PERSON

FAMILIELippe, zur
VORNAMEGertrud II.


GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1170 [um]   Suche
TOD DATUM1234/1238 [um]   Suche


VATERLippe, Bernhard II. zur
MUTTERAre, Heilwig von


BIOGRAFIEDer Gutsverwalter und seine Bauern auf dem Gut in Stockum nahe Werne hatten alle Hände voll zu tun. Sechzig Reiter hatten auf dem Hof am Nordufer der Lippe ihr Lager aufgeschlagen. Vier Tage und vier Nächte blieben sie hier. Die Tiere mußten gefüttert und gepflegt, das vielköpfige Reiter-Gefolge mußte versorgt werden, und vor allem: die Herrin mußte gastfreundlich bewirtet und bei Laune gehalten werden. Nichts sollte sie finden, an dem sie etwas auszusetzen hätte.

Sie - das war Gertrud II. zur Lippe, Äbtissin der Reichsabtei Herford und damit eine der damals mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten im mittelalterlichen Westfalen. Ihr Kanzleischreiber notierte "das Jahr der Fleischwerdung des Wortes 1219", als die Äbtissin mit großen Gefolge von Herford aus zu einer Rundreise durch das Münsterland aufbrach. Dort gab es zahlreiche Güter und Bauernhöfe, die zur Herforder Abtei gehörten.

Von Stockum, der ersten Station ihrer Reise, zog die Äbtissin weiter zu den Gutshöfen in Schöppingen und Wettringen, von da aus über Rheine und Ibbenbüren nach Lengerich. Höfe in Lienen und Ostenfelde waren die letzten Stationen ihrer Visitationsreise, bevor es zurück nach Herford ging. Überall kontrollierte Äbtissin Gertrud, ob die Gutsverwalter, die sozusagen Bedienstete der Herforder Abtei waren, ihre Pflichten treu ergeben. erfüllten: Trieben sie bei den Bauern, die zum Gut gehörten, rechtzeitig die Abgaben ein? Sorgten sie dafür, dass das Vieh und das Getreide, dass Butter, Honig und Wachs ungeschmälert zur Abtei nach Herford kamen?

Ob die Reise der Äbtissin ein Erfolg war, ob die Einnahmequellen besser sprudelten als zuvor, ist unbekannt. Der Kanzleischreiber hat nichts darüber notiert. Die Visitationsreise jedenfalls weist bereits auf einen Charakterzug der Äbtissin Gertrud hin: Sie bewies damit, so der Historiker Rainer Pape, "ihren gesunden Sinn für die Mehrung stiftischer Einnahmen".

Diese Frau gilt als eine der eindrucksvollsten und tatkräftigsten Regentinnen, die je auf dem herrschaftlichen Thron der Reichsabtei gesessen hat. Wer war diese Frau? Worin lagen ihre Leistungen und Verdienste?

Gertrud II. zur Lippe war eines der elf Kinder des Adligen Bernhard II. zur Lippe. Von der Mutter ist nichts überliefert, dafür um so mehr vom Vater: Er hatte unter anderem die Stadt Lippstadt und das Zisterzienserkloster Marienfeld gegründet, war dann für Heinrich den Löwen in den Krieg gezogen, bevor er Mönch in Marienfeld wurde und noch in hohem Alter zum Bischof geweiht wurde - geweiht durch drei seiner Söhne, den Brüdern Gertruds, die Bischöfe in Utrecht, Hamburg und Paderborn waren.

Diesen machtvollen Positionen standen auch die Schwestern der Gertrud nicht nach. Sie waren Äbtissinnen in den münsterländischen Frauenklöstern Freckenhorst, Bassum und Elten.

Über Kindheit und Jugend der Gertrud ist so gut wie nichts bekannt. Nicht einmal das Geburtsdatum ist überliefert, es dürfte aber etwa um das Jahr 1170 liegen. Vermutlich wurde sie in einer klösterlichen Schule erzogen, entweder in Herford oder in Quedlinburg. Ein Corveyer Abt lobte später, Gertrud sei eine gelehrte Dame gewesen; sie habe Griechisch und Lateinisch beherrscht und sogar eine Auslegung der Evangelien verfaßt.

Um 1215 wurde sie Äbtissin der Reichsabtei Herford, der ältesten und zur Zeit Gertruds bedeutendsten Abtei Westfalens. Kaum hatte Gertrud den Thron bestiegen, sorgte sie dafür, die wirtschaftliche Grundlage der Abtei zu sichern und auszubauen. Die eingangs geschilderte Visitationsreise zu den klösterlichen Gutshöfen des Münsterlandes war nicht die einzige Maßnahme, die sie ergriff Als der Abteidroste Heinrich, sozusagen der "Verwaltungschef" des Klosters, starb, nutzte sie die Gelegenheit, um dessen alte Pfründe rigoros zu streichen; so sparte sie, wie es in einer Urkunde heißt, "unerträgliche Ausgaben" zugunsten des Klosters ein..

