Soest > Aldegrever: Eros, Sexus und die öffentliche Moral im 16. Jahrhundert


 
Klaus Kösters

Eros, Sexus und die öffentliche Moral im
16. Jahrhundert

 
 
 

2. Das ambivalente Nackte

 
 
 
Die neue künstlerische Auffassung vom Körper war eng verbunden mit der immer besseren Kenntnis der menschlichen Anatomie. Die muskulösen, vor Kraft strotzenden jungen Helden der Renaissance entsprechen dem männlichen Ideal, so wie die runden Formen der weiblichen Akte die Sinnlichkeit und Begehrlichkeit der Venus zum Ausdruck brachten. [20]

Doch das neue, nach antiken Vorbildern modellierte Körperideal war nicht nur ästhetisch, sondern auch in hohem Maße sinnlich. Denn gleichzeitig ließen die anatomisch genauen Darstellungen verbunden mit der Illusion von Dreidimensionalität die Nachfrage nach Bildern erotischen Inhalts steigen. Erstmals seit der Antike entstand jetzt wieder eine Kunst, welche sich auf dem schmalen Grad zwischen Sinnlichkeit und Lüsternheit versuchte. Sie wurde zum begehrten Objekt wohlhabender Sammler, deren geheime Kabinette zum Wohlgefallen des männlichen und weiblichen Publikums von Zeit zu Zeit ihre Schätze preisgaben. [21] Allerdings war es eine sehr exklusive Kunst, die sich auf die Privatsphäre einer vermögenden Oberschicht beschränkte. Der zeitgenössische Humanist und Gelehrte Girolamo Cardano (1501-1576) riet seinen Standesgenossen zum Ausgleich ihrer Studien nicht nur Umgang mit schönen Mädchen zu haben, sondern auch Bilder von schönen Jungfrauen im Schlafzimmer aufzuhängen. [22] Später wird Shakespeare (1564-1616) in der "Widerspenstigen Zähmung" (um 1593) diesen Gedanken aufgreifen, wenn am Anfang der Lord den betrunkenen Christopher Schlau in eine luxuriöse Umgebung bringen lässt: "Tragt ihn behutsam in mein schönstes Zimmer / Und hängt umher die lüsternen Gemälde." [23] Viele Sammler waren auf der Suche nach Bildern von mehr oder weniger erotischem Inhalt, so wie Franz I. von Frankreich (1494-1547), der an den Herzog von Mailand schrieb und um die Darstellung einer nackten Venus von Lorenzo Costa (um 1460-1535) bat. [24] Andere ließen sich als Liebesdiener mit der unbekleideten Liebesgöttin abbilden, wie Philipp von Spanien (1527-1598) auf einem Gemälde von Tizian (um 1489-1576), [25] oder sie bestellten Porträts ihrer Ehefrauen oder Geliebten in Gestalt der Venus oder Diana. [26] Weniger aufwendig und weitaus kostengünstiger war das Sammeln von Grafiken mit erotischem Inhalt, die mit Hilfe des Kupferstichs in größeren Auflagen hergestellt werden konnten und auf ein reges Interesse stießen.
 
 
Heinrich Aldegrevers Darstellungen von unbekleideten Frauen und Männern sind nicht losgelöst von den mythologischen Geschichten der Antike oder Szenen aus dem Alten Testament. Darin unterscheidet er sich nicht von den Arbeiten anderer Künstler. Die ganze antike Mythologie oder Literatur wurde mobilisiert, um Venus und ihre Liebhaber im Wechselspiel der Geschlechter zu zeigen. Aber die wenigsten wagten es, provokante sexuelle Szenen zu veröffentlichen, wie z. B. die berühmt-berüchtigte Kupferstichserie der 16 Liebesstellungen von Marcantonio Raimondi (um 1480 - um 1534) [27] oder derbe erotische Darstellungen auf Grafiken der Brüder Beham. [28] Doch trotz aller Verbote und Zensurbemühungen - von Raimondis Druckplatten haben nur Fragmente überlebt - der Druck und damit die größeren Verbreitungsmöglichkeiten solcher Kupferstiche ließ eine neue Kunstgattung entstehen und eröffnete für Künstler und Drucker interessante kommerzielle Perspektiven. Brantôme berichtet in seinen "Dames Galantes" von einem venezianischen Verleger, der in weniger als einem Jahr mehr als 50 illustrierte Exemplare der "Liebestellungen" von Aretino mit den Stichen Raimondis verkaufen konnte, eine damals enorme Zahl. [29]
 
