LITERATUR

VERFASSERRibhegge, Wilhelm
TITELWestfälische Humanisten
ZEITSCHRIFT/BAND  Wolfenbütteler Renaissance Mitteilungen 17 3 1993
SEITE107-116; 1-10 (Bd. 18)
INFORMATIONEines der ersten in Münster gedruckten Bücher waren die Gedichte ("Carmina") Rudolfs von Langen. Die "Carmina" erschienen 1486. Der Münsteraner Verlag Regensberg brachte diesen Gedichtband zu seinem 400jährigen Bestehen 1991 als Nachdruck in einer Facsimile-Ausgabe mit deutscher Übersetzung heraus. Beim Blättern in dem Buch empfindet man jenen eigenartigen ästhetischen Reiz, den die alten Drucktypen noch heute ausstrahlen. Auch der Autor, Domherr in Münster und Propst des "Alten Doms", schien, wie das so ist, von seinem eigenen Buch begeistert gewesen zu sein. Dies geht aus der Widmung an seinen geistlichen Kollegen, den Domdechanten von Köln Rupert von Bayern hervor.

Vorsichtig wehrte Langen mögliche Kritik ab: Seine Gedichte seien doch nur dem heiseren Schrei einer nutzlosen Gans vergleichbar, die inmitten eines Schwarms von Schwänen in die Lüfte getragen wird: Eine bemerkenswerte Selbstdarstellung für einen Autor. Der Inhalt der "Carmina" bereitet dem heutigen Leser einige Schwierigkeiten. Denn es handelt sich weniger um sprachlich gestaltete Gefühle, Erfahrungen oder auch Gedanken, sondern eher um Gebrauchslyrik für den Umgang unter Freunden und teilweise auch um historisch-politische Lyrik. Dies alles setzt eine gewisse Vertrautheit mit dem historischen Umfeld voraus.

Langen wurde um 1438 in Everswinkel geboren. Sein Onkel Hermann von Langen, Domscholaster und später Domdechant in Münster, kümmerte sich um die Erziehung des Neffen und verschaffte ihm früh ein Kanonikat in Münster. Als 18jähriger ging Langen zum Studium nach Erfurt, damals eine der schönsten und geistig lebendigsten Städte Deutschlands. Hier lernte Langen den Friesen Rudolf Agricola (1444-1485 ) kennen, den Erasmus von Rotterdam (1466-1636) später den ersten bedeutenden deutschen und westfälischen Humanisten nannte. Nach dem Studium in Erfurt hatte sich Agricola seine geistigen Anregungen in Italien geholt. An der Universität Heidelberg lehrte er später lateinische und griechische Literatur.

Bereits zehn Jahre, bevor Rudolfs von Langen "Carmina" erschienen, hatte Rudolf Agricola 1776 vor dem Herzog von Ferrara eine Rede "Oratio in laudem philosophiae et reliquarum artium" gehalten, in der er knapp und eindrucksvoll sein humanistisches Programm und sein Ideal von der Bedeutung der an der Überlieferung der Antike geschulter philosophischer Bildung für die Würde des Menschen darlegte. Er scheute sich dabei nicht, auch seine Herkunft aus dem Norden, aus Groningen, "fast am Rande der Welt" zu erwähnen ("Ego autem ad Oceanum et prope ad ultimos rerum naturae terminos natus."). Seit ihrer Erfurter Bekanntschaft waren Langen und Agricola miteinander befreundet. Zu der Gruppe westfälischer Humanisten, mit denen Langen in Verbindung stand, zählten weiter Alexander Hegius (aus Heek bei Ahaus), der Rektor der Schule St. Lebuin in Deventer, die auch der junge Erasmus besuchte, Wessel Gansfort und Anton Frie (aus Soest, von daher "Susatus" genannt) und Lubbert Zedeler aus Münster, der Jurist an der Universität Rostock geworden war. Die Carmina enthalten einen Nachruf auf den Freund in Rostock, der 1485 starb.

Bis dahin war Westfalen kein literarisch besonders produktives Land gewesen. In seiner Westfalengeschichte ("De laude antiquae Saxoniae nunc Westphaliae dictae") von 1474 hatte der aus Westfalen stammende Kölner Kartäuser Werner Rolevinck geschrieben, er sei erstaunt gewesen, unter den vielen Büchern, die er gelesen habe, auch nicht ein einziges gefunden zu haben, das ein Westfale geschrieben habe ("...inter tot, quos percurri codices, nec unum repperi ab aliquo westphalone conscriptum").

Die neuen Humanisten waren Intellektuelle und wandernde Scholaren. Sie schlossen Freundschaften, die über Jahrzehnte hielten. Das war anregend und nützlich zugleich. In Erfurt erwarb Langen das Baccalaureat und den Magister artium. Bodenständiger als manche seiner unruhigen humanistischen Freunde kehrte er nach Münster zurück. Dort wurde er 1462 Mitglied des Domkapitels. Aus dieser Stellung konnte er bis zu seinem Tod 1519 ein Rolle in der Politik und Verwaltung des Fürstbistums spielen: So verhandelte er am Hof des Herzogs von Cleve wegen der Wahl Heinrichs von Schwarzburg zum Bischof von Münster. Nachdem der Wahlakt 1466 erfolgreich abgeschlossen war, reiste Langen im offiziellen Auftrag nach Rom, um die päpstliche Bestätigung einzuholen. Dreißig Jahre lang arbeitete er mit dem Bischof bis zu dessen Tod 1496 zusammen.

1474/5 begleitete ihn Langen nach Neuß, als es darum ging die Belagerung der Stadt durch Karl den Kühnen, den Herzog von Burgund, abzuwehren. Zur Verteidigung der Stadt Neuß kam schließlich eine Art "nationaler" Koalition zustande, zu der der Erzbischof von Köln, dessen Wahl der Auslöser des Konflikts gewesen war, mehrere Reichsfürsten, darunter Achilles von Brandenburg und der Bischof von Münster, und nach einigem Zögern schließlich auch Kaiser Friedrich III. zählte. Nach elfmonatiger Belagerung von Neuß, bei der sich die feindlichen Feldlager rings um die Stadt und auf beiden Seiten des Rheins einander gegenüberstanden, kam es auf Vermittlung des päpstlichen Legaten zu einem Waffenstillstand. Der Fall Neuß war mehr als ein lokales Ereignis gewesen und wurde auch so empfunden. Nationale Gefühle tauchten hier erstmals auf. Langen bezog sich in mehreren seiner "Carmina" auf den Kampf um die Stadt Neuß. Dabei hob er nationale Gegensätze zwischen den "Galli", den Burgundern und deren Verbündeten, auf der einen und den "Germani", den Deutschen, auf der anderen Seite hervor, um dann aber gleich anzufügen, daß es noch einen weitaus bedrohlicheren Feind abzuwehren gelte: Gemeint war die Bedrohung Europas durch das Vordringen der Türken seit dem Fall Konstantinopels 1453.

Seit seinem Italienaufhenthalt, bei dem er wie Agricola die Welt der italienischen Humanisten kennenlernte und von dem er eine größere Anzahl Bücher mitbrachte, die er der Dombibliothek zur Verfügung stellte, galten Langens Interessen aber weniger der Politik, sondern der Reform der Studien in Münster und Westfalen. Langen spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle bei jenem Vorgang, den Margaret Mann-Philipps als die "Renaissance des Nordens" ("The Northern Renaissance") beschrieben hat und der Nordwesteuropa, Deutschland, die Niederlande und England erfaßte. 1469 traf sich Langen mit humanistischen Freunden in dem Kloster Adwerth bei Groningen. Aus dieser Zeit sind sechs Briefe Langens überliefert, die meisten davon an Anton Frie ("Vrye" oder "Liber") gerichtet, die sein Reformprogramm festhalten. Wie in Italien, so müsse man auch in Deutschland die barbarische Kultur überwinden, das geistige Leben durch die Wiederentdeckung der antiken Autoren erneuern und den Stil und die Ausdruckskraft der Sprache nach dem Vorbild Laurenzo Vallas ("Elegantiae linguae latinae") verbessern.