Allem Neuen gegenüber zeigte sich die Äbtissin aufgeschlossen, so zum Beispiel in der kirchlichen Baukunst. Die neue Kirche, die unter ihrer Herrschaft für das Herforder Frauenstift gebaut wurde, ist die erste große Hallenraumkirche im mittelalterlichen Westfalen. Dieser richtungweisende Kirchenbau, um 1220 begonnen und um 1280 vollendet, wurde zum Vorbild für Sakralbauten in anderen Städten Westfalens und Norddeutschlands.

Dass Gertrud II. zur Lippe politischen Weitblick besaß, zeigt ihr Verhältnis zur städtischen Bürgerschaft Herfords. Die Bürger vieler anderer Städte, die nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit strebten, lagen mit den Feudalherren in mehr oder weniger heftiger Fehde. In Herford war das anders. Die Äbtissin förderte sogar "ihre" Herforder nach Kräften.

Sie erlaubte der Bürgerschaft, eine Neustadt zu gründen, und sie sorgte dafür, dass die Bürger ausreichend Land erhielten. Der zur Abtei gehörende Meierhof Libbere, so ordnete die Äbtissin 1224 an, solle den Herfordern Viehweiden und Ackerland überlassen. Als Pacht sei jeder Bürger der Neustadt dem Meier alljährlich am Tag nach Michaelis ein Huhn schuldig. "Diese Regelung", so heißt es in der Urkunde abschließend, "hat allseitig Beifall gefunden."

Doch damit nicht genug: Die Äbtissin gestand den Herforder Bürgern zu, dass sie sich eine Ratsverfassung und eine Stadtregierung gaben, das Ratskollegium. Damit ist Herford nach Soest die zweite Stadt in Westfalen mit einer Ratsverfassung.

So fördernd sie die Herforder Bürgerschaft unterstützte: Mit aller Macht schritt die Äbtissin ein, wenn sich andere Herrscher und Untertanen Übergriffe auf ihren Herrschaftsbereich oder auf die Stadt Herford leisteten. In Fehde lag Gertrud II. zur Lippe vor allem mit den benachbarten Grafen von Ravensberg und deren Untertanen in Bielefeld.

Der Streit drehte sich um einige Bauernhöfe - um den Hof Cleve am Fuß des Teutoburger Waldes beispielsweise, um Güter in Oldendorf und um den Hof Drever in Schildesche. Diese Höfe gehörten zur Abtei Herford, doch die Grafen von Ravensberg beanspruchten die Höfe als ihr Eigentum. Hinzu kam, dass die Grafen und ihre Bielefelder Untertanen mehrmals Herforder Waldstücke abholzten und sogar das Vieh auf Weiden trieben, die
den Bauern der Herforder Abtei zustanden..

Die Bürger Bielefelds brachten schließlich das Faß zum Überlaufen: Kaum war die Stadt von den Ravensberger Grafen offiziell gegründet, da erhoben die Bielefelder Zölle von den Händlern, die auf ihrem Weg durch den Osning in Richtung Herford nun die Stadtmauern Bielefelds passieren mussten. Für die Äbtissin hieß das: Der Wein und all die anderen Waren, die für Herford und die Abtei bestimmt waren, verteuerten sich erheblich.

Unverzüglich ließ die Äbtissin Gertrud ihre Ritter in Marsch setzen. Sie zogen, gemeinsam mit Herforder Bürgern, in die junge Nachbarstadt und zerstörten dort zahlreiche Häuser, die gerade erst gebaut worden waren.

Über den Sturm der Herforder auf Bielefeld kam es später zu "Friedensverhandlungen". Das Ergebnis jedoch ist nicht überliefert. Die Streitigkeiten scheinen durch einen Kompromiss beendet worden zu sein, mit dem beide Seiten ihren Frieden hatten schließen können. Jedenfalls herrschte bis zum Tod Gertruds um das Jahr 1238 ein einvernehmliches Verhältnis zwischen der mächtigen Äbtissin und ihren Ravensberger Nachbarn.

QUELLE  Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S.16-18
PROJEKT  Lebensbilder westfälischer Frauen
AUFNAHMEDATUM2004-09-07


QUELLE    Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 16-18
   | Köln Westfalen 1180-1980 | Bd. 1, S. 471

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Zeit2.14   1150-1199
2.15   1200-1249
DATUM AUFNAHME2003-08-04
DATUM ÄNDERUNG2010-05-12
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