 
 
Mit Hilfe der klassischen Mythologie konnten erotische Szenen jetzt ohne Gefahr von der christlichen Gegenwart in eine ferne heidnische Vergangenheit transportiert werden. Aber auch wenn die Inhalte durch die antike Mythologie oder das Alte Testament "abgesegnet" waren oder der dargestellte Inhalt moralischen Absichten unterworfen war, eine symbolisch dargestellte Verführung wie auf dem Dürerschen Kupferstich "Der Traum des Doktors (Die Versuchung)" [30] konnte letzten Endes selbst verführerisch sein. Leonardo da Vinci (1452-1519) berichtete von einem Sammler, der ein Bild religiösen Inhalts kaufte, weil er sich in die dargestellte weibliche Heilige verliebt hatte. [31]

Bei den zahlreichen Bildern erotischen Inhalts der Renaissance fällt auf, wie häufig das Thema mit dem der Gewalt verbunden ist. Ovid hatte in seiner "Liebeskunst" den Weg vorgezeichnet, indem er die Männer aufrief, sich mit Gewalt das zu nehmen, was die Frauen nur allzu gerne bereit sind zu gewähren. [32] Nach der zeitgenössischen Auffassung drängt die Natur des Mannes diesen zum Handeln. Er repräsentiert das Stürmische, das Aggressive, was seine Berechtigung ausmacht, in der Liebe auch gewaltsam zu siegen: "Ich werd erzwingen, rauben, was mir diese undankbar weigert als der Liebe Lohn" droht der lüsterne Satyr im zweiten Akt von Torquato Tassos "Aminta" - und kann im Theaterspiel dennoch sein Verlangen nicht stillen. [33] Der Satyr steht für die freie, natürliche Welt jenseits des Zivilisationsdrucks. Den naturwüchsigen Geschöpfen des Waldes, den Nymphen, Faunen und Satyrn im Gefolge des Weingottes Dionysos ist an Ausschweifungen erlaubt, was der gesellschaftliche Kultivierungszwang mit Tabus belegt. "Die Naturgeschöpfe sind Wunschfiguren, an die der Zivilisationsprozess seine Triebenergien delegiert." [34]

Die beliebtesten Geschichten aus der antiken Mythologie und der Bibel waren häufig Erzählungen von Vergewaltigungen und Voyeurismus, also für ein männliches Publikum bestimmt. [35] Dazu gehören z. B. aus dem Alten Testament "Lot und seine Töchter" (Kat. Nr. 27, 31), die Geschichte Ammons (Kat. Nr. 32-38), "Susanna im Bade" (Kat. Nr. 39-42) oder aus der antiken Mythologie die Lukrezia-Geschichte (Kat. Nr. 67 und 68). Andere Szenen weisen eher auf eine untergründige Angst vor weiblicher Sexualität hin, wie es die zahlreichen Darstellungen der Judith mit dem abgeschlagenen Kopf des Holophernes (Kat. Nr. 49) oder die der Salome mit dem Kopf Johannes des Täufers zeigen. Sie gehören zu einem in der Renaissance beliebten Themenkreis von "Weiberlist und Tücke", die den Mann unweigerlich ins Verderben führt (Kat. Nr. 50 und 51). Alles in allem erscheint diese Kunst der Renaissance eine Kunst von Männern für Männer zu sein. Aber dennoch, es gibt auch den "Triumph der Venus" als vielleicht notwendiges Pendant zur geforderten weiblichen Unterwerfung - die Andeutung eines freien Spiels der Geschlechter, die als komplementäre Kräfte angesehen werden. [36] Ambivalent ist die oft illustrierte Szene aus der Josefsgeschichte, wo die Frau des Potiphar den jungen Joseph zu verführen sucht (Kat. Nr. 46) - ambivalent deswegen, weil hier die Frau die sexuelle Initiative übernimmt. Die Häufigkeit, mit der in der zeitgenössischen Druckgraphik all diese Geschichten immer wieder dargestellt wurden, lässt auf ein großes öffentliches Interesse und einen regen Absatzmarkt schließen - sicherlich ein Grund dafür, dass diese Themen auch im Werk Heinrich Aldegrevers zu finden sind. [37]
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Die Geschichte von Lot, 1555
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Die Geschichte von Ammon und Thamar, 1540
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Die Geschichte der Susanna, 1555
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Anmerkungen

