QUELLE

DATUM1875-04-29   Suche   Suche DWUD
AUSSTELLUNGSORTBerlin
TITEL/REGESTBericht des preußischen Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten "über die Petition des Verbands der Glasindustriellen Deutschlands, die auf die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter bezüglichen Bestimmungen der Gewerbeordnung zu Gunsten der Glasindustrie abzuändern"
TEXT[S. 1] Berlin, den 29. April 1875
Handelsministerium

Der Verband der Glasindustriellen Deutschlands hat in einer an den Bundesrath gerichteten Petition den Antrag gestellt, die auf die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter bezüglichen Bestimmungen der Gewerbeordnung zu Gunsten der Glasindustrie abzuändern. Zur Begründung dieses Antrages wird geltend gemacht, daß die Durchführung jener Bestimmungen die fernere Concurrenzfähigkeit der deutschen Glasindustrie gegenüber der ausländischen unmöglich machen würde. Im Einzelnen wird diese Behauptung durch nachfolgende Ausführungen unterstützt:

Der jüngeren Arbeiter bedürfen wir nämlich unumgänglich zur Glasfabrikation, insbesondere zur Fabrikation der feineren Sorten, wie namentlich für Weißglas, Halbcrystall und Crystallglas. Die jüngeren Glasmacher sind, wie dies eben in ihrem Alter liegt, zu den ihnen obliegenden Vorarbeiten und leichteren Handleistungen geschickter als die Älteren, andererseits können ältere Glasmacher anderweit besser verwendet werden, es würde daher der ihnen zu zahlende Lohn für die leichteren Arbeiten unverhältnismäßig zu hoch sein.

Ferner bringt es die Glasfabrikation mit sich, daß ununterbrochen gearbeitet wird, die Arbeitszeit kann also nicht auf die Zeit zwischen 5 1/2 Uhr Morgens und 8 1/2 Uhr Abends beschränkt werden namentlich auch nicht für die unter 16 Jahre alten Glasmacher und ist ebenso eine unterschiedliche Bedingung bei Erzeugung der gewöhnlichen oder feineren Glassorten.

[S. 2] Es sei erlaubt die Verschiedenheit der Fabrikation hier zu berühren.

In der Glashütte wird entweder mit offenen Häfen, zur Herstellung von Flaschenglas und Tafelglas oder mit geschlossenen Häfen, zur Herstellung von Weißglas, Halbcrystall und Crystallglas, gearbeitet. Bei ersteren wird abwechselnd geschmolzen und gearbeitet. Es muß erst sämmtliches Material geschmolzen und darauf die Temperatur zurückgegangen sein, bevor gearbeitet werden kann.

Es müssen also die Häfen ununterbrochen aufgearbeitet werden, die Zeiten des Schmelzens und des Ausarbeitens sind nun aber nie gleichmäßig, vielmehr stets theils durch die Menge des Materials, theils durch die Größe des zu liefernden Productes verschieden, und finden in je einer Woche gewöhnlich 5 Schmelzen und 5 Ausarbeitungen statt. Letztere 5 Arbeitsschichten werden daher naturgemäß zu verschiedenen Stunden anfangen und endigen; insbesondere wird ein Theil derselben in die Zeit zwischen 8 1/2 Uhr Abends und 5 1/2 Uhr Morgens fallen, während welcher also “jugendliche Arbeiter“ nicht beschäftigt werden sollen. Es würden diese also somit überhaupt nicht in Glashütten mit offenen Häfen arbeiten können.

Bei Oefen mit geschlossenen Häfen, welche zur Herstellung von Weiß- und Crystallglas dienen, erfolgt das Schmelzen ebenso wie das Ausarbeiten successive. In Folge dessen ist hier eine Abwechslung zwischen Schmelzen und Arbeitsschichten nicht mögliche, sondern muß die Ausarbeitung des allmählich [S. 3] nachschmelzenden Glases ununterbrochen erfolgen. Ein Stillstand hierbei würde den ganzen Hafen untauglich machen. Es wechseln daher Arbeitsschichten unmittelbar miteinander ab, und zwar in der Eintheilung von 12 Uhr Nachts bis 12 Uhr mittags und von da bis 12 Uhr Nachts, so zwar, daß diese Schichten zwischen den Glasmachern wochenweise wechseln.

