Soest > Aldegrever: Der Kampf um den rechten Glauben und die Druckgraphik


 
Klaus Kösters

Der Kampf um den rechten Glauben und die Druckgraphik

 
 
 

4. Heinrich Aldegrever - ein gemäßigter Protestant?

 
 
 
1527, zu Beginn seiner Karriere als Kupferstecher und vor der Einführung der Reformation in Soest, schuf Heinrich Aldegrever, eine Mariendarstellung, [69] welche sich eng an Dürers Mondsichel-Madonna von 1516 anlehnt. [70] Auch Aldegrevers Maria steht auf der Mondsichel. Sie trägt das Jesuskind in ihren Armen, beide von einem Strahlenkranz umgeben. Strahlenkranz und Nimbus (Heiligenschein) stehen für das göttliche Licht, das nur heiligen Personen zukommt. Auf dem Haupt trägt sie die Krone und in der linken hält sie das Zepter, Zeichen ihrer Würde als Himmelskönigin.

Das Motiv geht zurück auf die Offenbarung des Heiligen Johannes (12, 1f.), wo am Ende aller Tage das Apokalyptische Weib erscheint, mit dem Mond zu Füßen, mit der Sonne bekleidet und von zwölf Sternen bekränzt. Es gebar einen Sohn, den ein Engel in den Himmel führte. Im frühen Christentum wurde das apokalyptische Weib mit der Kirche identifiziert, seit dem 12. Jahrhundert infolge der zunehmenden Verbreitung des Marienkultes mit Maria. Oft wurde die Mondsichelmadonna als Himmelskönigin mit dem Jesusknaben auf dem Arm dargestellt, seit der Renaissance erfolgte eine allmähliche Wandlung zur Immaculata (Verkörperung der Unbefleckten Empfängnis).

Gegenüber dieser hoheitsvollen Marien - Darstellung ist sie aber auch als liebevolle Mutter charakterisiert: Sie hält den Jesusknaben in ihren Armen und beugt den Kopf zu ihm.

1553, in seinem Spätwerk, nahm Aldegrever das Motiv wieder auf (Kat. Nr. 65). [71] Inspirationsquelle war wiederum das Dürersche Werk, u. a. auch der schon erwähnte Kupferstich von 1516. Aldegrever fügte jetzt einen schmalen Landschaftsausschnitt hinzu. Dieses kompositorische Mittel und die Untersicht heben die Madonna monumental hervor. Mit der Krone entspricht sie ebenfalls dem Typus der Himmelskönigin und, wie in dem Blatt von 1527, auch dem der liebevollen Mutter: Sie hält den Jesusknaben in ihren Armen und beugt den Kopf zu ihm. Das Kind hält jetzt - wie auf Dürers Kupferstich - einen Apfel umklammert, eine Anspielung auf den Sündenfall und die Erlösung durch Christi Opfertod. Zugleich ist der Apfel aber auch ein Hinweis auf das mittelalterliche Verständnis von Maria als der neuen Eva, durch die der Erlöser in die Welt kam. Ähnlich einer anderen Dürerschen Madonna [72] wirkt Maria hier in sich gekehrt, so als ob sie vor ihrem geistigen Auge den späteren Leidensweg ihres Sohnes erschaut.

Der Vergleich der frühen mit der späten Arbeit Aldegrevers macht deutlich, wie sehr er über seine ganze Schaffenszeit seinem künstlerischen Vorbild Albrecht Dürer treu blieb und diese Treue sogar vorreformatorische (katholische) Bildinhalte bei einem eher protestantischen Künstler duldete.

1527 schuf Aldegrever ein weiteres Marienbild, welches die Muttergottes unter einem Baum und auf einer Steinbank zeigt (Kat. Nr. 64). [73] In den Armen hält sie das Jesuskind. Sie schaut frontal zum Betrachter, während Jesus schräg an ihr vorbeischaut, so dass beide keinen Blickkontakt haben. Auf dem Kopf trägt sie die Sternenkrone, Zeichen ihrer Würde als Himmelskönigin. Jesus ist durch einen kreuzförmigen Heiligenschein gekennzeichnet. Die fehlende Interaktion zwischen Mutter und Kind verstärkt den Eindruck von Ruhe und Würde der sitzenden Madonna.
 
 
Entfernt erinnert das Blatt an Dürers "Maria mit dem Kind am Baum" (1513). [74] Allerdings kommt Aldegrever hier zu einer durchaus eigenständigen Komposition. Diese Darstellungsart, von der auch Dürer und andere Kupferstecher mehrere Blätter schufen, gehört zum Typ der Andachtsbilder, die sich seit dem 14. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten und mehr die gefühlsbetonte Seite des heiligen Geschehens zur Anschauung brachten. Dürer und seine Zeitgenossen nutzten die Vervielfältigungsmöglichkeiten des Kupferstiches, um die beliebten Motive in höheren Auflagen zu verbreiten.