Dabei dachte Langen nicht nur an Cicero und die klassischen "heidnischen" Autoren, sondern auch an die christlichen Autoren Augustinus, Laktanz, Hieronymus und Ambrosius. Welche schrecklichen, billigen Übersetzungen des Aristoteles habe man bisher in Deutschland benutzt ("qua adhuc Alemania nostra utitur")! Allerdings dachte Langen nicht daran, die Kultur der Deutschen über ihre eigene Sprache zu wiederzubeleben, wie dies später Luther tat, der "seine Deutschen" bewußt ansprach, sondern vielmehr über die lateinische Sprache, die eleganter werde sollte als bisher praktiziert. Langen und alle Humanisten verständigten sich untereinander auf Latein. Sie alle forderten leidenschaftlich, das geistige Anpruchsniveau an den Schulen und Hochschulen Deutschlands nach dem Beispiel Italiens zu heben.

Aber wie? Und wo sollte man anfangen? Langen brauchte fast dreißig Jahre, um schließlich sein Programm in Münster durchzusetzen. Der Bischof Heinrich von Schwarzburg war offensichtlich mehr an politischen und kriegerischen Aufgaben interessiert. So setzte Langen vorerst seine Hoffnungen auf einen jungen Verwandten, Hermann von dem Busche. Er sorgte dafür, daß Buschius, wie er genannt wurde, - er war um 1468 in Sassenberg geboren -,eine gute Ausbildung erhielt, zunächst bei Alexander Hegius in der inzwischen angesehenen Schule der Fraterherren in Deventer, später bei Rudolf Agricola in Heidelberg und schließlich bei Filippo Beroaldo in Bologna. Nach Münster zurückgekehrt aber zeigte Buschius wenig Interesse, sich in seiner Heimat niederzulassen. Er immatikuliert sich 1495 in Köln. Danach beginnt sein Weg als Wanderlehrer, dessen Stationen in dem nächsten Jahrzehnt Münster, Osnabrück, Bremen, Hamburg, Lübeck, Wismar und Rostock waren.

Bei der Eröffnung der neuen Universität Wittenberg 1502 hält Buschius Vorlesungen über Rhetorik und Poetik. 1503 ist er in Leipzig und erwirbt dort ein Baccalaureat der Jurisprudenz. In Leipzig veröffentlicht er Gedichte: zum Lob der Jungfrau Maria wie zum Lobe der Stadt Leipzig. Sein Name wird bekannt. Bald ist er wieder in Köln. Auch dort publiziert er: Eine Ode über die Verachtung der Welt und eine Lobgedicht auf die Stadt Köln, überschrieben "Flora". Er wird mit Erasmus von Rotterdam bekannt. Beide verbindet seitdem über Jahre eine persönliche Freundschaft. Aber diese Humanisten spüren den Widerstand, der ihren Bemühungen, die Studien zu reformieren, besonders seitens der geistlichen Orden, zumal der Dominikaner und Franziskaner, und von deren Vertretern an den Universitäten entgegenwächst. Dies zeigte sich in Köln, wo man zwar 1507 begeistert den italienischen Humanisten Petrus von Ravenna empfing, aber wo sich dann die Sympathie für den Humanismus bald merklich abgekühlte, so daß Petrus verärgert Köln wieder verließ. Bildung oder Frömmigkeit, so sahen es die Scholastiker, waren Gegensätze, die sich nicht vereinbaren ließen. Die Humanisten sahen das ganz anders.

Inzwischen hatte sich auch in Münster etwas bewegt. Der Drucker Johannes Limburg hatte sich in der Stadt niedergelassen, offensichtlich, um für das Domkapitel zu arbeiten. Langen nutzte die Chance, um den Rektor seiner Domschule, Johannes Kerckmeister, zu ermuntern, 1485 ein kleines Schuldrama mit dem Titel "Codrus" drucken zu lassen. Es war das erste in Münster gedruckte Buch. Dieses Schuldrama fiel etwas burlesk aus und verfolgte offensichtlich den propagandistischen Zweck, in dem rheinisch-westfälischen Bildungsstreit für die Reform der Studien und gegen die Unbildung zu kämpfen. Die ersten Szenen des Dramas spielen sich vor den Mauern Kölns ab: Dort unterhalten sich zwei Kölner Studenten mit einem ungebildeten Lateinlehrer namens Codrus, der von weither, aus Preußen, kommt. Von Gestalt ist Codrus bucklig, er hat eine krumme Nase und einen schiefen Mund, zieht sich ständig an Nase und Ohren und kratzt sich am Hinterteil. Er schleppt ein schweres Bündel mit Grammatiken und Lehrbüchern mit sich. Die Studenten klären Codrus über seine Unbildung auf, und schließlich promovieren sie ihn in einem Studentenulk zum Baccalaureus. Das verhindert aber nicht, daß anschließend der frisch Promovierte von einer Studentengruppe verprügelt wird. Es scheint, als solle nicht nur die Person des Fremden, sondern auch Codrus' Küchenlatein und die von ihm benutzte alte Grammatik, das Doktrinale des Alexander de villa dei, Stein des Anstoßes für alle Humanisten, stellvertretend verprügelt werden.

1498 traf schließlich das Domkapitel in Münster die Entscheidung für die Schulreform an der Domschule. 1500 wurden die neuen humanistischen Studiengänge eingeführt, und Langen gelang es vor allem, neue Lehrer nach Münster zu holen. Sie kamen meist aus der Schule des Alexander Hegius in Deventer. Neue und überarbeitete Schulbücher wurden eingesetzt. Timann Kemner, der aus Werne stammte, wurde zum Rektor bestellt, der damals 20jährige Murmellius aus Roermond zum Konrektor. Neben der Domschule gab es noch zwei weitere Lateinschulen in Münster, in Ludgeri und in Martini. Sie schlossen sich der Reform an. Das geistige Leben der Stadt intensivierte sich. Die Atmosphäre dieser Jahre hat Murmellius in seinem aus 50 Strophen bestehenden Gedicht über die Stadt Münster im Jahre 1503 festgehalten: "Zierde und strahlender Glanz westfälischen Landes / Stehst du, herrliche Stadt, im Schutze des Paulus. / Mehr als Delphi gerühmt, als Stätte der Künste / Gleichst du Athen selbst." Münsters Schulen strahlten aus, und das humanistische Reformprogramm fand bald in anderen westfälischen Städten Nachahmung. Die neuen Lehrer dort kamen meist aus Münster, so beispielsweise Tilmann Mülle in Attendorn, dessen Schüler Johannes Rivius später das sächsische Schulwesen unter Moritz von Sachsen reformieren sollte. Begünstigt durch die Bildungspolitik Langens und des Münsteraner Domkapitels beginnt sich eine neu Bildungsschicht in Westfalen zu etablieren. Inzwischen war Langen eine Persönlichkeit, die als Mäzen der Humanisten ernst genommen wurde und an der man nicht vorübergehen konnte. So bemühte sich der damals etwa 35jährige Erasmus von Rotterdam in mehreren Briefen und über andere Briefpartner in den Jahren 1498 bis 1501, mit Langen in näheren Kontakt zu kommen.

