Soest > Aldegrever: Eros, Sexus und die öffentliche Moral im 16. Jahrhundert


 
Klaus Kösters

Eros, Sexus und die öffentliche Moral im
16. Jahrhundert

 
 
 

5. Die kontrollierte Moral und der Kleiderluxus

 
 
 
Zu den erlaubten bzw. überwachten Räumen der Lust und der Sinnlichkeit gehörten im 16. Jahrhundert auch die zahlreichen Feste, die kleineren oder größeren, öffentlichen oder privaten Geselligkeiten, die eine wesentliche Dimension des gesellschaftlichen Lebens darstellten. Feiern fanden in der Regel innerhalb des eigenen Standes oder der eigenen Gruppe statt und unterlagen vorgegebenen Normen. Neben den Festen des Kirchenjahres waren Taufe, Hochzeit und Beerdigung nicht nur Feste des Familienkreises, sondern Festakte des ganzen Dorfes, der Nachbarschaft oder Zunft. [87] Da diese Feiern auch das Selbstwertgefühl und das Standesbewusstsein der Familien berührten, waren sie oft Anlass für Verschwendung. Die Kritik der Kirchen und Obrigkeiten richteten sich gegen diese Verschwendungssucht und gegen die "unordentlichen Feste", die man in gemäßigte Bahnen zu führen versuchte, besonders gegen die zahlreichen Exzesse in Form von Trinkgelagen in Verbindung mit Tumulten und Gewaltakten. [88]

Als Todsünden des Fleisches waren Völlerei und Wollust schon immer als unzertrennliches Paar angesehen worden. Moralisierende Graphiken und Bilder - auch in Aldegrevers Werk - wandten sich dagegen. [89] Trotz allem wurden Festgelage allgemein geschätzt. Die schwelgerischen Genüsse standen im Gegensatz zur allgemein geforderten Enthaltsamkeit. Nicht nur die Geistlichkeit, auch weltliche Moralisten wetterten gegen solche Ausschweifungen des Magens und der Lust und verwiesen auf ihre Nachwirkungen: uneheliche Kinder, zerschlagene Köpfe und Krankheiten. [90]

Anstoß nahmen die geistlichen und weltlichen Obrigkeiten am Kleiderluxus, der sich an solchen Festtagen, besonders bei Hochzeiten, überall bemerkbar machte. Eitelkeit und Hoffahrt galten als Sünde. Doch dem Verlangen, sich in prachtvoller Kleidung zu präsentieren, konnte sich kaum jemand entziehen. Denn die Kleidung gehörte ja nicht allein zum häuslichen Leben, sondern war Bestandteil der städtischen Kultur. Sie diente der individuellen, bzw. ständischen Selbstentfaltung, war Symbol kultureller Hegemonie und Distinktion. Es wurden an Festtagen keine Extravaganzen gescheut. Mehr oder weniger vergeblich versuchten Kleidervorschriften, den Luxus einzudämmen: Als luxuriös galten exzessive Vielfalt der Verzierung, silberne Sterne, goldene Ketten und Schnüre, aufgestickte Strahlen, Blätter oder Tiere, Krägen und Ärmelbesatz aus Pelz, helle Farben, aufgenähte Perlen und Edelsteine. [91] Aber indem der einzelne sich in einer bestimmten Weise präsentierte, teilte er etwas öffentlich von sich und seinem Stand mit. [92]

