TEXT | Einleitung
Iserlohn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Ein Überblick
Iserlohn gehört aufgrund naturräumlicher Voraussetzungen mit zu den ältesten Gewerbezentren Deutschlands. Drahtherstellung und Drahtverarbeitung waren dabei die bestimmenden Gewerbezweige; Iserlohner Panzerwaren wurden auf allen bekannten Märkten gehandelt. Den Umfang des Exports zeigt schließlich die Feststellung Johann H. zur Megedes in seinen um 1670 niedergeschriebenen Iserlohner Anmerkungen: "..., alßo daß kein Ort unter der Sonne wohin nicht Iserlöhnische Arbeit kommen zu finden ist." Diese Aussage muß sicherlich aus der zeitgenössischen Weltsicht verstanden werden. Auf der Grundlage der Drahtherstellung entwickelte sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Nadelindustrie. Diese prägte nach dem allmählichen Niedergang des Textilgewerbes neben der Bronzewarenindustrie die Wirtschaftsstruktur lserlohns bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts - die Nadelindustrie wurde zum Leitsektor der Industrialisierung in Iserlohn. An ihrem Beispiel läßt sich modellhaft der Übergang von der vorindustriellen, d. h. von der handwerklich-dezentralen zur industriell-zentralen Fertigung aufzeigen. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die überregionale Bedeutung lserlohns nicht zuletzt auch durch Iserlohner Kaufleute und die Eigentümer der eingesessenen Kommissionshäuser begründet wurde. Dem Handel oblag der Versand von Draht und weiteren Erzeugnissen der märkischen Region; gegen Ende des 18. Jahrhunderts übernahmen Iserlohner Handelshäuser auch den Versand von Produkten aus dem bergischen Raum.
Das bis 1850 zu beobachtende Wachstum in nahezu allen Produktionsbereichen wurde nach der Jahrhundertmitte immer wieder von krisenhaften Einbrüchen unterbrochen. Besonders im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mehrten sich neben den strukturellen Schwierigkeiten in verstärktem Maße die konjunkturellen Einbrüche. Der Fall lserlohns "von der Höhe der Fabrikation und des Welthandels" wurde immer deutlicher. Die Einwohnerzahl der bis 1850 größten Stadt in Südwestfalen stieg zwar im Zeitraum von 1850 bis 1900 von 11.000 auf 27.300, doch im Vergleich mit benachbarten Industriestädten - wie z. B. Hagen oder Dortmund - nimmt dieser Anstieg einen eher ruhigen Verlauf. Den Unternehmern war es offensichtlich nicht gelungen, neue Arbeitsplätze zu schaffen bzw. in größerem Umfang zusätzliche Produktionsbereiche anzulegen. Lediglich einige Nadelfabriken gingen aufgrund der z. T starken Absatzrückgänge dazu über, ihr Fertigungsprogramm auszuweiten: Die Firma Stephan Witte errichtete 1894 ein Preß- und Stanzwerk zur Herstellung von Teilen für den Eisenbahnwagenbau und später für den Automobilbau. Zur gleichen Zeit nahm die Firma Brause die Fertigung von Schreibfedern auf. Andere Firmen fertigten zusätzlich Herd- und Ofenbeschläge, Baubeschläge, Sprechmaschinennadeln oder Flaschenverschlüsse.
Die Ursachen für die Stagnation im produzierenden Gewerbe sind auch in der unzureichenden Anbindung an das Eisenbahnnetz und im mangelhaften Zustand der Iserlohn verbindenden Fernstraßen zu suchen. Die ursprünglichen heimischen Energieträger Wasserkraft und Holzkohle - einst die Grundlage für die frühindustrielle Entwicklung - genügten im fortschreitenden lndustrialisierungsprozeß nicht mehr. Der neue Energieträger, die Kohle, die in großen Mengen vor allem für den Betrieb der Dampfmaschinen gebraucht wurde, mußte mit Pferdefuhrwerken von Hörde aus über einen 250 m hohen Bergkamm, den Schälk, transportiert werden. Trotz intensiver Bemühungen - erste Gespräche wurden bereits im August 1848 in Berlin geführt - erhielt die Stadt erst 1864 mit einer eingleisigen Strecke den Anschluß an die Ruhr-Sieg-Bahn nach Hagen. 1885 wurde die Strecke Iserlohn-Hemer-Menden und 25 Jahre später, 1910, die Strecke über Schwerte nach Dortmund eröffnet. Diese Verzögerung liegt darin begründet, daß die anfangs privatwirtschaftlich arbeitenden Bahngesellschaften natürlich zunächst die gewinnbringenden Bahnlinien bevorzugten.