Der junge Konrektor Johannes Murmellius hatte, wie auch der Rektor Kemner, die Schule des Hegius in Deventer besucht und anschließend in Köln studiert. Der agilere und geistig gewandtere Murmellius überwarf sich aber mit dem bedächtigeren Timann Kemner, wechselte vorübergehend zur Ludgerischule, versöhnte sich schließlich wieder mit dem Rektor und kehrt an die Domschule zurück 1513 ging er nach Alkmaar. Er starb bereits 1517. Murmellius war ein begeisterter Lehrer und äußerst produktiver Schriftsteller und Philologe. Von ihm stammen zahlreiche Gedichte, Epigramme und Texteditionen, darunter auch eine kommentierte Edition des Boethius. Seine Ode an die Stadt Münster enthielt zahlreiche kurzgefaßte Porträts der damaligen Münsteraner Geistlichen und Humanisten, darunter auch die des Kanonikers am Stift St. Martini, Heinrich Morlage, dessen Bibliothek Murmellius bewunderte: "Seine größte Freude ist's Bücher zu sammeln, / Niemand hat eine so erlesene, reiche Bibliothek gelehrter Werke, die jeder / Staunend betrachtet."

Murmellius, der eine Langen gewidmete Ode über die "Würde und Auszeichnung des Menschen" sowie eine Ode "De bello" gegen den Krieg verfaßte, brachte die Liberalität des erasmischen christlichen Humanismus nach Münster. Erasmus nannte er "lux Germaniae", das "Licht Deutschlands". Am erfolgreichsten war Murmellius als Schulbuchautor. Seine "Pappa puerorum" ("Kinderbrei" oder "Kinderpapp"), eine kleines lateinisch-deutsches (niederdeutsches) Konversationslexikon, setzte den Kampf gegen die Schwerfälligkeit der mittelalterliche Didaktik fort und warb für ein modernes umgangssprachliches Latein. In einem dieser Schülergepräche wird die Frage aufgeworfen, warum und wie man in Münster studiere.

Das hört sich so an: "Cur huc advenisti" - Wayr om bistu hyr gecomen?" "Liberalium studiorum gratia" - Um vrye konsten te leeren." "In cuius domo habitaris?" - "In wes mans huyse saltz tu wonen?" "Sarcinatoris apud divi Lamberti habitantis, cujus nomen mihi nondum notum est." - Eins scroers (Schneider) wonende by sint lambert, welkes naem mi noch onbekannt is." "Frater meus et ego in sex menses duodecim solidis luculentum cubiculum conduximus." - "Myn broer und ick heben voer half iaer eyn luchtige kamer om twelliff schilling gehuyrt." "Duc me ad ludi magistrum!" - "Leyde my tot den scholemeyster!" "Quem ludum litterarium frequentabis, nam hac in urbe tres sunt" - "In wat schole salstu frequentyeren, want in dese stat syn dry scholen." "Parentes mihi iusserunt, ut tradam me in disciplinam ei magistro qui et litteris me bene erudiat et bonis moribus recte instituat."- "Myn olderen hebben my bevolen, dat ick my geeve onder eynen meyster, die my wail leeren onde to den duechden holden moech." "Timannus ludi magister non doctrinae solum set severitatis etiam et vitiorum castigationis vulgo laudatur."- "Meyster Timan (gemeint ist Kemner) die scholmeyster wort gelavet gemeynlic nycht alleyn om der leer wil, mer ouch om die stracheyt ende straffinge der boverye."

Kemner wird hier wegen seiner Strenge als Pädagoge empfohlen, aber vor jenen korrupten Lehrern wird gewarnt, die sich für ihre Benotungen bestechen lassen: "Praeceptor discipulis suis indulgens pecuniae gratia est diaboli mancipium et corruptor juventutis." "Eyn meyster, die synen disciplen hoenen willen to leet om geldes wil, ys eyn knecht des duvels unde ein verderver der jongen." Die erste Ausgabe dieser "Pappa " erschien 1513 in Köln. Sie soll im 16. Jahrhundert 32 Auflagen mit insgesamt 30 000 Exemplaren erreicht haben. Das war für die damalige Zeit nicht wenig. Kurz vor seinem Tod 1517 brachte Murmellius noch einmal eine humanistische Kampfschrift "Scoparius "gegen die Vorkämpfer der Barbarei und die Verächter der Humanität" und zur Unterstützung der Studien der urbaneren Wissenschaften ("politioris litteraturae") heraus. Offensichtlich sahen sich die Humanisten in einer ständigen Kampf- und Verteidigungsstellung.

1512/13 hielt sich Johannes Caesarius von Murmellius eingeladen in Münster auf und führte an der Domschule den Griechischunterricht ein. Er stammte aus Jülich, hatte in Köln und Paris studiert und bei einem Aufenthalt in Bologna in Begleitung des rheinischen Adeligen Hermann von Neuenahr Griechisch gelernt. Nach dem Fall Konstantinopels waren viele griechische Gelehrte nach Italien gekommen. Bei ihnen lernten die Humanisten von jenseits der Alpen Griechisch, und auf diesem Weg brachten sie die neuerworbenen Sprach- und Literaturkenntnisse mit nach Deutschland. 1518 besuchte Caesarius, inzwischen ein Vertrauter des Erasmus, nochmals Münster. Die Angebote, die man ihm dort machte, waren aber offensichtlich finanziell nicht besonders attraktiv. Später lehrte er überwiegend in Köln, Mainz und vorübergehend in Leipzig. Wie Erasmus stand er in einem freundschaftlichen Verhältnis zu den Humanisten unter den protestantischen Reformatoren, so zu Melanchthon in Wittenberg, doch blieb auch er, wie Erasmus, der alten Kirche treu.

Die zahlreichen Außenkontakte der westfälischen Humanisten zeigen, daß es sich hier nicht nur um eine lokale oder regionale Bewegung handelte. Sie hatte gesamtdeutsche Bezüge. In deren Außengeflecht waren auch die Niederlande einbezogen, die damals noch dem Reich angehörten. Erasmus verhalf beispielsweise Conrad Goclenius, der aus Mengeringhausen in der Grafschaft Waldeck stammte, die Schule in Deventer besucht und in Köln und Löwen studiert hatte, zu einer Lateinprofessur an dem Dreisprachenkollegium in Löwen und machte ihn auch mit dem englischen Humanisten Thomas Morus bekannt. Die Beziehungen der Humanisten Westfalens in Münster, des Rheinlands in Köln und in den Städten am Niederrhein und der Niederlande in Deventer und anderen Orten waren fest geknüpft, wobei das Dreieck Deventer-Köln-Münster gleichsam das Zentrum darstellte. Die Bekanntschaften und Freundschaften schlossen menschliche Rivalitäten und Spannungen, auch geistige, nicht aus. Das zählte zu dem Alltag dieser humanistischen Intellektuellen.

