QUELLE

DATUM1912   Suche   Suche DWUD
URHEBER/AUSSTELLERSellmann, Adolf
TITEL/REGESTDas Geheimnis des Kinos
TEXTDas Geheimnis des Kinos

Wohl keine Erfindung der Gegenwart macht in gleichem Maße von sich reden wie der Kino, in der Tagespresse wie im Tagesgespräch. Überall schießen neue Kinos auf, wie Pilze über Nacht. Das Nachtbild unserer Großstädte kann man sich ohne die lichtumstrahlten Portale der Lichtspielhäuser nicht mehr denken. Aber nicht bloß das Volk drängt sich zu der "engen Gnadenpforte". Auch der Gebildete, auch die Wissenschaft und Schule, Staat, Stadt- und Landgemeinde haben die kulturelle Bedeutung des Kinos begriffen und treten der Ausnutzung und Gründung von Kinos näher. Wer wollte auch dieser brennenden Frage gleichgültig zuschauen?

Indes vor allem wichtig ist: Wie können die Gefahren, die unserm Volke noch von so manchen Kinos drohen, abgewehrt werden? Wie kann die lebende Photographie im Interesse wahrer Volksbildung nutzbar gemacht werden? Diese schwierige Frage tritt vor allem auch vor unsere städtischen und staatlichen Behörden.

So wie heute darf es nicht bleiben. Die Kinos stecken noch viel zu sehr im Jahrmarktsrummel und in der Schaubundenmanier. Sie bieten noch viel zu viel Schund und Albernheit. Um so mehr muß man sich wundern, daß trotz alledem die Kinos sich im Schnellzugstempo verbreitet haben. Ja sogar das eigentliche Theater stark gefährdeten. Müssen wir uns da nicht fragen: Wie kommt es, daß der Kino so weite und so schnelle Verbreitung finden konnte? Welches ist das Geheimnis seines Erfolges, seiner ungeheuren Beliebtheit? Versuchen wir die Antwort.

Das Bild, die Illustration, hat zu allen Zeiten einen großen Reiz auf die Menschen ausgeübt. Das Auge ist besonders bildungshungrig und läßt sich gerne fesseln. Die Belehrung durch das Auge ist besonders klar und anschaulich. Ein klassischer Zeuge für diese Behauptung ist schon Aristoteles, der im Anfange seiner Metaphysik schreibt: "Der Drang nach Erkenntnis ist allen Menschen angeboren. Das zeigt sich in der Freude am sinnlichen Wahrnehmen. Dieses nämlich wird, auch abgesehen von Nutzen und Bedürfnis, um seiner selbst willen geschätzt, und am meisten vor allem das Wahrnehmen durch den Gesichtssinn. Denn nicht nur zu praktischen Zwecken, sondern auch ohne jede derartige Rücksicht haben wir die Gesichtswahrnehmung im großen und ganzen lieber als jede andere, und zwar deshalb, weil gerade sie den Gegenstand am deutlichsten erkennen läßt und zahlreiche unterschiedene Beschaffenheiten an ihm enthüllt." Diese Beliebtheit der Gesichtswahrnehmung gilt schon vom Bild im allgemeinen. In ganz besonderer Weise ist jedoch der Reiz der "lebenden Photographien" bestrickend und fesselnd. Die Phantasie wird durch den steten Wechsel außerordentlich beschwingt und befeuert. Sobald der Lichtschirm aufblitzt, versinkt alles umher in dunkle Nacht. Gierig heften sich alle Augen auf das vorüberhuschende lebende Bild. Und eilig muß der Geist die Zusammenhänge des rasch Geschauten zusammenketten. Uns allen erging's wohl so, daß schon das vom gewöhnlichen Lichtbild begleitete Wort uns weit mehr fesselte und in seinen Bann zog als die bloße Rede. Um wieviel mehr der Film, das "lebende Bild", erst recht bei der Jugend und dem Volke. Sie waren von Anfang an die Kerntruppe des Kinopublikums, und zwar vielfach in einem Maße, daß der Besuch des Kinos für manche zur Gewohnheit wurde, daß man mit Fug und Recht schon von einer Leidenschaft, von einer "Kinoepidemie" sprechen kann.