Ebenfalls 1553 stach Aldegrever das Motiv neu (Kat. Nr. 66). [75] Auch hier sitzt Maria auf der Rasenbank und hält den Jesusknaben in ihren Armen. Die weiße Lilie in der Vase neben ihr ist das Symbol der Reinheit und auf die unbefleckte Empfängnis Marias bezogen. Es war schon in vorreformatorischer Zeit ein weitverbreitetes Mariensymbol.

Trotz des Rückgriffs auf die mittelalterliche Blumensymbolik unterscheidet sich dieses Blatt von dem früheren: Maria und Christus besitzen keinen Heiligenschein. Nur auf den ersten Blick scheint auch dieses an katholische Andachtsbilder zu erinnern. Die evangelische Bildkunst betonte in den Mariendarstellungen weniger die Himmelskönigin als die vorbildliche Mutter und sorgende Hausfrau. Auch Luther besaß in seinem Arbeitszimmer ein Bild Marias mit dem Jesuskind. Es diente ihm zur Veranschaulichung der Menschwerdung Christi und der göttlichen Gnade. Maria wird hier nicht im katholischen Sinne als Fürbitterin und Gnadenstifterin gesehen, sondern als Person, die selbst göttliche Gnade empfangen hat.
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Bei einem anderen Blatt seines Spätwerkes nimmt Aldegrever wiederum vorreformatorisches Gedankengut auf: In der "Verkündigung" von 1553 (Kat. Nr. 61) [76] ist ein Holzschnitt Dürers aus der "Kleinen Holzschnittpassion" von 1510 Vorbild. [77] Allerdings reicherte Aldegrever seine eigene Komposition mit so viel Details an, dass sie überladen wirkt.

Der Engel nähert sich von hinten Maria. In der rechten Hand trägt er als sein Zeichen der göttlichen Sendung den Lilienstab. Mit der linken weist er auf die Taube des Heiligen Geistes und auf Gottvater in den Wolken. Maria kniet vor einem Betpult und liest in einem Buch, welches in mittelalterlicher Symboltradition ihre Weisheit betont. Ihre Hände sind wie zum Gebet erhoben, so als ob sie die Ankunft des Engels noch nicht bemerkt habe.

Auch die anderen Symbole gehören in den mittelalterlichen Bildkanon: Spiegel, Wasserkaraffe und vor allem die Lilie stehen für die Reinheit Marias und die Jungfrauengeburt, der Betthimmel für Maria als himmlische Braut. Die ruinöse und die neue Kirche im Hintergrund, die man durch eine Fensteröffnung sieht, verdeutlichen die Antithese von Judentum und Christentum, von altem und neuem Bund.
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Auch wenn Aldegrever hier die mittelalterliche Mariensymbolik aufgreift, so waren Verkündigungsdarstellungen in der protestantischen Kunst nicht unüblich. Auf den entscheidenden Unterschied zu Bildern katholischen Glaubensinhaltes wies Georg Rhau in seinem, "Lustgärtlein der Seelen" von 1548 hin: In dem Kapitel "Vom anruffen der Heiligen" ist ebenfalls eine Verkündigungsszene abgebildet. [778] Der nebenstehende Text betont, dass Maria nicht als Fürbitterin angebetet werden solle. Sie sei nicht mit göttlicher Macht ausgestattet, sondern habe als Empfängerin der göttlichen Gnade selbst Erlösung gefunden. Der Glaube ließ Maria die Botschaft des Engels annehmen, wie Luther hervorhob. Sie war für ihn ein Beispiel für die alleinige Wirksamkeit der göttlichen Gnade ohne Zutun des Menschen. [79] Aldegrevers Maria hat, gemäß dem Dürerschen Vorbild, den Kopf demutsvoll geneigt und bringt damit ihre Ergebenheit in Gottes Willen zum Ausdruck. Eine solche Darstellung war sicherlich von beiden Konfessionen zu billigen.
 
 
 
Auch in der "Der Geburt Christi" (Kat. Nr. 62) [80] bemühte Aldegrever vorreformatorische Bildtraditionen. Im Mittelpunkt der Komposition sitzt das Christkind auf einem mit Stroh und einer Decke gepolsterten Stein und wird von einem Engel mit zwei weiteren gestützt. Links kniet Maria und kreuzt voller Verehrung für Gottes Sohn die Hände vor der Brust. Diese Haltung geht zurück auf die Visionen der Brigitta von Schweden, die sie kurz vor ihrem Tode 1373 niederschrieb. Joseph mit der Kerze in der Hand ist ebenfalls aus den Visionen entnommen: Brigitta von Schweden beschrieb die Geburt Jesu als ein ungeheures Lichtereignis, das alles, auch die Kerze Josefs, überstrahlte.