Da Murmellius 1517 und Rudolf von Langen 1519 starben, wurden die beiden führenden Köpfe des Münsteraner Humanismus nicht mehr in die Auseinandersetzungen um das Auftreten Martin Luthers seit 1517 verwickelt. Hermann Buschius dagegen sympathisierte sofort mit der reformatorischen Bewegung. Von Leipzig war er 1507 nach Köln zurückgekehrt. Von dort aus pflegte er den Kontakt zu seinen Münsteraner Freunden, besonders zu Murmellius, für dessen "Pappa" er eine Widmung schrieb. Zu Buschius' Kollegen in Köln zählte auch ein anderer westfälischer Humanist, Ortwin van Graes (Gratius), der aus Holtwick bei Coesfeld stammte, und gleichfalls die Schule des Hegius in Deventer besucht hatte. Gratius brachte in Köln in dem Verlag Quentel, dessen Direktor er war, weitere Schriften Buschius' heraus. Aber über einen Kommentar Buschius' zu der traditionellen Lateingrammatik des Donat, den Gratius mit eigenen kritischen Anmerkungen versehen herausgab, kam es zum Bruch zwischen den beiden westfälischen Humanisten in Köln. Man ordnete sich jetzt "Lagern" zu. Auf der einen Seite standen die "progressiven" Humanisten, meist an den Artisten- und Juristenfakultäten vertreten, auf der anderen Seite die "konservativen" Scholastiker", die ihren Rückhalt vor allen in der theologischen Fakultät hatten und von den Orden der Dominikaner und Franziskaner unterstützt wurden. Über den Alltag dieser Kämpfe liefern die "Colloquien" des Erasmus plastisches und teilweise satirisches Anschauungsmaterial.

Die Fortschrittler warfen ihren Gegnern vor, in Ungeistigkeit zu erstarren und der Kirche mehr zu schaden als zu nutzen. Die Konservativen brachten ihre Gegner unter den Verdacht der Häresie. Erasmus, selbst ein "Progressiver," hatte sich in dem "Lob der Torheit" (1511) über die Streitlust dieser Lager mokiert. Buschius warnte in einer Ansprache vor der Synode der Kölner Geistlichen 1513 vor einer Verweltlichung der Priester und Mönche. Sie kümmerten sich mehr um ihre Einkünfte als um die Seelsorge und ihre geistige Bildung. Selbst der jetzige Papst - gemeint war der kriegerische Papst Julius II. - gehe mit schlechtem Beispiel voran. Nun möge man ihm vorhalten, wie er zu solcher Kritik komme, da er nicht einmal einen Doktorgrad besitze. Aber, so Buschius' schlichte Antwort, die Autorität der Wahrheit spreche für sich. Der Kölner Offizial, der im Lager der Humanisten stand, hatte Buschius um diese Ansprache gebeten. Der Konflikt der beiden Lager hatte sich bereits so verfestigt, daß, als seit 1517 der Streit um Luther begann, dies für viele nur die Fortsetzung des alten Streits zwischen Humanisten und Scholastikern war.

Bereits in dem Streit um den schwäbischen Humanisten Reuchlin hatte sich dieser Konflikt zugespitzt und eine nationale Dimensionen gewonnen. Anlaß waren die Bemühungen Pfefferkorns, eines zum Christentum konvertierten Juden, jüdische religiöse Bücher konfiszieren zu lassen. Dies wurde von dem Kölner Dominikanern und an ihrer Spitze von dem Inquisitor Jakob von Hochstraten unterstützt. Reuchlin, der neben Griechisch auch Hebräisch lehrte, verfaßte ein Gutachten, daß diese Aktionen verurteilte. Der Konflikt verlagerte sich jetzt. Hochstraten prozessierte gegen Reuchlin vor den kirchlichen Gerichten, zunächst in Köln mit Unterstützung der Universität und später vor dem bischöflichen Gerichtshöfen in Mainz und Speyer, schließlich in Rom. Die Humanisten ergriffen für Reuchlin Partei, so auch Buschius in Köln. Einige Jahre später, 1520, wurde der Streit durch ein päpstliches Machtwort beendet, nachdem der Streit um Luther inwischen alles andere überlagerte. Der Reuchlinsche Streit war ein erster Auftakt zur Verlagerung der lokalen universitären Querelen in eine größere, nationale Öffentlichkeit gewesen, wie andererseits der Streit um die 95 Thesen Luthers zunächst auch nur aus einem lokalen und regionalen Anlaß entstanden war.

Buschius hatte sich mit Erasmus, Hutten und Reuchlin 1515 in Frankfurt getroffen. Erasmus fügte seiner Schrift "Die Klage des Friedens" von 1517 zwei Oden Buschius' bei. Die eine unterstützte das pazifistischen Anliegen der Schrift des Erasmus. In der anderen begründete Buschius mit einigem Pathos, warum er die Stadt Köln verlasse: Sie böte den "bonae litterae" keinen Raum mehr.

Kurz nach dem Frankfurter Treffen, im Oktober 1515, ließen einige Humanisten die Schmähschrift der "Dunkelmännerbriefe" ("Epistolae obscurorum virorum ad venerabilem virum Magistrum Ortvinum Gratium") vom Stapel. Im Mittelpunkt des anonymen Pamphlets stand Gratius, dem zahlreiche angebliche "Freunde" für seine Haltung in dem Reuchlinschen Streit "Dankbriefe" schrieben. Die Briefe waren fingiert, und in ihnen stellten sich die "Konservativen", die "Dunkelmänner", als dreiste, ungebildete und wollüstige Geistliche dar. Vermutlich hat Buschius mit dazu beigetragen, daß ausgerechnet sein Kollege Gratius zum Sündenbock der Attacke auserkoren wurde. Die Verfasser waren Crotus Rubeanus und von Ulrich von Hutten. Buschius' Anteil an der Verfasserschaft ist unbestimmt. Es war die Antwort der Humanisten auf die Kampagne der Kölner Scholastiker gegen Reuchlin. Noch 1979 hat der französische Historiker Jacques Chomarat auf einem Kongreß über "L'humanisme allemand" in Tours nachzuweisen versucht, daß die Stilisisierung von Gratius als Dunkelmann nicht ganz fair, aber aus dessen historischer Rolle in dem Parteienstreit gerechtfertigt gewesen sei.

Erasmus war von dem Niveau des Streits etwas peinlich berührt, Buschius, selbst weniger empfindlich, davon offensichtlich recht angetan. Er hatte schon seit einiger Zeit seinen humanistischen Freunden geraten, sich zusammenzuschließen: "Warum sollten denn auch die Papageien sich nicht innig lieben können, wenn sie sehen, wie die Dohlen einander so zärtlich tun!" Ortwin Gratius verteidigte sich im Frühjahr 1518 in einer Schrift "Lamentationes obscurorum virorum" und konnte dabei darauf verweisen, daß die Verbreitung der Dunkelmännerbriefe durch ein päpstliches Breve verboten worden war. Aber was bewirkte das noch? Die Humanisten spürten, daß ihnen der Buchdruck eine neue Waffe in die Hand gegeben hatte. Es entstand eine öffentliche Meinung in Deutschland. Mit der Verbreitung der 95 Thesen Martin Luthers und später seiner "Programmschriften" von 1520 "An den christlichen Adel deutscher Nation", "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" und "Von der Freiheit eines Christenmenschen" wurde Luthers Auftreten zum Gegenstand der öffentlichen Meinung. Das Buch hatte, auch wenn nur eine Minderheit lesen und schreiben konnte, das Leben und Zusammenleben grundlegend verändert. Der neue Streit um die Reformation verdrängte allmählich den älteren zwischen progressiven Humanisten und konservativen Scholastikern. Als Buschius 1518 seine wohl bedeutendste Schrift "Vallum humanitatits." - "Schutzwall der Humanität" in Köln herausbrachte, wurde dies ein eindrucksvolles humanistisches Bekenntnis. Habe es nicht die Natur schon so eingerichtet, so argumentierte er anschaulich, daß sich der Mund an den oberen Partien des menschlichen Körpers befinde, für jeden sichtbar als Ausgang und Sprachrohr des Kopfes, des Sammelpunkts des Geistes und der Gedanken? Sei nicht die Sprache im den Umgang mit den "bonae litterae" gerade deswegen zu pflegen, weil eben sie der Ausdruck der Gedanken sei? Das war eine einfache, aber zweifellos eingängige bildhafte Argumentation auf einem wenn auch unreflektierten sprachphilosophischen Hintergrund.

