherigen Editionen von Liedern des Dreißigjährigen Krieges beinhalten jedoch nicht nur Lieder in diesem Sinne, sondern auch Dichtungen der verschiedensten Art, die erkennbar nicht für eine musikalische Rezeption gedacht waren. [12] Da nur wenigen Lieddrucken Melodienotationen beigegeben sind, ist als wichtigstes Kriterium zur Singbarkeit das Vorhandensein von sogenannten Tonangaben anzusehen, die meistens auf dem Titelblatt, mitunter aber auch innerhalb der Liedüberschrift zu finden sind. Bei Dichtungen ohne Tonangaben ist der Liedcharakter häufig aus dem Liedtext selbst zu entnehmen, sei es, daß schon im Liedeingang die kontrafazierte Vorlage zitiert wird [13], sei es, daß ausdrücklich von "Singen" [14] oder von "Lied" [15] gesprochen wird. In weiteren Fällen ist ein Lied anzunehmen, wenn die Dichtungen strophisch gegliedert und in Versformen abgefaßt sind, die den gängigen Liedern der Zeit eigen sind. [16] Aus den mir bis jetzt zugänglichen Quellen [17] habe ich eine Liste von 608 Liedern des Zeitraumes 1618 bis 1649 zusammengestellt, die einen direkten oder indirekten Bezug zum Dreißigjährigen Krieg in Europa aufweisen. [18] Dieses Sample kann nur vorläufiger Art sein, da viele Quellen wahrscheinlich noch unbekannt sind. Es ist unmöglich, auf die Lieder im einzelnen einzugehen. An dieser Stelle sollen nur einige Beobachtungen mitgeteilt werden, die sich beim Studium der Lieder und der Quellen ergaben. Die folgende Graphik zeigt die Verteilung der Lieder auf die einzelnen Jahre (Graphik 1). Zwei Dinge fallen ins Auge: zum einen die Jahre mit sehr hohen Liedzahlen 1620-1622, 1626 und 1631-1633, zum andern der eklatante Rückgang der Zahlen nach 1634. Auch wenn das Quellenmaterial noch nicht vollständig überschaubar ist, dürfte es sich hier um Phänomene handeln, die reale Tendenzen widerspiegeln. Die Konzentration der Publizistik auf den böhmisch-pfälzischen und den schwedischen Krieg ist schon seit langem bekannt. Für den Bereich der Bildpublizistik hat Michael Schilling überzeugend dargelegt, daß das Engagement der mehrheitlich lutherischen, überwiegend süddeutschen Reichsstädte, die zugleich Druckzentren waren, gegen den calvinistischen "Winterkönig" für die Flut der Drucke verantwortlich gewesen sein dürfte. [19] Während des schwedischen Krieges waren die Zerstörung Magdeburgs, der Siegeszug Gustav Adolfs und sein Tod Anlässe für die protestantische Propaganda, massenhaft publizistisch tätig zu werden. Für den Bereich der Liedpublizistik lassen sich diese Tendenzen bestätigen. Auf die sechs Jahre 1620-1622 und 1631-1633 entfallen allein 303 Lieder, d.h. fast genau die Hälfte aller Lieder dieses Samples. Auffällig und ohne Parallele in der Produktion illustrierter Flugblätter ist nur das markante "Hoch" der Liedzahl des Jahres 1626. Dieses läßt sich vor allem zurückführen auf zwei Kriegsereignisse, die einen besonders starken Widerhall in Liedern fanden: zum einen der Krieg in Niedersachsen mit den Niederlagen Christians IV. von Dänemark gegen Tilly und Mansfelds gegen Wallenstein, zum andern der Aufstand der oberösterreichischen Bauern. [20] Die Publikation der Lieder erfolgte bevorzugt in den beiden Medien Flugschrift und Flugblatt. Die Überlieferung stützt sich ganz entscheidend auf diese beiden Druckgattungen. Daneben sind relativ viele (68) Lieder auch handschriftlich überliefert. Das bevorzugte Medium war eindeutig die Liedflugschrift. Von den 530 Druckwerken mit Liedern, die dem untersuchten Sample zu Grunde liegen, sind 411 Flugschriften und 114 Flugblätter. [21] Dies entspricht einem Verhältnis von ca. 4:1. Da die Flugblätter dieses Zeitraumes ungleich besser erschlossen sind als die Flugschriften, ist