Eine ähnliche Entwicklung war auch beim Straßenbau zu erkennen: Die wichtige Nord-Süd-Verbindung wurde erst nach vielen Verhandlungen kurz vor der Jahrhundertmitte geschaffen. Als Folge der ungünstigen Verkehrsbedingungen verlegten zwei führende Iserlohner Unternehmer die Produktionsanlagen in Nachbargemeinden.
Als weiterer entwicklungshemmender Faktor kommt schließlich topographische Lage Iserlohns hinzu: Die Tallage bot keine Möglichkeit, Großbetriebe anzusiedeln. Diese naturräumliche Einengung des damaligen Stadtgebiets schloß rund 40% der Fläche von einer Bebauung aus. Aufgrund dieser Faktoren kam es also nicht zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung, und nach 1850, mit dem Aufkommen der Kohle- und Stahlindustrie am Hellweg, dem späteren Ruhrgebiet, trat die Bedeutung lserlohns als Industriestadt zurück.
Mit dem lndustrialisierungsprozeß ging auch eine Veränderung des Stadtbildes einher: Um 1870 begann man damit, im Osten und Westen der Stadt neue Wohngebiete zu erschließen. Die Angehörigen der Oberschicht bauten zunächst im Bereich Gartenstraße, Stennerstraße und Baarstraße repräsentative Villen. Im gleichen Zeitraum wurden Fabriken aus dem Innenstadtbereich ausgelagert; damit wurde die für Iserlohn so charakteristische Gemengelage von Produktionsstätten und Wohnbereichen aufgelöst. In dieser Zeit wurden vielfach Fassaden älterer Wohnhäuser dem Zeitgeschmack entsprechend umgestaltet.
Aber auch die alte stadtbürgerliche Schichtung erfuhr infolge der industriellen Revolution eine Veränderung: "Aufsteigerfamilien" - wie die Herbers - verdrängten allmählich die alte städtische Führungsschicht aus den politischen und gesellschaftlichen Bereichen - die Familie Löbbecke ist hier als Beispiel zu nennen. Ein Teil der Handwerker und Kleinunternehmer verlor ebenfalls seine einstmals führende gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung, sie bildeten nun das Kleinbürgertum. Als neuer Stand bildete sich daneben der der lohnabhängigen Arbeiter ohne Haus- und Grundbesitz. Ein Mittelstand - so die Feststellung des Iserlohner Justizrats Franz Ludwig Nohl im Jahr 1849 - hatte sich noch nicht herausgebildet.
Erste parteiähnliche Gruppierungen entstanden im Revolutionsjahr 1848. Der älteste politische Verein war der Konstitutionelle Verein, es war die Partei des Bürgertums. Ziel des Vereins war der "Schutz der gesetzlichen Ordnung und die Verabschiedung einer Verfassung zwischen König und Volk". Der mitte-links ausgerichtete Politische Club forderte eine konstitutionelle Monarchie auf breiter demokratisch-republikanischer Grundlage. Mitglieder dieses Clubs waren u.a. auch Angehörige der Deutsch-katholischen Gemeinde. Die Interessen der Arbeiterschaft vertrat der Demokratische Club. Mitglieder dieses Clubs waren vor allem an der Besetzung des Zeughauses im Mai 1849 beteiligt. Dieser Protest wurde durch das preußische Militär am Himmelfahrtstag blutig niedergeschlagen.
In den 1860er Jahren formierten sich dann endgültig Parteien auf kommunaler Ebene. Sie traten jedoch in Iserlohn nicht unter ihren eigentlichen Namen an, sondern schlossen für die alle zwei Jahre stattfindenden Wahlen Wahlbündnisse ab. Die Nationalliberale Partei und das Zentrum verbanden sich unter dem Namen Vereinigte Bürgerpartei. Die Freisinnige Partei und Vertreter anderer politischer Richtungen kandidierten unter der Bezeichnung Bürgerpartei. Die Sozialdemokraten traten erstmals bei der Wahl 1895 unter ihrem Namen an. Eigene Vertreter für die Stadtverordnetenversammlung entsandten sie erst nach der Wahl 1906. Das bürgerliche Lager, durch das Dreiklassenwahlrecht begünstigt, bestimmte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges das soziale, politische und kulturelle Leben der Stadt.
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