Aldegrevers Kupferstichfolgen von Hochzeitstänzern zeigen den modischen Aufwand und die Extravaganz der städtischen Oberschicht (Kat. Nr. 127-148). [93] Vornehme Herren schreiten mit ihren Damen in kostbarer und raffinierter Kleidung würdevoll einher. Ausladende, schnelle Bewegungen sind dabei unangemessen. Die Damen tragen Röcke und Unterkleider aus ausgesprochen schweren Stoffen. Die langen Schleppen verbieten jede schnelle Bewegung. Die Mieder sind aufwendig bestickt und verziert, mit modisch geschlitzten Ärmeln und bestickten Borten versehen. Das aufgesteckte Haar ist teilweise unter kostbaren Hauben mit Perlen oder unter Kronen verborgen. Schwere Ketten mit Schlüsseln, Scheren oder Besteckscheiden unterstreichen die weibliche Rollenzuweisung als Hausfrau. Die Herren sind mit Wams und langen Faltröcken bekleidet, einige von ihnen tragen die für die damalige Zeit so typischen Schauben. Auffallend sind die modisch geschlitzten, gebauschten oder gepufften Ärmel und die gepluderten, ebenfalls geschlitzten Kniehosen, die am Kniebund aufwendige Bänder zeigen. Extravagant erscheint bei einigen der würdevollen Herren auch das modisch flache Barett mit Straußenfedern. [94] Dolche und Degen betonen ihre männliche Autorität und entsprechen dem Vorbild des mutigen und wehrhaften Mannes. [95]
 
 
Ein Platzmeister eröffnet den höfisch inspirierten Schreittanz der "Großen Hochzeitstänzer" (Kat. Nr. 138-148). Ihm folgen gravitätisch zwei Männer mit Fackeln. Hinter ihnen ziehen in vornehmer Haltung die Paare langsam und geordnet her. Die folgenden Stiche zeigen einen Rundtanz, wobei die Paare sich umarmen und dezent küssen dürfen. Aber alles folgt dem gemessenen Rhythmus, der die Tänze der Patrizier und des Adels auszeichnete. Tanz war eben auch ein Mittel gesellschaftlicher Distinktion. Gegenüber den wilden Bauerntänzen, wie sie auf den Bildern Breughels zu sehen sind, und den "Volten" des gemeinen Volkes praktizierten die distinguierten Kreise des städtischen Patriziats oder des Adels maßvolle Tänze von vornehmer Zurückhaltung. [96] Tanz wird hier zu einer besonderen Form zivilisierten Verhaltens, mit der sich die oberen Stände vom ungehobelten Volk abgrenzten. Während Geistlichkeit und weltliche Moralisten in den wilden Schwüngen und Verdrehungen des gemeinen Volkes ein "Teufelswerk" sahen, entsprachen die wohlanständigen und ehrbaren Tänze der Oberschicht eher ihren Vorstellungen. Dahinter erscheinen die bürgerlich-puritanischen Tugenden der Selbstherrschung und Nüchternheit, der Mäßigung, der Ordentlichkeit, der Achtung vor dem Alter und der Autorität. Gutes, standesgemäßes Benehmen wird zum Ausweis des sozialen Ranges und wesentlicher Teil des allgemeinen Zivilisationsprozesses. [97] 1530 hatte dies schon Erasmus von Rotterdam in seinem populären Benimmbuch für adlige Knaben [98] festgelegt: Die Körperhaltung, die Gebärden, die Kleidung, auch der Gesichtsausdruck sind äußere Merkmale einer inneren Haltung, die den gebildeten und rechtschaffenen Menschen kennzeichnet. [99]
 
 
 
Die großen Hochzeitstänzer, 1538
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Etwas ausgelassener geht es bei den Hochzeitstänzern von 1551 zu (Kat. Nr. 132-137). [100] Hier hat Aldegrever wohl eine bewegtere Tanzart dargestellt. Nach der eher schreitenden Eröffnung zeigen die folgenden Blätter auch springende Tanzformen. Allerdings sind die Tanzfiguren im Vergleich zu den Bauerntänzen von Hans Sebald Beham eher ruhig. [101] Daniel von Soest hat in seinem schon erwähnten Spottgedicht auf die Soester Reformation die Hochzeit des Superintendenten Brune als satirischen Höhepunkt gestaltet. [102] Die dort geschilderten Tänze bestehen aus dem Reigen und dem Sprung. Zum letzteren werden wohl die etwas bewegteren Tanzschritte auf Aldegrevers Blättern gehören. [103]
 
 
 