es wahrscheinlich, daß sich dieses Verhältnis bei weiterer gezielter Nachforschung in Bibliotheken und Archiven noch mehr zugunsten der Flugschriften verschiebt. Ein Gradmesser für die Verbreitung eines Liedes kann die Zahl der verschiedenen Auflagen oder der Nachdrucke sein. Bei einigen Liedern ist auffällig, wie viele verschiedene Auflagen es gibt. So sind mir von dem Spottlied "Zeug Fahler zeug, balde wolln wirn Tylli treschen" sechs verschiedene Flugschriftenausgaben bekannt [22], von dem Gratulationslied für den neugekrönten böhmischen König Friedrich und seiner Gemahlin sind sieben verschiedene Flugblattausgaben nachweisbar [23], und von einem Alamodelied sogar 11 Flugblattausgaben und eine Flugschriftausgabe. [24] Die Mehrfachüberlieferung ist aber nicht die Regel. In dem untersuchten Sample sieht das Verhältnis folgendermaßen aus: 397 Lieder sind nur in einer Liedflugschrift überliefert, 55 sind in zwei oder mehr Liedflugschriften überliefert, 60 Lieder sind nur in einem Liedflugblatt überliefert, 9 in zwei oder mehr Liedflugblättern, 11 Lieder sowohl in Liedflugschriften als auch in Liedflugblättern, 52 nur handschriftlich, 13 in Flugschriften und Manuskripten, 2 in Flugschriften, Flugblättern und Manuskripten. Eine Untersuchung der Lieddrucke nach den Druckorten stößt auf grundsätzliche Schwierigkeiten. Angesichts des eminent politischen und polemischen Charakters zahlreicher Lieder verwundert es nicht, daß die meisten der Lieddrucke ohne Impressum erschienen. Wenn dies auch nicht den offiziellen Bestimmungen entsprach, war es doch eine weit verbreitete Maßnahme der Drucker, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. [25] Auch das offen oder versteckt fingierte Impressum gehörte in diesen Bereich. Ein Impressum wie "Gedruckt vber dem Balthischen Meer, hinder Dinnonien in Ingermanlandt" [26] ist leicht als fingiert zu identifizieren. Ebenso läßt sich ein Impressum als fingiert erkennen, wenn es in Gegensatz zu dem Liedtext steht, so etwa bei dem Druck eines antikatholischen Liedes mit dem Impressum "Gedruckt zu Rom. Jn Bapst Agnes gassen." [27] Der Ursprung eines Liedes wird als aus dem gegnerischen Lager kommend hingestellt, um so die publizistische Wirkung der eigenen Botschaft zu erhöhen. Auch die katholische Seite wandte dieses Mittel an, wie der "Calvinische Vortanz" zeigt. Diese Liedflugschrift wurde angeblich "Gedruckt / Zu Genff im Hollandt / bey Niclasen Gumperle" [28], was sich erst auf den zweiten Blick als satirische Irreführung erweist, wenn man den scharf anticalvinistischen Inhalt des Liedes und die merkwürdige, ebenfalls satirisch aufzufassende Autorenangabe "Vicentz Rupffenbart / Calvinischen Schulmaister zu Purla in Laußnitz" mit berücksichtigt. [29] Schwieriger wird es bei Impressumsangaben, die völlig normal erscheinen. Wenn die Liedflugschrift "Acht wahrharffte vnd gründliche newe Zeitung / Auß der Stadt Wien in Oesterreich" als "Gedruckt zu Wien" ausgegeben wird, erscheint daran nichts ungewöhnlich. Erst der Inhalt, ein Loblied auf Friedrich V. von der Pfalz, entlarvt die Täuschung, die möglicherweise aus Tarnungsgründen vom Drucker vorgenommen wurde, um so der Zensur zu entgehen. [30] In weiteren Fällen läßt sich aus anderen Merkmalen auf einen fingierten Druckort schließen. So ist die Liedflugschrift "Ein Warhafftiges newes LJED. Auß dem Land Pünten. Jn der weiß wie der Wilhelm Thel." mit dem Impressum versehen: "Getruckt in Böhmen in der Königlichen Statt Prag. Jm jahr 1620." [31] Inhalt, Sprache und vor allem die Tonangabe "Wilhelm Tell" (die meines Wissens niemals außerhalb der Schweiz verwendet wurde) weisen die Flugschrift eindeutig als in der Schweiz gedruckt