Doch zu der Zeit, als Buschius' "vallum humanitatis" 1518 erschien, hatte sich die geistige Szene bereits unmerklich verschoben. Im Streit zwischen Reformation und Gegenreformation stand bald weniger die Bildung als vielmehr die Frömmigkeit im Vordergrund. Anders als Erasmus verfügte Buschius offensichtlich nicht über die Sensibilität, diese Wende der Dinge zu erfassen. Er kämpfte weiter wie bisher, unterstützte Erasmus 1520 in einer Kontroverse mit dem Engländer Edward Lee um die Edition des Neuen Testaments in einer griechisch-lateinischen Synopse, die Erasmus 1516 herausgebracht hatte. Im Streit um Luther verstand sich Buschius entschieden als dessen Parteigänger. 1521 befand er sich auf dem Reichstag in Worms, um gemeinsam mit Hutten als "Leibwache" Luther zu beschützen, auch bei jenem berühmtem Auftritt Luthers am 18. April vor Kaiser Karl V. Bei einem Besuch in Basel im folgenden Jahr nahm er während der Fastenzeit an einem Spanferkelessen teil, das man bewußt zur Provokation der Anhänger der alten Kirche veranstaltete, was Erasmus, der inzwischen in Basel lebte, veranlaßte, sich von dieser Aktion in einem Brief an den Bischof von Konstanz zu distanzieren. In den folgenden Jahren schien es fast zum Bruch zwischen Erasmus und Buschius zu kommen. 1523 übernahm Buschius eine Professur für lateinische Literatur in Heidelberg, von 1527 bis 1533 an der Artistenfakultät der protestantischen Universität Marburg. In Marburg heiratete er 1529 im Alter von 59 Jahren. Mit einer kleinen Schrift über die Autorität des Alten und Neuen Testaments bekannte er sich als Lutheraner. 1533 ließ er sich mit seiner Familie auf einem mütterlichen Erbteil in Dülmen nieder. Dort starb er im April 1534. Seine Bücher vermachte er der Dombibliothek in Münster. Einige von ihnen werden noch heute in der Universitätsbibliothek aufbewahrt. So blieb in Münster ein Stück Erinnerung an diesen westfälischen Humanisten erhalten. Eine neuere Biographie Buschius' aber gibt es nicht.

Die Humanisten waren Intellektuelle. Durch die Art ihrer Kommunikation in lateinischer Sprache, ihre Bildung und ihre Interessen waren sie eine Elite, zumindest abgehoben oder gesondert von den breiteren Schichten der Bevölkerung. Aber sie bewegten sich nicht in einem sozial luftleeren Raum. Schließlich bedarf auch die geistige Arbeit einer materiellen Basis. Sie fanden sie dadurch, indem sie sich den Höfen und den Städten zuordneten, die ihnen - etwa an den Schulen und Hochschulen oder durch andere Zuwendungen Stellen und Einkommen verschafften. Die Publikations- und Kommunikationsfreudigkeit der Humanisten, die regionale und nationale Grenzen überschritten, hatte auch eine praktische Funktion: Man hielt sich gegenseitig auf dem laufenden und half sich bei dem Fortkommen.

Dagegen sprach die Reformation breitere Schichten an, nicht nur eine kleine intellektuelle Minderheit. Damit wurde indirekt aber auch das Selbstverständnis und die soziale Basis der Humanisten in Frage gestellt. Jüngere unter ihnen wie beispielsweise Philipp Melanchthon, ein Neffe Reuchlins, der mit 18 Jahren als Lehrer an die Universität Wittenberg kam, schlossen sich meist der reformatorischen Bewegung an. Das erschien ihnen wie selbstverständlich. Auch viele Ordensgeistliche - Luther als Augustinermönch - wurden evangelische Prediger. Andere Humanisten wie Cochläus in Nürnberg entschieden sich, als sich die konfessionelle Spaltung abzeichnete, für die katholische, gegenreformatorische Bewegung. Teilweise gelangt es sogar, die humanistische Bewegung in die jetzt überall konfessionell geprägten Lateinschulen der Städte und die nach der Auflösung der Klöster neu gegründeten "Fürstenschulen" sowie in die jetzt gleichfalls konfessionellen Hochschulen hinüberzuretten. Diese Politik betrieb Melanchthon mit Erfolg in den protestantischen, und später folgten ihm darin die Jesuiten in den katholischen Gebieten Deutschlands. In Sachsen wurde Johannes Rivius aus Attendorn, der bei Cäsarius in Köln, dann in Leipzig studiert hatte, später Lehrer an den Gymnasien in Zwickau und Annaberg und Rektor in Freiberg war, zum protestantischen Schulreformator. Er gab mehrere Schulbücher, eine Ausgabe des Sallust sowie reformatorische und theologische Schriften, darunter eine Abhandlung über das "gute Gewissen", heraus, wobei er zwischen den neuen Konfessionen eine vermittelnde Haltung einnahm. In den 1540er Jahren,- er hatte sich inzwischen mit seiner Familie in Meißen niedergelassen - , wurde ihm von dem jungen Moritz von Sachsen die Reform des Schulwesens übertragen. Rivius begründete die drei später so bekannt gewordenen "Fürstenschulen" in Meißen, Grimma und Schulpforta. Er drängte auf die Einführung der deutschen Sprache im Schulunterricht: In Frankreich und Italien verwende man auch die Landessprache.

Mit der Wende zum protestantischen und katholischen Schulhumanismus brach die kosmopolitische Welt der Humanisten zusammen, für die Erasmus, der 1536 in Basel starb, gestanden hatte. Davon waren schließlich auch die westfälischen Humanisten betroffen, die unter Langen, Murmellius und Buschius mit den deutschen und europäischen Humanisten verbunden gewesen waren. Da dieser Bruch nicht schlagartig, sondern allmählich und zugleich in der Folge eines Generationenwechsels geschah, war den meisten Beteiligten der Vorgang kaum bewußt. Aber zum Ende des 16. Jahrhunderts, nach der Reform durch die Jesuiten, war schließlich das Schulwesen in Münster nicht nur betont konfessionell ausgerichtet, sondern auch stark diszipliniert. Die Orientierung des Paulinums war eher regional als national, vielleicht in einem allerdings nur konfessionellen Sinn europäisch geprägt. Ronald Po-chia Hsia hat diese Zusammenhänge in seiner Studie über "Gesellschaft und Religion in Münster 1535-1618" gekonnt herausgearbeitet.

Die Veränderungen zeigten sich bereits an dem Werdegang Bernhard Rothmanns. Um 1495 in Stadtlohn als Sohn eines Schmieds geboren erhielt er seine Schulbildung in Münster und Deventer. Er war Schüler des Murmellius und hatte Kontakt zu Buschius. Eine Zeitlang war er Lehrer in Warendorf und studierte dann in Mainz, wo er 1524 den Magister artium erwarb. Er wurde Priester und nahm eine Kaplansstelle an dem Stift St. Mauritz vor den Toren Münsters an. Er wurde ein beliebter Prediger. Da er allmählich zu lutherischen Aussagen neigte, schickten ihn die Stiftsherren zum Weiterstudium nach Köln, offensichtlich um ihn in seiner kirchlichen Treue zu festigen. Tatsächlich verstärkten sich aber seine reformatorische Neigungen. Als er 1530 wieder nach St. Mauritz zurückkehrte, setzte er dort seine evangelische Predigttätigkeit fort. Eine Reise führte ihn 1531 nach Wittenberg. Dort sprach er mit Melanchthon und dem Stadtpfarrer und Reformator Bugenhagen. Seine Reise führte ihn über Marburg, wo er Buschius besuchte, von dem er sich ein Empfehlungsschreiben geben ließ, weiter nach Straßburg. Dort wohnte er im Hause Capitos und sprach mit den Straßburger Reformatoren, darunter Kaspar von Schwenckfeld.

