Kirche und Kirchhof im Dorf > Küsterei


Küsterei der evangelischen Pfarrkirche in der Lünener Kreuzstraße, 1930 (Ausschnitt) / Münster, Westfälisches Landesmedienzentrum, 01_2010






Nicolas Rügge

Der Küster

Der Küster wird gern übersehen. Für den Pfarrer interessieren sich die Historiker seit langem, hin und wieder auch für den Dorflehrer. Als "Nebendarsteller" in Schulgeschichten taucht der Küster mitunter auf, wenn er gleichzeitig das Lehramt versah, sonst hat sich kaum jemand mit ihm beschäftigt. Dabei liegt doch nahe, dass im "Zeitalter der Konfessionen" das kirchliche Personal über den Pfarrer hinaus eine wichtige Rolle spielte. Sicher gilt dies für den Küster - zumindest in den Dörfern der reformierten Grafschaft Lippe des 17. und 18. Jahrhunderts. Aus diesem Raum und aus dieser Zeit stammen die folgenden Beispiele.

Nach der  "Christliche(n) Kirchenordnung der Grafschaft Lippe" von 1684 musste der Küster
"sowol das Kirchengebäu als auch die Glocken, Orgeln und andere Kirchengeräth treulich verwahren und verschließen ..., zu rechter Zeit das Geläut verrichten, das Uhrwerk richtig stellen, die Kirche, wann nöthig, auf- und zuschließen, alles rein und sauber darin halten und sonsten dem Pastor und der Gemeine fleißig und treulich in Kirchensachen aufwarten".

Seine liturgischen Funktionen sicherten dem Küster einen ehrenvoll herausgehobenen "Platz in der Kirche" (J. Peters). Ansehen gewann er außerdem durch seine Bildung und insbesondere Schriftkunde: Vor seiner Anstellung sollte jeder Küster dem gräflichen Konsistorium nachweisen, dass er "im Schreiben, Lesen, Rechnen also geübet", dass er "die Schule mit bedienen und die Jugend unterweisen" könne. In der älteren Kirchenordnung von 1571 ist sogar zu lesen, die Katechisierung der Jugend sei "von Alters her ... der Küster Amt gewesen". Die bemerkenswert gelehrte Küsterfamilie Vogt in Lüdenhausen führte Generationen lang anstelle des Pastors sogar die Kirchenbücher und nahm verschiedene Schreibdienste für das Amt Varenholz wahr.

Entgegen dem jüngeren Klischee vom armen Kirchendiener war der frühneuzeitliche Küster auch materiell gut gestellt. Seine Haupteinnahme bestand in den Kornlieferungen der Kirchspielsleute, die je nach Hofgröße bestimmte Abgaben leisten mussten. Aus dieser Quelle erhielt beispielsweise der Küster in Langenholzhausen 1618: 31 Scheffel Roggen, 24 Scheffel Hafer, 1 Scheffel Gerste und Geld im Wert von 4 Talern und 24 Groschen. Schon damit stand er deutlich über den zahlreichen landarmen Kleinbesitzern im Dorf. Hinzu kamen noch geringe Geldeinnahmen für das Stellen der Kirchenuhr und das Schmieren der Glocke. Außerdem hatte er an den Stolgebühren des Pastors teil, denn er assistierte ihm bei verschiedenen Amtshandlungen: Bei Taufen holte er das Wasser und sorgte beim Abendmahl für Brot und Wein. Seit etwa 1700 kam in den Dorfgemeinden das Orgelspiel als weitere Aufgabe hinzu. Die unterschiedlich oft anfallenden "Akzidentien" von Taufen, Heiraten und Begräbnissen machten im Jahr immerhin 10 bis 15 Taler aus. In mehreren Kirchspielen standen der Küsterei außerdem eine größere Anzahl Mettwürste, Brote und Eier zu. Und amtierte der Küster gleichzeitig als Lehrer, wie es in Lippe die Regel darstellte, durfte er in manchen Gemeinden ein besonderes Stück Schulland nutzen. Auf jeden Fall erhielt er Schulgelder von den Eltern und bei Begräbnissen für den Chorgesang ein paar Groschen von den Hinterbliebenen.

Schließlich verfügte der Küster nicht selten über einen kleineren Hof als "privaten" Familienbesitz. In diesem Fall wohnte er nicht in seinem "Dienstgebäude" am Kirchhof, das manchmal den örtlichen Pfarrhäusern kaum nachstand, sondern irgendwo im Dorf. Anders als die meisten seiner Nachbarn war er allerdings stets "leibfrei" und nie "eigenbehörig". Für die Rangunterschiede im Dorf mag zwar der Umfang des Landbesitzes eine größere Rolle gespielt haben als die persönliche Freiheit. Aber auch in dieser Hinsicht holte der Küster auf: Als im Dreißigjährigen Krieg viele wohlhabende Höfe in finanzielle Bedrängnis gerieten, hielt sich der Küster besser: Er konnte Land von den verschuldeten Bauern pachten oder erwerben und seinen Kindern stattliche Brautschätze verschreiben. Nicht wenige heirateten auf große Höfe.