aus. [32] Bei einer erheblichen Anzahl von Drucken findet sich im Impressum die Formulierung "erstlich gedruckt zu [...]". Meines Erachtens ist diese Formulierung als ein Hinweis auf einen Nachdruck aufzufassen, wobei der tatsächliche aktuelle Druckort meist nicht genannt wird. [33] In der folgenden Liste der häufigsten Druckorte sind die Drucke mit dem Erstlich-Vermerk unter den genannten Orten gezählt. In dem Sample sind 256 Drucke mit einer Druckortangabe versehen. Am häufigsten kommen vor: Leipzig (25), Prag (23), Augsburg (20), Frankfurt/Main (17), Nürnberg (14), Straßburg (10). [34] Die Spitzenposition von Prag und Leipzig läßt sich mit der Tatsache erklären, daß die beiden Städte - zu unterschiedlichen Zeiten - Zentren der politischen und militärischen Ereignisse waren, die zu einer verstärkten Publikationstätigkeit auch in der Liedpublizistik führten. Das läßt sich an den Jahreszahlen ablesen. So liegen die Schwerpunkte der Lieddrucke bei Prag in den Jahren 1618-1621 (16 Drucke), bei Leipzig in den Jahren 1629-1633 (22 Drucke). Das relativ starke Vorkommen der Druckorte Nürnberg und Augsburg läßt sich z.T. auf ihre traditionelle Rolle als Zentren der Lieddruckproduktion zurückführen [35], z.T. auch auf die zeitweise starke Verwicklung in die kriegerischen Ereignisse 1632/33. Es wurde schon erwähnt, daß nur wenige der Lieder in den Drucken mit Noten versehen sind. [36] Die Regel ist, daß die Lieder mit einer Tonangabe versehen werden, mit einem Hinweis auf eine bekannte Melodie, die das Singen des Textes durch die Käufer/Leser ermöglicht. Tonangaben sind das Bindeglied zwischen mündlicher und schriftlicher Sphäre, und sie machen diese Lieddrucke auch ohne Noten zu musikalischen Quellen. [37] Neben der Funktion des effektiven Transports neuer Texte erfüllen die Tonangaben noch eine zweite wichtige Aufgabe. Durch die bewußte Wahl einer Melodie, die mit bestimmten Konnotationen besetzt ist, werden bei den Rezipienten Assoziationen hervorgerufen. [38] Zum Beispiel verweist ein Lied über die Zerstörung Magdeburgs ("O Magdeburg du schöne Stadt / verbrunnen und zerstöret" [39]) auf das Lied "An Wasserflüssen Babylon" als zu singende Melodie und bringt somit schon auf musikalischer Ebene das Gefühl von Trauer zum Ausdruck. Die Entschlüsselung derartiger Beziehungen ist nicht immer einfach und setzt die umfassende Kenntnis von Text und Umfeld des melodieliefernden Liedes voraus. Hier bietet sich der Liedforschung der frühen Neuzeit noch ein weites Feld für Untersuchungen. Die vielfältigen Möglichkeiten des Kontrafazierens seien am Beispiel einiger Kontrafakturen [40] des Wilhelmusliedes beschrieben. Das Lied "Wilhelmus von Nassauen", das zu Beginn des niederländischen Aufstandes gegen die spanische Herrschaft entstand und die führende Rolle Wilhelms von Oranien in diesem Aufstand propagierte, wurde schon in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum verbreitet und blieb dort mehr als 100 Jahre bekannt. [41] Im 16./17. Jahrhundert diente das Lied als Vorlage für etwa 40 deutschsprachige Kontrafakturen, vor allem für politische Lieder. Mit dem Wilhelmuslied wurden Ideen, Auffassungen und Stimmungen transportiert, die in den Auseinandersetzungen um 1600 und auch während des Dreißigjährigen Krieges eine wichtige Rolle spielten: es war das Lied eines protestantischen Helden, der mit Erfolg gegen die übermächtig erscheinenden habsburgisch-spanischen Mächte gekämpft hatte. Mit dem Lied waren also die Konnotationen "Heldenlied", "antikatholisch" und "antispanisch" verbunden. [42] Wahrscheinlich 1621 entstand ein Lied, das dem geflüchteten Friedrich V. in den Mund gelegt wurde und in dem eine sehr weitgehende