Da nun bei dieser Fabrikation die feinsten Glassorten hergestellt werden, daher auch hierbei die meisten kleineren Arbeiten und Handleistungen, mithin die meisten jugendlichen Glasmacher nöthig sind so werden solche hier stets des Nachts beschäftigt werten müssen oder es könnten solche überhaupt gar nicht beschäftigt werden.

Ein Schichtenwechsel etwa in der Weise, daß von 7 Uhr Abends bis 7 Uhr Morgens gewechselt würde, so daß etwa zur Tagesschicht ausschließlich jungendliche Glasmacher unter 16 Jahren verwendet werden könnten, ist practisch schon aus Gesundheitsrücksichten unausführbar, und es bleibt also, um auf dem Boden des Gesetzes zu stehen, nichts übrig, als die Oefen nicht auszunutzen und entweder nur am Tage zu arbeiten oder nur so viele Glasmacher in Schichten wechseln zu lassen, als man gerade mit Jungen im Alter von über 16 Jahren versehen kann.

Welch immenser Nachtheil dadurch dem Glasindustriellen erwächst, mag durch folgende Berechnung näher gezeigt werden.

[...]

[S. 7] Das nachgewiesene Mißverhältnis wächst aber noch dadurch, daß unsere Glasindustrie sich in der unerhörten Lage befindet, neue Verbesserungen in der Anlage von Feuerungen nicht benutzen zu können, währen auf die Erzielung einer schnelleren Schmelze als die bisher gewohnte unsere ausländische Concurrenz unter Berücksichtigung jedes Fortschritts der Wissenschaft ihr Hauptaugenmerk richtet und alle derartigen Verbesserungen ausnützt. Wir können, dürfen respective unsere Oefen schon jetzt nicht ausnützen und sind gezwungen, bei unseren Einrichtungen stehen zu bleiben.

Wenn wir also in der inländischen Industrie Beschränkungen unterliegen, welche es im Ausland nicht gibt, so steigt die Glasindustrie des letzteren auf Kosten der unsrigen und nur durch diese uns ungünstigen Verhältnisse ist es gekommen, daß die böhmische Glasindustrie, welche von uns vollständig überflügelt war und am Boden lag, sich wieder emporgeschwungen hat.

Aber nicht nur für die Preise wirken die auf die Mehrzahl angewendeten Bestimmungen der Gewerbeordnung erdrückend, sondern für die Industrie überhaupt. [S. 8] Wenn Glasmacherlehrlinge unter 16 Jahren nicht zur Nachtarbeit verwendet werden dürfen, so können wir wegen des unausgesetzten Betriebes überhaupt Glasmacherlehrlinge erst vom 16. Jahre ab nehmen. Die Folge davon würde sein, daß sich dieselben erst mit dem 16. Jahre ihrem Gewerbe zuwenden könnten. Nun entschließt sich aber jeder, der ein Handwerk erlernen will, dazu bereits mit dem 14. Jahre: niemand wartet damit bis zum 16. Jahre, niemand wählt also ein Gewerbe, in das er erst mit dem 16. Jahre eintreten kann, wenn er nicht besondere Neigung dazu hat oder besondere Verhältnisse ihn dazu drängen. Ferner dürfte es an sich schon kaum verlockend sein, erst mit dem zurückgelegten 16. Jahre ein Gewerbe zu ergreifen, in welchem man noch 5 Jahre zu lernen hat und worin die Militärzeit noch eine Unterbrechung machen kann, in welchem man endlich noch Lehrling in einem Alter ist, wo man als Handarbeiter viel mehr verdienen könnte.

Hierdurch werden unserer Industrie die Arbeitskräfte entzogen, leider freilich zum Nachtheile dieser selbst, aber sicherlich auch zum Nachtheil der arbeitenden Klasse.

Die Beschäftigung des Einträgers besteht vorzugsweise wie der Ausdruck besagt, im Eintragen der vom Glasmacher und dessen Gehilfen angefertigten Glaswaaren in den Kühlofen; außerdem in verschiedenen Handreichungen, ferner im Zuhalten und Schmieren der Formen, im Kaltstellen und Warmlegen der Pfeifen etc. Die Hauptleistung besteht jedoch im Laufen und in schnellen, gewandten Bewegungen, zu denen sich Knaben, namentlich solche von 12 bis 14 Jahren, vorzugsweise eignen.