Der Küster selbst übernahm den Besitz und das Amt in der Regel von seinem Vater. Wie in der ständischen Gesellschaft üblich, bildeten sich regelrechte Amtsdynastien aus. In Lüdenhausen besetzte seit dem frühen 17. Jahrhundert zweihundert Jahre lang die Familie Vogt das Küster- und Lehreramt. Unter den einheiratenden Frauen war aber keine einzige Küstertochter: Die ersten kamen von kleineren bis mittelgroßen Höfen im Ort, es folgten zwei Pastorentöchter, die Tochter eines wohlhabenden Arztes und schließlich eines Großbauern aus der Nähe von Detmold. Offenbar wurde dieselbe Strategie verfolgt wie bei den Bauern: Der Erbe musste eine besonders "gute" Heirat machen, um den Familienbesitz zu stärken und die Geschwister abfinden zu können. Die jüngeren, nicht erbenden Söhne übernahmen häufig Küsterstellen andernorts, zwei konnten sogar studieren und in den Pfarrerstand aufsteigen. Der Jüngere der beiden wird in der heimatgeschichtlichen Literatur ein "großer Freund der Volksbildung" genannt: "Er selbst war, wie er schrieb, in seinen jungen Jahren Lehrer gewesen, und es lag ihm viel daran, in Hohenhausen und Bentorf tüchtige Lehrer zu haben" (W. Süvern). Auf diese Weise konnte die Herkunft einer Pfarrersfamilie aus dem Küsteramt zur "volksnahen" Ausgestaltung des Dienstes beitragen.

Verwandtschaft und Patenbeziehungen, Beruf und Bildung - in vielfacher Hinsicht wirkte der Küster als Verbindungselement zwischen dem Pastor und den bäuerlichen Dorfbewohnern, zwischen der "Herrschaft" und den "Untertanen". Zwar brachte ihm seine Herrschaftsnähe bisweilen Neid und Missachtung ein: Der Dorfschmied von Almena erklärte 1655 öffentlich, er wollte auch gern ab und zu etwas Land hinzukaufen, wenn er nur Geld hätte, und wenn der Küster "den Graven von der Lippe nicht bestochen hette, so hette er keine Haußstette bekommen". Auf dem gemeinsamen Heimweg beschimpfte er ihn weiter, stach mit der Mistgabel nach ihm und rief schließlich sogar seiner Frau ins Haus, "sie solte ihm daß Rohr herauß bringen, er wolte den Küster todt schießen". In aller Regel profitierten die Dorfbewohner aber von ihrem Küster, der ihnen den Kontakt zur Herrschaft und die Nutzung der Rechtswege erleichtern konnte. Zahlreich ist belegt, dass der Küster Abschriften von bäuerlichen Dokumenten wie etwa Schuldverschreibungen herstellte, die dann in Zivilprozessen verwendet werden konnten. In einem der seltenen Testamente eines Vollspänners aus dem Kirchspiel Talle von 1689 heißt es, der des "Schreibens unerfahren(e)" Mann habe unter anderem "Hansen Bieren, Küstern zur Talle, gebeten, dieses zum Zeugnis der Warheit mit zu unterschreiben". Hans Biere war dafür zweifellos qualifiziert, hatte er doch als junger Mann sechs Jahre lang als Präzeptor und Schreiber bei einem Adligen gedient. Kenntnisse des Kanzleigebrauchs, der lateinischen und später der französischen Sprache sind für Küster nachweisbar.

Oft gefragt war seine Hilfe auch bei Bittschriften (Suppliken) der Untertanen. 1750 mahnte die lippische Regierung in einem Rundschreiben an die Pfarrer, man habe "mißfällig vernommen, daß sich einige Küstere und Schulmeistere unterstehen, Suppliquen und Memorialien zu verfertigen". Aus Unkenntnis des Rechts könnten sie den Mandanten aber schaden und würden außerdem ihre Schularbeit dabei versäumen. Die Bittsteller seien statt dessen an die ordentlichen Advokaten zu verweisen. Die hier angedeuteten Prozesse der Spezialisierung und "Professionalisierung" beschränkten die Küster und Lehrer allmählich auf begrenzte Aufgabenfelder, trennten letzten Endes auch das alte Küsteramt selbst auf. Während der Lehrberuf im Zeichen der Aufklärung und "Volksaufklärung" an öffentlichem Interesse und Ansehen gewann, reduzierte sich die Funktion des Küsters auf den Kirchendiener. Im "Zeitalter der Konfessionen" war seine Stellung aber bedeutsamer und vielschichtiger: Der Küster hatte an der Sphäre kirchlicher und staatlicher Herrschaft teil, wurde aber gleichzeitig als Dorfbewohner wahr- und in Dienst genommen. Er war eben "dem Pastor und der Gemeine" verpflichtet" (Kirchenordnung 1684). Wenn auf dem Land die "Herrschaft mit Bauern" nicht vollständig zu einer "Herrschaft über Bauern" geriet (H. Wunder), so ist dies nicht zuletzt dem Küster zu verdanken.










Die Kirche und der Kirchhof im Dorf -
Berichte aus Westfalen im
konfessionellen Zeitalter






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St. Pantaleon-Kirche mit Küsterhaus
und Schule in Lohne


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Küsterei der evangelischen Pfarrkirche
in der Lünener Kreuzstraße, 1930