Parallele zwischen ihm und Wilhelm von Oranien, der ebenfalls ins Exil gehen mußte, gezogen wurde. Das Lied imitierte das Wilhelmuslied fast vollständig, hier ein Vergleich der beiden ersten Strophen: (W)Jlhelmus von Nassawe / Alle 15 Strophen der Vorlage werden in dieser Weise imitiert, nur die notwendigsten Namen und Begriffe werden ersetzt. Es ist, als würde Friedrich in das Gewand Wilhelms schlüpfen, um alle positiven Eigenschaften und Assoziationen, die mit Oranien verknüpft waren, auf sich zu beziehen. Ein derartiger Fall von durchlaufender Entlehnung [45] ist relativ selten. Häufiger ist die gelegentliche Entlehnung bestimmter Wendungen, wie in dem Lied, das Christian IV. von Dänemark (zugleich König von Norwegen) in den Mund gelegt ist: (C)Hristianus von Norwegen / Das Lied beschreibt die Ereignisse des dänischen Feldzuges von 1625 und wird wohl gegen Ende des Jahres verfaßt worden sein, jedenfalls vor der Schlacht von Lutter am Barenberge (August 1626). Vor allem im Anfang ist diese Kontrafaktur eine Nachbildung des Wilhelmusliedes (initiale Entlehnung): ein Fürst, der sich mit Namen (in latinisierter Form) und Herkunftsbezeichnung vorstellt, seine Ehrerbietung anderen Fürsten gegenüber bezeugt und seine Furchtlosigkeit unterstreicht. Thematisch sind zwei Entlehnungsaspekte festzustellen: Christian bekämpft, wie Wilhelm von Oranien, das katholische Lager, das Lied benutzt also die antikatholische Konnotation des Wilhelmusliedes. Auch in diesem Lied spricht ein Fürst, ein Held von sich und rechtfertigt sein eigenes Verhalten. Die Verspottung des Gegners, die das ganze Lied durchzieht, ist allerdings dem Wilhelmuslied fremd. Nach der Schlacht von Lutter entstand ein Lied ebenfalls "Im Thon. Wilhelmus von Nassoue", das Tilly sprechen läßt und das als ein direktes Gegenlied zum Christianslied aufgefaßt werden kann: Graff Tillj ein küner Helt, Formulierungen des Christiansliedes werden aufgegriffen und gegen ihn gewendet. Hier wird die Tonangabe also nicht dazu benutzt, die Konnotationen des Wilhelmusliedes auszunutzen, sondern die literarischen Entlehnungen aus dem Christianslied und die Übernahme der "feindlichen" Melodie dienen dazu, den Gegner mit dessen eigenen Waffen publizistisch zu bekämpfen. Etwa 1627 entstand ein Lied, das den schwedisch-polnischen Krieg zum Gegenstand hat: Gustauus Königk in Schweden, Wie ein Vergleich zeigt, war das Christianslied unzweifelhaft die Vorlage für dieses Lied. Es ist derselbe vorherrschende Grundton, das spöttische Verächtlichmachen des Gegners (hier: der polnische König). Eine Tonangabe ist in der einzigen Überlieferung nicht vorhanden, als Ton ist aber mit Sicherheit das Wilhelmuslied anzunehmen. Das Lied auf Gustav Adolf ist offenbar weit verbreitet gewesen und führte 1631 zu einem Nachfolgelied: (G)Vstaph Adolph auß Schweden / Der Krieg gegen die Polen wird angeschnitten, aber auch die neuen Entwicklungen seit 1630, als Gustav Adolfs Aktionen auf dem Reichsboden begannen. Als Gegner wird, wieder in verächtlichem Ton, diesmal der Kaiser angesprochen. In diesem Lied wird ein Argumentationsmuster verwendet, das in dem Vorläuferlied von 1627 noch keine Rolle spielte, in den Jahren 1630-1632 aber häufig vorkommt: "Die Vrsach meiner Kriegen / Jst allein Gottes Wort" (Strophe 5) und "Die Evangelisch Lahr / Die zu beschützen ich bin bereit" (Strophe 8). Gustav Adolf wird als der von Gott gesandte Beschützer der evangelischen Lehre dargestellt. [50] Dieses Gustav-Adolfslied besitzt in einer der beiden Quellen keine Tonangabe, in der anderen die Tonangabe "Es ist ein neuer Orden, erstanden zu der Frist". [51] Eine Erklärung ist schwierig. Hat das Lied einen anderen Ton, eine