Inzwischen verstand Rothmann sich nicht mehr als Humanist und Schullehrer, sondern als Prediger und Reformator. In seinen Predigten verstärkte sich die Kritik an den kirchlichen Verhältnissen, so daß das Domkapitel gleichsam zur Abwehr des innerstädtischen Einflusses Rothmanns den Guardian des Franziskanerklosters in Hamm, Johannes von Deventer, als Prediger nach Münster holte, damit er die überkommene kirchliche Lehre und Praxis verteidige. Im Dezember 1531 verbot Bischof Franz von Waldeck Rothmanns Predigttätigkeit. Danach eskalierten die Dinge, da Rothmanns Anhang in der Bevölkerung der Stadt wuchs, zumal bei den Handwerkern und Kaufleuten. Selbst die jungen adeligen Bedediktinerinnen im Überwasserstift zählten zu Rothmanns Anhängerschaft. In dem Maße, wie die innerstädtischen Spannungen im Zuge der Reformation in Münster zunahmen, radikalisierte sich Rothmann, der schließlich die Lehre der Wiedertäufer übernahm und deren theologischer Sprecher wurde. Die Schriften und Bekenntnisse der Wiedertäufer in Münster wurden überwiegend von Rothmann verfaßt, gedruckt und nach außen verschickt.

In Wittenberg und Straßburg war man über Rothmanns Entwicklung zum Radikalen nicht besonders glücklich. Luther schrieb Rothmann am 23. Dezember 1532, mahnte zur Mäßigung und erinnerte ihn unmißverständlich daran, wie Thomas Müntzer und ein Jahr zuvor Ulrich Zwingli in Zürich zugrunde gegangen seien. Weniger drastisch schrieb Melanchthon in mahnenden Briefen vom 24. Dezember 1532 und im Mai 1533: Rothmann solle sich lieber mit theologischen Fragen als mit politischen befassen. Allzuleicht würden verschlagene Leute den theologischen Disput ausnutzen, um ihre weltlichen Ziele durchzusetzen. Aus Straßburg übersandte der Humanist und Reformator Martin Bucer im Dezember 1533 eine im Ton verbindlich gehaltene Widerlegung der Wiedertäuferlehre. Aber Rothmann hatte sich längst entschieden, den Wege der Volksreformation mit den Täufern zu beschreiten. Seine täuferischen Schriften, die zunehmend aggressiver wurden und auf ein Totalverdikt der überkommenen religiösen wie gesellschaftlichen Verhältnisse hinausliefen, schrieb er nur noch in niederdeutscher Sprache, während er für den Briefwechsel mit den humanistischen Reformatoren, also mit Melanchthon, Buschius und Butzer die lateinische Sprache benutzte. Die Täufer führten für ihre Gottesdienste in Münster die (nieder)deutsche Sprache ein. Die Schulkinder lernten die Psalmen gleichfalls in der deutschen Sprache.

Das humanistische Reformprogramm in Münster war vorerst beendet. Die Schüler der Domschule, wie der junge Hermann Kerssenbrock, der einige Jahrzehnte später seinen ausführlichen Bericht über die Entstehung und die Geschichte der Täuferherrschaft in Münster - in lateinischer Sprache - verfaßte, verließ damals die Stadt. Rudolfs von Langen Bibliothek, die in dem Raum oberhalb des Paradieses am Dom untergebracht war und die bereits einige Jahre zuvor bei einem Brand beschädigt worden war, wurde von den Täufern geplündert und die wertvollen alten Bücher verbrannt.

Rothmann hatte vergeblich gehofft, bei Buschius Unterstützung zu finden. So hatte er Buschius am 6. September 1532 geschrieben: "Wenn Gott für uns ist, wer kann gegen uns sein?" Schließlich kehrte Buschius in seine westfälische Heimat zurück. Am 7. und 8. August 1533 veranstaltete der Rat der Stadt Münster eine öffentliche Disputation zwischen Befürwortern und Gegnern der Wiedertaufe auf dem Rathaus, um eine Klärung und Entspannung im innerstädtischen konfessionellen Streit herbeizuführen. Der Syndikus der Stadt, Johann von Wieck, lud auch Buschius, der sich inzwischen in Dülmen aufhielt, zu dieser Disputation ein. Insgesamt waren 15 Personen beteiligt. Tatsächlich wurde es aber ein Streitgespräch zwischen Buschius und Rothmann, zwischen dem 65jährigen humanistischen Lehrer und dem 38jährigen ehemaligen Schüler und jetzigen radikalen Reformator. Man diskutierte in deutscher Sprache. Das Protokoll des Streitgesprächs ist erhalten. Buschius suchte seine Gegner mit einem freundlichen Diskussionsstil milde zu stimmen. Er nannte die Parteien "Freunde" und "Gegenfreunde". Wie könne man die Kindertaufe, so fragte er Rothmann, ein "Greuel" nennen? Wäre es dann nicht auch ein Greuel, daß Männer den Frauen das Sakrament des Leichnams und Blutes Christi reichten? Denn auch dies werde, ebenso wie die Taufe der Kinder, in der Heiligen Schrift eben nicht erwähnt ("...wie men den frouwen dat heilge Sacrament rekent des lychnams und bloides Christi, welches in der schrifft nergendt steht geschreven").

In dieser Diskussion auf dem Rathaus zu Münster im August 1533 war sich Buschius durchaus bewußt, was auf dem Spiel stand. Hier wurde eine Tradition angegriffen, in der er aufgewachsen, die ihn als Humanist geprägt hatte und der er sich auch in seinem jetzigen evangelischen Glaubensbekenntnis zugehörig fühlte. Er umschrieb das mit den folgenden Worten: "So wer es io ein grois wunder, des ich my nicht vernemen kan, das andert halff dusent jair, in welchen so maniger frommer hiliger gottselliger man gelewet hait, de gantze christliche kyrche so blint soll sein und soll solchen gruwell der kinderdoiff begangen haven und allrirst sehende werden in dussen lesten gruwlichen dagen, dar Paulus alle Christer vor warnet. Ja billich soll da ein ideren Christen suspect und verdacht sei, was weder den gebruickder hiligen kerchen 1500 Jair geholden, nu ernuwert tho werden." Könne das alles falsch sein, was 1500 Jahre lang Brauch in der Kirche gewesen sei?

Was immer von den Gegnern der Täufer vorgebracht wurde, Rothmann widerlegte alles Punkt für Punkt in einer scharfen und eindringlichen Diktion. So blieb nach der Disputation alles offen. Zwar untersagte der Rat den Täufern, weitere Neuerungen einzuführen, aber die Dinge nahmen in den nächsten Monaten einen ganz anderen Verlauf. Im Februar 1534 wurde die Bekenntnisfreiheit in Münster eingeführt, und noch im gleichen Monat siegten die Täufer bei der anstehenden Ratswahl. Die in der Form höfliche aber in der Sache letztlich unversöhnliche Konfrontation zwischen Buschius und Rothmann im August 1533 signalisierte das Ende des Münsteraner Humanismus. Es war mehr als nur ein Generationenkonflikt, bei dem der Jüngere schließlich Sieger blieb. Buschius war enttäuscht und erklärte, seine Gesundheit sei den Anstrengungen solcher Dauerdebatten nicht mehr gewachsen. Rothmann seinerseits betrieb bewußt den Bruch mit der Tradition. Immerhin standen sich in dieser Diskussion auch der Sohn eines Schmiedes und der Sohn eines westfälischen Adeligen gegenüber. Geistig-geistlicher und sozialer Konflikt waren dabei kaum auseinanderzuhalten.