Die zwei Hirten, die das Kind anbeten, der halbzerfallene Stall mit Ochs und Esel, der Engel im Hintergrund, welcher die frohe Botschaft einem Hirten mit Schafen verkündet und auch der tanzende Engelreigen über dem Stall stehen in der mittelalterlichen Bildtradition. Eine ruinöse Architektur mit einem vom Bildrand abgeschnittenen Bogen rahmt die Szenerie und gibt den Ausblick in die Landschaft frei. Durch die diagonale Anordnung der Architektur und auch der drei Figurengruppen (Maria und Joseph, das Christuskind mit den Engeln, und- hintereinander angeordnet- die beiden Hirten) sowie den Ausblick in die Landschaft entsteht eine starke Betonung des perspektivischen Tiefenraumes. Die Schattenzone der Architektur kontrastiert dabei mit den beleuchteten Partien der Figuren und verstärkt die Raumwirkung.
  (Kat. 62)
 
 
Aldegrever übernimmt auch in diesem Kupferstich Anregungen aus dem Werk Albrecht Dürers. [81] Die räumliche Einbindung der Figurengruppen, die Raumdarstellung sowie die Licht und Schatten - Modulation lassen dies Blatt als eines der reifsten des Spätwerkes erscheinen.

Ein weiterer Kupferstich mit der Kreuzigungsszene, ebenfalls von 1553 (Kat. Nr. 63), [82] nimmt zwar ein durch die Tradition vorgeprägtes Hauptthema der christlichen Kunst auf, doch sind hier entscheidende Änderungen zu vermerken, welche auf die lutherische Kreuztheologie hinweisen.

Die Gesamtkomposition geht auf ältere, vorreformatorische Bildtraditionen zurück. Gezeigt wird der leidende Christus im Moment seines Hinscheidens. Maria und Johannes haben die Hände gefaltet. Maria Magdalena kniet unten am Kreuz. Gegenüber der in sich gekehrten Maria und dem still trauernden Johannes zeigt Aldegrever diese vom Schmerz aufgewühlt. Links und rechts am Bildrand sind zwei klagende Frauen angedeutet, die auch in die Tradition der Kreuzigungsdarstellungen gehören. Die Gebeine und der Totenschädel unter dem Kreuz weisen nicht nur auf Golgatha, die Schädelstätte, sondern sind nach einer mittelalterlichen Überlieferung Hinweis darauf, dass das Kreuz Christi sich über dem Grab Adams erhob - in Christus also der Überwinder von Tod und Sünde zu sehen ist.
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Aldegrever übernahm hier Anregungen aus dem Werk von Hans Brosamer, Georg Pencz und Albrecht Dürer. [83] Auch in der protestantischen Kunst war die Darstellung der Kreuzigung verbreitet. Allerdings trat die vorreformatorische Auffassung von Maria und Johannes als Fürbitter zurück. Luther verstand das Bild des Gekreuzigten als einen befreienden Anruf an die Menschen, die durch Christi Opfertod erlöst werden und im Vertrauen auf ihn als alleinigen Fürsprecher seinem Beispiel folgen sollen. So sind die gefalteten Hände von Maria und Johannes weniger als Geste der Fürbitte, sondern als Aufforderung zum Beten zu verstehen. Auf dieses Verständnis der Kreuzigungsdarstellungen weisen auch die Inschriften hin. [84] Sie bezeugen, dass die Erlösung des Sünders allein aus dem Glauben an den gekreuzigten Christus erfolgen wird. Damit illustriert diese Kreuzigung die lutherische Rechtfertigungslehre.

Die hier zuletzt aufgeführten Bildbeispiele machen deutlich, wie sehr in vielen Blättern Aldegrevers mittelalterliche Bildtraditionen und reformatorisches Gedankengut noch miteinander verwoben sind, ohne sich feindselig gegenüberzustehen. Darin liegt der Unterschied zu den Kupferstichen, die im vorigen Kapitel vorgestellt wurden. Denn diese ließen in unterschiedlicher Deutlichkeit die protestantische Gesinnung des Künstlers erkennen. Aber bis auf die beiden Kampfblätter "Mönch und Nonne" und in gewisser Weise auch den "Totentanz" sind seine "protestantischen" Kupferstiche eher leise Zeugen des neuen Glaubens. Die eingangs aufgeführten antikatholischen Flugblätter, welche die römische Kirche lautstark attackierten und mit ihrer Propaganda Städte und Dörfer überschwemmten, finden sich in Aldegrevers Werk nicht. Das liegt nicht allein an Aldegrevers Bevorzugung der Kupferstichtechnik, die aufwendiger und zeitraubender war als die des Holzschnitts, der sich besser für die schnell verbreiteten Flugschriften eignete. Auch die wenigen bekannten Holzschnitte Aldegrevers lassen kämpferische Themen vermissen.