neue Melodie bekommen? Oder ist zu dem alten Ton "Wilhelmus von Nassauen" ein zweiter, ein Alternativton gekommen? Ich halte bei jetzigem Kenntnisstand die zweite Möglichkeit für wahrscheinlich. Dieses Gustav-Adolfslied ist durch seine Vorläufer eng mit dem Wilhelmuslied verbunden. Ohne die Kenntnis der Zwischenglieder wüßte man nichts von der Beziehung zum Wilhelmuslied. [52] So wie in diesem Fall, so könnte man bei intensiverer Forschung sicherlich die Töne weiterer Lieder ermitteln, denen keine explizite Tonangabe beigegeben ist. Im folgenden werden die zehn am häufigsten vorkommenden Tonangaben der in dem Sample vorhandenen 608 Lieder aufgelistet [53]: Graf Serin 31 (+3); Kommt her zu mir spricht Gottes Sohn 24 (+8); Warum betrübst du dich mein Herz 22; Hilf Gott daß mir gelinge 13 (+1); Wilhelmuslied 12 (+7); Wenn mein Stündlein vorhanden ist 11; Wo Gott der Herr nicht bei uns hält 10 (+1); Es ist das Heil uns kommen her 7 (+1); Da Jesus an dem Kreuze stund 8; Wie schön leuchtet der Morgenstern 7. Die am häufigsten verwendete Tonangabe ist das Lied vom Grafen Serin, das den Tod des Grafen Zriny im Kampf gegen die Türken 1566 behandelt. Der Textbeginn lautet: "Wie gerne wollt ich singen, so ficht mich Trauer an". [54] Es war für etwa 100 Jahre sehr populär und wurde häufig kontrafaziert, interessanterweise am häufigsten während des Dreißigjährigen Krieges. Warum wurde gerade diese Tonangabe so oft gewählt? Bei der Durchsicht der Kontrafakturen scheinen mir zwei Dinge relevant zu sein. Zum einen wird das Lied vom Grafen von Serin von der Grundstimmung Trauer beherrscht. In vielen Kontrafakturen des Liedes ist ebenfalls ein Grundtenor der Trauer vorhanden, Trauer über Niederlagen, Grausamkeiten des Krieges, die Not und die schweren Zustände allgemein. Zum zweiten wird in dem Lied ein Held besungen, und zwar ein Held, der im Kampf gegen die Türken gefallen war, dem nach damaliger Auffassung gemeinsamen Feind aller Christen. Das Lied war also - anders als das Wilhelmuslied - nicht konfessionell fixiert, wir finden daher Kontrafakturen mit sowohl katholischer wie auch mit protestantischer Tendenz. Es fällt auf, daß acht dieser zehn Spitzenreiter geistliche Lieder sind. Das erscheint folgerichtig, waren doch konfessionelle Auseinandersetzungen wesentliche Elemente im Dreißigjährigen Krieg. Ein Blick auf die gesamte Liedpublizistik des 16./17. Jahrhunderts zeigt jedoch, daß es sich bei sechs von ihnen um häufig vorkommende, allgemein gängige und konfessionell kaum oder gar nicht fixierte Tonangaben handelt, die für viele Arten von Liedern, vor allem aber für Zeitungslieder verwendet wurden. [55] Für Zeitungslieder war die Verbindung von Nachricht mit religiöser Deutung und Aufforderung zur Buße typisch, und insofern spiegelt die Wahl geistlicher Melodien den Charakter dieser Lieder wieder. [56] Ihr häufiges Vorkommen in den Jahren während des Dreißigjährigen Krieges bedeutet nicht eine besondere Bevorzugung geistlicher Tonangaben während dieses Zeitraums, sondern es ist eher ein Beleg für die Kontinuität der Liedpublizistik im 16./17. Jahrhundert. Lediglich bei der Tonangabe "Es ist das Heil uns kommen her" ist eine überwiegend protestantische Verwendung zu konstatieren, die der hervorgehobenen Rolle als evangelischem Kernlied entspricht. Ähnliches ist bei der Tonangabe "Wie schön leuchtet der Morgenstern" festzustellen. ANMERKUNGEN -
1. Preuss/Thümer 1915, S. 253. - Zum musikalischen Anteil des Gregoriusfestes vgl. Müller 1939, hier S. 18. | |
QUELLE | ![]() | |
PROJEKT | ![]() | |
DATUM AUFNAHME | 2005-11-03 | |
AUFRUFE GESAMT | 9831 | |
AUFRUFE IM MONAT | 52 | |
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