Von seinem Sitz in Dülmen aus organisierte der Bischof von Münster Franz von Waldeck die Belagerung der Stadt Münster, nachdem Katholiken und Protestanten aus der Stadt vertrieben worden waren. Der Bischof wurde dabei von anderen Fürsten wie dem Herzog von Kleve unterstützt. Aus Dülmen erhielt Erasmus von Rotterdam nach Freiburg detaillierte Berichte über den Ablauf der Ereignisse in Münster. Die Vorgänge bedrückten ihn. In einem Brief an einen Bekannten in Ferrara kommentierte Erasmus die Situation in Deutschland: "Ich sehe eine tödliche Krankheit voraus. Die Wiedertäufer überfluten Niederdeutschland. In Münster, der Metropole Westfalens, kämpfen sie gegen die Belagerung durch den Bischof und den Herzog von Kleve. Sie haben Enoche und Eliasse und andere Propheten, die für die kommende Fastenzeit das Ende der Welt voraussagen." Am 12. August 1534 gab der junge Jurist Viglius Zuichemius, ein Niederländer im Dienst des Bischofs von Münster, Erasmus einen ausführlichen Bericht über die Täufer in Münster. In diesem Brief erfuhr Erasmus auch von Buschius' Tod. Entrüstung und Abscheu über die Vorgänge in Münster hätten Buschius krank werden lassen. An dieser Krankheit sei er im April gestorben. Die Beziehungen zwischen Erasmus und Buschius hatten sich seit einigen Jahren merklich abgekühlt, da Erasmus ihn - offensichtlich zu unrecht - verdächtigte, gegen ihn zu arbeiten. Später erhielt Erasmus nochmals einen ausführlichen Bericht über das Ende der Täufer in Münster von dem Humanisten Konrad Heresbach, einem Mitarbeiter des Herzogs von Kleve. Dort wurde auch die Rolle Buschius in dem Münsteraner Drama positiv erwähnt. Er habe sich sehr mutig gegen die Lehre der Täufer gestellt., doch sei er bald darauf im nahen Dülmen gestorben, "zweifellos ein äußerst tapferer und ein wirklich unabhängiger Verteidiger der besseren Wissenschaften und der reineren Lehre".

Immerhin hatte Erasmus in einer seiner späten Schriften Buschius und den westfälischen Humanisten nochmals ein gleichsam literarisches Denkmal gesetzt. In dem Dialog "Ciceronianus", der 1528 erschien , heißt es: "Wir dürfen, glaube ich, nicht Westfalen übergehen, das uns Alexander Hegius geschenkt hat. Ein gebildeter, frommer und sprachgewandter Mann, der jedoch den Ruhm gering schätzte und daher auch nicht Großes bewegt hat. - Auch Hermann Buschius kommt von dort. - Seine Dichtung ist gut, seine Prosa ist kraftvoll und voller Scharfsinn. Er ist sehr belesen, hat ein sicheres Urteil und beherrscht eine Vielzahl von Ausdrucksformen. Sein Stil erinnert mehr ans Quintilian als an Cicero". Das waren freundliche Worte, sicherlich. Aber alles in allem fehlte diesen deutschen, auch den westfälischen Humanisten etwas von jener Liberalität und Weltoffenheit, wie man sie bei Erasmus selbst oder etwa bei dem mit ihm befreundeten Thomas Morus in London findet. Auf diesen Mangel hat bereits 1923 Gerhard Ritter in einer kleinen Studie über die "Geschichtliche Bedeutung des deutschen Humanismus" hingewiesen.

1533 kam der etwa 14jährige Hermann Kerssenbrock als Schüler an die Domschule nach Münster. Dort erlebte er die Anfänge der Täuferbewegung. Zusammen mit den Verwandten, bei denen er untergebracht war, verließ er die Stadt im folgenden Jahr. Von 1538 bis 1540 studierte er an der Artistenfakultät der Universität Köln, die nach wie vor, ja verstärkt, von den "Konservativen", die einst Buschius bekämpft hatte, dominiert wurde. Hier erhielt Kerssenbrock vermutlich jene konservative Prägung, die auch den Tenor seiner späteren Täufergeschichte bestimmt. In Köln publizierte er auch 1545 seinen ersten Täuferbericht in Form eines längeren Gedichts in Hexametern in lateinischer Sprache. Er war dem Bischof Franz von Waldeck gewidmet, der die Täufer niedergeworfen hatte. Es folgte eine Tätigkeit als Konrektor in Düsseldorf und in Hamm. 1549 wurde Kerssenbrock die Leitung der Domschule in Münster übertragen.

Die Domschule war in den 1520er Jahren unter Timan Kemner, der zugleich Pfarrer von Lamberti war - bis er dort von Bernhard Rothmann 1532 verdrängt wurde - altkirchlich geblieben, während die beiden anderen Stiftsschulen St. Martini und St. Ludgeri sich bereits lutherisch orientierten. 1534 verließ Kemner wegen der Täufer die Stadt. Er starb 1535. 153O hatte Johann von Elen von Kemner das Rektorat der Domschule übernommen. Vermutlich wurde der Lehrbetrieb, nachdem die Katholiken im Februar 1534 die Stadt verlassen hatten, eingestellt. Nach der Wiedereroberung der Stadt durch Franz von Waldeck nahm Johann von Elen seine Tätigkeit wieder auf. Das Rektorat der Domschule übernahm 1549 Kerssenbrock.

Kerssenbrock übte das Rektorat bis 1575 aus. Mit der Studienordnung von 1551, der "Ratio Studiorum" wurde die Domschule eines der vielen neuen, in ihren Studiengängen streng geregelten humanistischen Gymnasien, die sowohl in den protestantischen wie in den katholischen Ländern in Deutschland errichtet und ausgebaut wurden. Sie alle hatten einen konfessionellen Charakter. In Sachsen betrieb seit den 1540er Jahren, wie bereits erwähnt, der Westfale Johannes Rivius die Schulreform. Dort wie in Münster wurde jetzt auch die Übung der deutschen Sprache in den Unterricht eingeführt.

In der Stadt Münster standen sich in jenen Jahren eine protestantische Partei, die den Rat dominierte, und eine katholische Partei, die vom Domkapitel unterstützt wurde, gegenüber. Kerrssenbrocks Täufergeschichte entsprach den Erwartungen der katholischen Partei. Aber als sie im Manuskript vorlag und in Köln gedruckt werden sollte, stieß die Veröffentlichung auf den erbitterten Widerstand des Rats, der sie zu unterbinden versuchte, nicht zuletzt aufgrund der sehr detaillierten Beschreibung der innerstädtischen Verhältnisse, einschließlich der Verteidigungsanlagen, und einiger kritischer Wertungen beispielsweise der Gilden und des "Schohauses", von dem die Versammlungen der Täufer ihren Ausgang genommen hatten. Kerssenbrock nannte es ein Haus des Satans. 1575 mußte Kerssenbrock, dessen Frau aus einer Münsteraner Patrizierfamilie kam, sein Rektorat aufgeben und die Stadt verlassen. Der Rat der Stadt verfolgte ihn weiter mit Prozessen, um die Publikation der Täufergeschichte zu verhinderten. Später übernahm Kerssenbrock die Leitung von Schulen in Paderborn und Werl und schließlich von 1581 bis zu seinem Tod 1585 die der inzwischen gemischtkonfessionellen Domschule in Osnabrück. Den Druck seiner Täufergeschichte, die bei aller Parteilichkeit eine wichtige Quelle für die Erforschung der Täufer wie der innerstädtischen Verhältnisse in Münster im 16. Jahrhundert geblieben ist, hat er nicht mehr erlebt.