Die kleinen Hochzeitstänzer, 1551
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Als feiner Beobachter der menschlichen Sitten und Gebräuche hat Aldegrever bei der Männermode ein Detail nicht ausgelassen, was heute eher als modische Kuriosität betrachtet wird: den Hosenlatz (Kat. Nr. 135, 137, 147). [104] Während die weiten und stoffreichen Röcke der Damenwelt die Körperformen eher verbargen, wurde in der Männermode das kleine Stück Stoff, das die Kniehose vorne verschloss, immer größer, immer mehr zu einer "prahlerischen Nachmodellierung eines Glieds" (Montaigne [105]). Diese Schamkapsel erfüllte angesichts der engen Hosen die praktische Funktion einer Tasche. Ehrbare Bürger ließen sich mit ihr porträtieren, aber gleichzeitig galt es als unschicklich, sie bei bestimmten öffentlichen Anlässen offen zu zeigen. [106]
 
 
 
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Anmerkungen

[87] van Dülmen 1999/2, S. 126f., S 138ff.
[88] Zahlreiche Beispiele bei Kells 2000.
[89] Hale 1994, S. 581. Heinrich Aldegrever: Allegorische Figuren (Die Unmäßigkeit und Unkeuschheit, B 109, 110, 1549/50); Folge der sieben Tugenden und der sieben Laster (Die Mäßigkeit und die Völlerei, die Keuschheit und die Wollust, B 121 und 128, B 120 und 127, 1552). Der Zyklus "Das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus" (B 44-48, 1554), "Der Tod und der Abt" aus dem "Totentanz" (B 142, 1541).
[90] Hale 1994, S. 583.
[91] Van Dülmen 1999/1, S 74. Nach der Reichsordnung von 1530 waren für die vornehmen Ratsgeschlechter nur wenige Kleidereinschränkungen vorgeschrieben: "Aber Burger in stetten / so vom radt/ geschlechten/ vnd sunst jrer zinss und renthen geleben/ die sollen sich in aller massen in jrer kleydung erzeygen/ also jetzo von kauff und gewerbssleuten vermelt worden. Doch aussgenommen dass sie schamlotte röck/ mit drei ellen sammet zum höchsten verbremt/ desgleichen marder fouter/ und kein bessers/ auch sameten vnd seiden wams aussgenommen Cermesin vnd seiden harhauben an vnd aufftragen mögen." Gürtel, Ketten und Ringe dürfen den Wert von 30 - 50 Gulden nicht überschreiten, die Frauenkleider aus maximal vier Ellen Seiden- oder Samtstoff gefertigt sein. (Thiel 1990, S. 184-188).
[92] Ariès / Duby 1990, S. 530-532.
[93] "Die kleinen Hochzeitstänzer" (1538, B 144-151, und 1551, B 152-159) sowie "Die großen Hochzeitstänzer" (1538, B 160-171).
[94] B 164, 166, 168.
[95] Thiel 1990, Kap. "Die Mode der Renaissance und der Reformation in Deutschland". S. 167-188.
[96] Das städtische vornehme Bürgertum übernahm hier mittelalterliche Tanzformen des Adels, während die bäuerlichen Tänze sich durch weit ausholende, schnelle Armbewegungen auszeichneten (Søndergaard 2001).
[97] Elias 1978, S. 152ff.; Hale 1994, S. 561-572.
[98] Erasmus von Rotterdam: De civilitate morum puerilium, 1530. Das kleine Buch hatte über 130 Auflagen und fand zahlreiche Nachahmer (Elias 1978, S. 66ff. und Anmerkung 2 zum 2. Kapitel, S. 312f.).
[99] Zitiert nach Elias 1978, S. 69. Verwiesen sei auch auf Baldessar Castigliones (1478-1529) Schrift "Il libro del cortegiano" von 1528, das ebenfalls großen Widerhall fand.
[100] B 152-159.
[101] Hans Sebald Beham: Bauernfest (Monatsbilder), 1546-47. Abb. Hollstein III, S. 99. Zschelletzschky, a. a. O. S. 121.
[102] Teodoruk 1984, S. 25.
[103] Daniel von Soest: Ein gemeine bicht, Verse 2707ff. (Jostes 1888, S. 199ff.).
[104] B 156, 158, 159, 174.
[105] Zitiert nach Bologne 2001, S. 71.
[106] Beispiele bei: Zander-Seidler 1990, S. 168, 189.