[20] Bologne 2001, S. 238, 384.
[21] Brantôme berichtet mehrfach von solchen erotischen Bildersammlungen, wobei die Nachdrucke der "I Modi" Aretinos mit den Stichen Raimondis sich der besonderen Gunst der Sammler erfreuten (Brantôme 1910, S. 29, 30, 32, 316f.).
[22] Hale 1994, S. 504.
[23] Shakespeare, S. 113.
[24] Hale, a. a. O. S. 501ff.
[25] Tizian: Venus mit dem Orgelspieler, zwischen 1545 und 1560/65, Nationalgalerie Berlin
[26] Tizians berühmte "Venus von Urbino", wahrscheinlich die Herzogin selbst, 1538, Uffizien, Florenz. Porträt der Diana von Poitiers, der Geliebten des französischen Königs Heinrich II: Schule von Fontainebleau (Lucca Penni zugeschrieben), Diana als Jägerin, um 1550. Musée du Louvre, Paris.
[27] Kupferstiche nach den Zeichnungen von Giulio Romano für das Buch von Pietro Aretino: I Modi, 1524. Vasari hatte in seinen Lebensbeschreibungen berühmter Künstler und Architekten, 1550, Raimondis Darstellungen gerügt, für welche dieser auf Befehl des Papstes eingekerkert wurde (Vasari, V, S. 418; Giudici 1988, S. 356f.).
[28] "Drei Frauen im Bad" von Barthel Beham (1502-1540), (P 45, B 37, Abb. Hollstein II, S. 203) und Hans Sebald Beham (1500-50, P 211, B 208, Abb. Hollstein III, S. 122), "Der Tod und das laszive Paar" von Hans Sebald Beham (Bartsch 1978, S. 91).
[29] Brantôme 1910, S. 33.
[30] Albrecht Dürer (1471-1528): Kupferstich um 1497/98 (Knappe 1964, Nr. 22).
[31] Freedberg 1989, S. 361.
[32] "Wer erst Küsse sich nahm und nun / sich das übrige nicht nimmt, / der hat verdient, dass er auch, was ihm gegeben verliert. / Wie viel fehlt denn noch nach dem / Kuss zur Fülle der Wünsche? / Nein, dass nenn ich nicht schlau / Tölpische Blödigkeit ist's. / Nenn es Gewalt, wenn Du willst, / denn Gewalt freut gerade die Mädchen." (Ovid, Ars amatoria, 1, 670-674. Zitiert nach: Gazetti 1987, S. 72.
[33] Torquato Tasso (1544-95): Aminta. Ein Schäferspiel. 1573. Zitiert nach Gazetti 1987, S. 73f. Ähnliche Beispiele zeigt die Autorin auch am "Orlando furioso" des Lodovico Ariosto, 1516, auf.
[34] Werner Hofmann, in: Ausst. Kat. Wien 1987, S. 235.
[35] Lyndal Roper kommt in ihrer Untersuchung über "Männlichkeit in der Stadt der Frühen Neuzeit" zu der Schlussfolgerung, dass "Gewalt ein charakteristisches Merkmal von Männlichkeit" war (Roper 1995, S. 122). Ergänzend dazu Margret Aston: "L'art de la Renaissance fut, à de très rares exceptions près, un art masculin." (Aston 1997, S. 196).
[36] Ausst. Kat. Wien 1987, S. 178f.
[37] Joseph und die Frau des Potiphar (B19, 1532), Judith mit dem Kopf des Holofernes (B 34, 1528), Samson und Deliah (B 35 und 36, 1528).