Man wird Aldegrever sicherlich nicht nachsagen können, er sei ein passiver Beobachter der Ereignisse um ihn herum gewesen. Die wenigen biographischen Quellenaussagen sprechen eher für eine aktive Teilnahme am reformatorischen Umschwung in Soest. Andererseits waren seine künstlerischen Interessen so weitgespannt, dass antikatholische oder proprotestantische Themen eben nur einen Teil seines Werkes ausmachen. Es drängt sich die Vermutung auf, dass seine künstlerischen Beweggründe Vorrang vor konfessionellen Fragen besaßen. An erster Stelle ist hier sicherlich die Vorbildfunktion des Dürerschen Werks zu sehen, welches großenteils vor der Reformation entstand. Aldegrever ließ sich bis in sein Spätwerk von Dürerschen Kompositionen anregen - und übernahm damit zwangsläufig und wohl ohne Bedenken ältere Bildtraditionen. Andererseits lässt sich diese Kontinuität "katholischer" Motive im Werk Aldegrevers auch mit der frühen Phase der Reformation erklären, in der sein Werk entstand. Eine protestantische Kunst, wie sie sich in den ersten lutherischen Lehrbildern von "Gesetz und Gnade" abzeichnete, war gerade erst im Entstehen.

Aldegrevers Werk spiegelt protestantisches Gedankengut und an manchen Stellen bläst er zum Angriff auf die römische Kirche. Aber neben den religiösen Bildern gibt es eine Vielzahl von Themen aus den antiken oder den damals gerade populären Themenkreisen. Hinzu kommen seine ornamentalen Kupferstiche, die als Vorlagenblätter für das Kunsthandwerk dienten. Auch erzählte Aldegrever seine alttestamentarischen Geschichten eher wie Heldensagen aus der Antike, so dass die biblische Botschaft zurück tritt. Auf dem Hintergrund der damaligen vehementen konfessionellen Auseinandersetzungen erscheint Aldegrevers religiöse Kunst die eines gemäßigten Protestanten zu sein, der sich aus künstlerischen Gründen nicht scheute, auf ältere Bildinhalte zurückzugreifen.
 
 
 



Anmerkungen

[68] Hans Weiditz (?): Die Mildtätigkeit des Reichen. 1531 (Abb.: Ausst. Kat. Hamburg 1983, Nr. 111).
[69] 1527, B. 51. Maria auf der Mondsichel mit dem Jesuskind. Zschelletzschky 1933, S. 28-32.
[70] Knappe 1964, 85.
[71] B 50. Madonna auf der Mondsichel. Zschelletzschky 1933, S. 130f.
[72] Mondsichel-Madonna von 1514 (Knappe 1964, 78).
[73] 1527, B 55. Maria mit dem Kind unter einem Baum. Zschelletzschky 1933, S. 32.
[74] Knappe 1964, 70.
[75] B 52. Sitzende Madonna. Zschelletzschky 1933, S. 131f.
[76] B 38.
[77] Knappe 1964, 257; Zschelletzschky 1933, S. 123-127.
[78] Abb. in: Ausst. Kat. Nürnberg 1983, Nr. 479.
[79] Ebda. S. 360.
[80] 1553, B 39. Zschelletzschky 1933, S. 127-130.
[81] "Die Geburt Christi" aus der kleinen Holzschnittpassion, um 1510; "Anbetung der Hirten" aus dem "Marienleben", um 1503; "Geburt Christi", Kupferstich, 1504 (Knappe 1964, 235, 258, 42)
[82] B 49. Zschelletzschky 1933, S. 132; Stichel 1993, S. 580f.
[83] Hans Brosamer: Kreuzigung. Kupferstich von 1542; Georg Pencz: Christus am Kreuz. Kupferstich von 1547; Dürers Kreuzigungsszene aus der Kupferstichpassion von 1511.
[84] Inschrift oben links: So spricht der Herr: Wende dich zu mir, denn ich hab dich erlöst. (Jesaja 44). Inschrift oben rechts: Jeder, der lebt und glaubt an mich, wird nicht sterben in Ewigkeit. (Johannes 11). Inschrift unten: Denn ich hielt nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten. (1. Kor. 2,2, Übersetzungen: Fink 1972, S. 100).