Hierzu kommt, daß man im Theater pünktlich zu einer bestimmten Zeit eintreffen muß. In das Kinematographentheater kann man jederzeit eintreten und auch jederzeit es wieder verlassen. Das behagt dem modernen Menschen. Diese Losgebundenheit von der Zeit, dies Sichgehenlassen, wo wir sonst vom Morgen bis zum Abend Knechte der Uhr sind.

Im Theater muß ich mich durchweg geistig mehr anstrengen. Ich muß auf die Worte achten und auf die Gedanken, die einem oft in sehr knapper, scharfgeschliffener Form entgegentreten. Eine solch straffe Gedankenspannung ist vor der Lichtbühne nicht nötig. Vor allem arbeitet hier das Auge. Mit ihm fange ich mühelos die Bewegungen, das Mienenspiel und die Gesten ein. Und mühelos geht mir auch der Sinn der Flimmerjagd ein. Überhaupt schon ist angestrengtes Nachdenken nicht jedermanns Ding. Aber auch ohnedem: wer will es dem abgehetzten Alltagsmenschen von heute, wer will es besonders dem in Handarbeit fronenden Volke verargen, wenn es nach saurer, abstumpfender Arbeit im Kino entspannende Unterhaltung sucht?

Im Theater wird ferner eine einheitliche Grundidee dargestellt. Meistens durchzieht das ganze Stück eine einheitliche Grundstimmung: eine lustige im Lustspiel, eine traurige im Trauerspiel. Im Lichtspieltheater dagegen huscht ein Kunterbunt am Auge vorüber: Lustiges und Ernstes, Belehrendes und Unterhaltendes, Nahes und Fernes, Vergangenes und Gegenwärtiges. Diese optischen Potpurris begleiten Klänge des Klaviers oder des Grammophons, vielleicht auch die erklärenden Worte des Rezitators oder das schallende Gelächter des Publikums, das Echo der humoristischen Schlager. Kurz, es wird hier nach dem Rezepte verfahren: "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen."

Im Kino herrscht die Sprache der Geste, der Bewegung, der Mimik, der Pantomimik. Die Worte des Rezitators sind an und für sich nicht nötig, sind nebensächlich, dienen nur dazu, die Sache dem Publikum noch verständlicher zu machen. Diese Gebärdensprache geht jedermann ein: dem Gebildeten und dem Analphabeten, dem normalen Menschen und dem Taubstummen, dem Europäer, Türken, Armenier und Indier. Dieses Gebärdenvolapük hat den Kino weit hinaus vordringen lassen bis an die Peripherie der Kultur, ja bis zu den Wilden. Die malaiischen und chinesischen Kulis sollen zu den begeistertsten Besuchern der Kinos gehören. So siegt über alle nationalen Sprachen die internationale Sprache der Geste. So können die Filme vom Rheinstrom mit demselben Verständnis am Bosporus und am Ganges oder am Nil genossen werden. Und so stürmte die Lichtbühne in raschem Siegeslaufe über den Erdball, konnte die Filmindustrie von vornherein sagen: Mein Feld ist die Welt.

Auch der Reiz der Neuheit half dem Kino in den Bügel, spornte ihn allerdings auch an zu überhastetem Ritt. Sechzehn Jahre erst ist er alt. Das ist noch ein unreifes Alter. Zu naseweis, in zu jugendlichem Übermut, in zu kecker Eroberungslust tritt er alle Schranken nieder, sprengte er in ästhetische und literarische Gebiete ein, die der eigentlichen Kunst heiliges Land sind. Er wird bald großjährig. Und dann wird er auch besonnener werden, ist es vielfach schon jetzt. Helfen wir alle ihm in guter Kameradschaftlichkeit zu diesem Ziele. Noch immer heften sich allzusehr Privatspekulation und Masseninstinkt, Sensation und Schaubudenreklame an seine Ferse. Möge bald in dem hin und her wogenden Kampfe der Siegesruf erschallen: Der Schundfilm ist tot, es lebe der Kino!


QUELLE     | Bild und Film | 1. Jg., Heft 3/4, S. 65-67


SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ1.3   Einzelquelle (in Volltext/Regestenform)
Zeit3.9   1900-1949
Sachgebiet14.14   Film, Kino
DATUM AUFNAHME2004-05-10
AUFRUFE GESAMT2696
AUFRUFE IM MONAT147