[S. 9] Diese der körperlichen Entwicklung der Knaben besonders zuträgliche Arbeit findet indeß keineswegs in einem engen Fabrikraum, sondern in einer hohen, gut ventilierten, meist offenen Halle statt. Es kann deshalb auch statistisch leicht nachgewiesen werden, daß [die] Glasmacher zu der allergesundesten Classe von Handwerkern gehören.

Manche Hütten bilden hiervon allerdings eine Ausnahme, indem durch übergroße und falsche angebrachte oeconomia manche Besitzer ihre Hütten zu eng und niedrig anlegen, und es hätten die Behörden auch in diesem Falle allerdings ein vorzügliches Feld, für die Gesundheit der Arbeiter und ie Entwicklung der Kinder zu sorgen.

Die oben beschriebenen Leistungen der Lehrlinge haben dabei noch den besonderen Vortheil, daß dieselben durch sie zu körperlich äußerst tüchtigen und gewandten Leuten ausgebildet werden, wie dies ja auch das Glasmachergewerbe besonders erfordert. Außerdem gewöhnt es die Leute frühzeitig an den Ofen und an den Umgang mit Feuer, was jedenfalls sehr nötig und auch leicht für Knaben ist, und dieselben somit für ihr Gewerbe besonderns vorbereitet und ihnen die Arbeit für spätere Zeiten leicht und angenehm macht. Aeltere Leute gewöhnen sich schwer an das Feuer und halten selten dabei aus.

Das Ideal eines Glasmachers würde demnach ein Mensch sein, welcher auf der Hütte geboren und am Ofen groß geworden wäre. Ein solcher Mensch entwickelt sich, wie erfahrungsmäßig nachzuweisen ist, [S. 10] zwar zu einem etwas leidenschaftlichen, aber gesunden, zähen und sehr gewandten Individuum, fühlt sich wohl in seiner Stellung und wechselt dieselbe um keinen Preis.

Dagegen wird eine in späteren Jahren zum Glasmachergewerbe herangezogenen Person sicher eine traurige Rolle spielen, indem er bei geringen Verdienst ein ihm unliebsames und körperlich nicht zusagendes Gewerbe betreibt.

Die Tatsachen lehren ferner zur genüge, und sind wohl auch allgemein anerkannt, daß die Grundlage einer blühenden Glasindustrie in der Anwesenheit einer eingebürgerten Glasmacherbevölkerung besteht, welche aber sicher durch andauernde Handhabung der betreffenden Paragraphen der Gewerbeordnung vernichtet werden dürfte, und somit würde dann das Gewerbe überhaupt an seiner empfindlichsten und verwundbarsten Seite getroffen werden.

Sollte es sich aber trotz alledem herausgestellt haben, daß die physische und moralische Beschaffenheit der Glasmacher den militairischen und anderen Ansprüchen nicht genügen sollte, so haben wir weiter oben darauf hingewiesen, wie durch Verbesserung der Hüttenanlagen, ferner durch Verringerung der Arbeitszeit der Kinder auf eine halbe Schicht und Errichtung von Hüttenschulen auf rationelle Weise einzugreifen ist. Die Vernichtung des ganzen Standes wird zwar ein einfaches Mittel sein, die Frage gründlich zu beseitigen, dürfte aber wohl nicht in der Absicht der Gesetzgeber gelegen haben. Umsoweniger als von dem [S. 11] Gedeihen und der Entwicklung der Glashütten so zahlreiche und wichtige andere Gewerbe, wie nachstehend auseinandergesetzt, in directe Mitleidenschaft gezogen werden.

Es fehlt in der Folge obiger Bestimmung leider auch in der That bereits der Glasindustrie an Arbeitskräften.

Wir können nicht mehr so viele deutsche Glasmacher erlangen, als die Glashütten gebrauchen, wir müssen also Glasmacher aus dem Auslande, namentlich Böhmen, nehmen, und dies gereicht gewiß nicht der einheimischen Industrie zum Vortheil [...] Und es ist mit Sicherheit vorauszusagen, daß der Mangel an Arbeitskräften täglich fühlbarer werden wird.

Die Glasindustrie Deutschlands, welche jetzt in 410 Glashütten-Etablissements mit etwa 800 Oefen und 40 bis 45 000 Arbeitern und Nebenarbeitern betrieben wird, muß demnach dem eben angedeuteten vollständigen Verfall in kürzester Zeit entgegengehen, wenn die drückenden Bestimmungen der Gewerbeordnung § 127 u. flg. auf dieselbe Anwendung finden sollen, während die concurrierenden Glashütten des Auslandes denselben Beschränkungen nicht unterliegen.