An der Biographie Kerssenbrocks zeigt sich, daß die Zeiten, da die Humanisten die Erfüllung ihrer Träume in der Wiederbelebung der antiken Literatur sahen, vorbei waren. Der ursprüngliche Impuls war nicht vergessen, aber in den neuen Schul- und Studienordnungen fest verzurrt und auch merklich verzerrt. Dabei ging manches an humanistischer Liberalität verloren. Zudem entdeckten einige unter den Humanisten wie beispielsweise Cochläus in Nürnberg, oder Sleidanus, der aus der Eifel stammte, wie eben auch Kerssenbrock ein ganz neues Betätigungsfeld. Um die Erlebnisse ihrer Gegenwart zu verarbeiten, nicht zuletzt die Umbrüche, die die Reformation in Deutschland bewirkt und die diese Autoren selbst miterlebt hatten, schrieben sie Zeitgeschichte. Damit entdeckten sie ein ganz neues, zumindest ein vergessenes Metier geistiger Auseinandersetzung. Anders als ihre Vorgänger, hielten sie die eigene erlebte Gegenwart für wert, sie in der Erinnerung als "Geschichte" festzuhalten. So entstand Kerssenbrocks "Anababtistici Furoris Monasterium Inclitum Westphaliae Motropolim Evertentis Historica Narratio", die Täufergeschichte.

Zeitgeschichte betrieb auch ein anderer westfälischer Humanist und zeitweiliger Schüler der Münsteraner Domschule, später Lehrer und Schulleiter und schließlich evangelischer Superintendent: Hermann Hamelmann. 1526 als Sohn eines Stiftsherrn von St. Johann in Osnabrück geboren, hatte er seit dem Ende der 1530er Jahre die Domschule in Münster besucht, dann in Köln und Mainz studiert, war als katholische Priester in Münster und Kamen tätig gewesen, hatte sich 1555 den Lutheranern angeschlossen, danach Pfarrstellen in Bielefeld und Lemgo bekleidet. Als Superintendent in Oldenburg seit 1573 reformierte er das dortigen Kirchen- und Volksschulwesen. Er starb 1595. Wie Kerssenbrock im Zuge des neuen Konfessionalismus ein katholischer, so wurde Hamelmann ein protestantischer Schriftsteller und Historiker. Parteilichkeit und Objektivität schienen für beide keine Gegensätze zu sein.

Hamelmann verfaßte in Latein eine Geschichte der Reformation in Westfalen und Niedersachsen, verarbeitete also zeitgenössische Erfahrungen in einem regionalen Rahmen. Der westfälischer Regionalstolz war bei Hamelmann ungewöhnlich ausgeprägt. Aus dem Gespür heraus, daß es notwendig sei, die geistigen Leistungen des eigenen Landes, Westfalens, zu behaupten, verfaßte er seit 1563 unermüdlich mehrere historische Schriften, und er erinnerte an das Wirken der Humanisten in Westfalen. Der Titel der ersten Schrift, die 1563 in Lemgo erschien, war bereits ein Programm: "Oratio de quibusdam Wesphaliae viris claris, qui explosa barbarie puritatem Romanae linguae toti Germaniae attulerunt". Es ist eine Geschichte der westfälischen Humanisten von Alexander Hegius und Rudolf Agricola über Rudolf von Langen, Murmellius bis zu Buschius, die neben den bekannteren zahlreiche weniger bekannte Namen aufführt. Sei es nicht auch das Werk dieser westfälischen Humanisten gewesen, fragte Hamelmann, das bewirkt hätte, daß jetzt ganz Deutschland wieder einen Zugang zur antiken Literatur erlangt habe?

1564/65 brachte er gleichfalls in Lemgo eine sechsteilige Gelehrtengeschichte Westfalens heraus ("Illustrium scientia, virtute, pietate et scriptis virorum, qui vel Wesphali fuere, vel in Westfphalia ante nostra tempora vixere"). 1580 folgte eine Kurzfassung der Geschichte der westfälischen Humanisten ("Oratio vel relatio historica quomodo hominibus westphalis potissimum debeatur et asscribendum sit, quod lingua latina et politiores artes per Germaniam sint retitutae priori nitori et elegantiori formae") Im gleichen Jahr 1580 folgte eine Biographie Rudolfs von Langen ("Oratio de Rudolpho Langio") und vier Jahre später eine Biographie Hermann Buschius' ("Narratio de vita, studiis , itineris, scriptis et laboribus Hermanni Buschii, nobilis Westphali").

Anscheinend hatte aber Hamelmann seine Zeitgenossen noch nicht überzeugt. Als der aus den Niederlanden stammende Gelehrte Justus Lipsius in einem Brief nach einer Durchreise durch Westfalen einem Freund geschrieben hatte: "Es gibt nichts Barbarischeres als Westfalen" ( "Crede mihi, amice, barbaria nulla barbaria est prae hac Westphalia."), raffte sich Hamelmann nochmals auf, um 1592 eine Apologie Westfalens ("Apologia pro Westphalis") herauszubringen, die seine früheren Schriften zusammenfaßte und zahlreiche Belegstellen für die Leistungen der westfälischen Humanisten bei verschiedenen Autoren beisteuerte, nicht zuletzt in den Werken des Erasmus. Sein Regionalstolz verleitete Hamelmann, gelegentlich Dichtung und Wahrheit zu vermischen. Er ließ beispielsweise in seinen Geschichten nicht selten junge Humanisten gemeinsam in Deventer studieren, die sich kaum zur gleichen Zeit dort aufgehalten haben konnten.

Heute werden die Leistungen Hamelmanns ebenso wie die Kerssenbrocks von modernen Historikern nicht besonders geschätzt. Beide Autoren werden kaum noch gelesen. Sie gewinnen aber gerade heute an Stellenwert, da man jenseits der Nationen und der nationalen Geschichtsschreibung wieder das Europa verbindende Moment der Regionen entdeckt. Die sympathischsten von Hamelmanns Schriften sind zweifellos die beiden kurzen Biographien Rudolfs von Langen und Hermann Buschius', die belegen, daß Geschichte nicht nur aus Strukturen besteht, sondern auch von Menschen gemacht wird und daß Personen aus der Geschichte nicht wegzudenken sind. Die westfälischen Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts waren sich ihrer Leistungen durchaus bewußt. Ihr Kampf gegen den Obskurantismus und die geistlose Betriebsamkeit und Rechthaberei im überkommenen mittelalterlichen Lehrbetriebs an Schulen und Hochschulen war auch ein Kampf für persönliche Leistung und Bildung. Letztere bestand für sie nicht nur in einer formalen Bildung an alten Texten, sondern sie bedeutete ihnen etwas Lebendiges, das es zu verteidigen galt. Ihnen ging es auch um die Würde des Menschen. Sie bedurfte, wie Buschius schrieb, eines "Schutzwalls der Humanität", eines "vallum humanitatis". Hamelmann hatte recht, wenn er unermüdlich dafür kämpfte, daß die Erinnerung an die Leistungen der westfälischen Humanisten nicht in Vergessenheit geriet.


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