Daß die Durchführung der gesetzlichen Bestimmungen da, wo solche früher nicht bestanden haben oder nicht streng gehandhabt worden sind, der Glasindustrie beschwerlich fällt, ist wohl anzunehmen. Allein mehr oder weniger ist [S. 12] dies in jedem, von jenen Bestimmungen betroffenen Gewerbe der Fall und gegenüber den wichtigen Interessen, welche sich an die Schonung und Pflege der Arbeiterjugend knüpfen, wird auf eine Abänderung des Gesetzes zu Gunsten eines Industriezweiges um so schwerer eingegangen werden können, als die in der Enquete über Frauen- und Kinderarbeit erörterten Gesichtspunkte mehr einer Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen zugewandt sind und ein, wenn auch nur theilweises Eingehen auf die Wünsche der Glasindustriellen schwer abweisbare Folgerungen für andere Gewerbe gezogen werden dürften.

Wenn es sich dennoch mit Rücksicht darauf, daß die Anträge der Glasindustriellen, wenn auch vielleicht in veränderter Gestalt, voraussichtlich weiter werden verfolgt werden, nicht vermeiden läßt, die aufgestellten Behauptungen an der Hand der thatsächlichen Verhältnisse einer näheren Prüfung zu unterziehen, so wird eine solche doch von vorn herein nur darauf zu richten sein, ob und in wie weit die Anwendung der fraglichen Bestimmungen den erfolgreichen Betrieb und die Entwicklung der Glasindustrie nicht nur erschwert, sondern wirklich verhindert, und ob die dadurch geschädigten privat- und volkswirthschaftlichen Interessen von größerer Bedeutung sind, als die sozialen Interessen, welche zu schützen das Gesetz bestimmt ist.

[...]

[S. 15] Schließlich mache ich die Königliche Regierung noch darauf aufmerksam, daß bei dem Standpunkte, welchen das Reich und die königliche Regierung zu der vorliegenden Frage einnimmt, eine vorsichtige Behandlung der ganzen Angelegenheit gewünscht werden muß, und daß daher namentlich bei den etwa noch anzustellenden Ermittlungen thunlichst alles zu vermeiden ist, was bei den Glas-Industriellen die Hoffnung auf eine Berücksichtigung ihrer Wünsche begründen könnte.

Der Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten
[Unterschrift unleserlich]
ERLÄUTERUNGIm Mindener Raum entlang der Weser entstanden im 19. Jahrhundert etliche große Glashütten. In diesen Glashütten arbeiteten viele Kinder und Jugendliche. Sie gingen mit ihren Vätern mit und wurden von ihnen in das Glasmacherhandwerk eingewiesen. Meist arbeiteten sie als "Einträger", d. h. sie trugen die frisch geblasenen Gläser in die Kühlöfen.

Die Arbeitsbelastungen und deren Auswirkung auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen war teilweise besorgniserregend. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es deswegen erste Arbeitsschutzbestimmungen für Kinder, die allerdings vielfach von Unternehmern mit dem Hinweis auf die Produktionsabläufe kritisiert wurden.

Der vorliegende Bericht des Handelsministers greift eine solche Petition von Glasindustriellen auf. Um den Einsatz von Jugendlichen zu begründen, schildert er ausführlich die einzelnen Schritte der Glasherstellung und gibt somit ein anschauliches Bild der Produktion um 1875.


PROVENIENZ  Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe
BESTANDRegierung Minden, Gewerbe
SIGNATURM 1 I G Nr. 527


FORMALBESCHREIBUNGIn der Wiedergabe der Quelle ist eine längere Passage über Berechnungen für eine Glashütte in Ehrenfeld bei Köln ausgelassen.


SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ1.3   Einzelquelle (in Volltext/Regestenform)
Ort2.6.6   Minden, Stadt
4   Minden, Regierungsbezirk
Sachgebiet3.7   Regierung, Ministerien
6.8.15   Säuglinge, Kinder, Jugendliche
10.2   Wirtschaftsförderung, Wirtschaftspolitik, Gewerbepolitik
10.6.4   Arbeitgeberverbände
10.9.2   Arbeitswelt
10.17   Gewerbe, Dienstleistungen
DATUM AUFNAHME2004-03-31
AUFRUFE GESAMT2935
AUFRUFE IM MONAT278