Aus: Thomas Rommelspacher, Das natürliche Recht auf Wasserverschmutzung. Geschichte des Wassers im 19. und 20. Jahrhundert, in: Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Franz-Josef Brüggemeier und Thomas Rommelspacher, München 1987, S. 72f:
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„In den mitteleuropäischen Städten des Mittelalters hatte eine Wasserversorgung auf drei Ebenen bestanden: Die meisten Haushalte versorgten sich aus privaten Hausbrunnen. Ein kleinerer Teil war – oft unter städtischer Kontrolle – genossenschaftliche organisiert. Der geringste, aber seit dem 16. Jahrhundert wachsende Teil erfolgte unter städtischer Verantwortung. Neben vereinzelten Leitungssystemen sicherten vor allem Grundwasserbrunnen die Versorgung. Dieser Standard des Spätmittelalters blieb bis weit in die Neuzeit hinein bestimmend: Bis in das 19. Jahrhundert hinein war eine kombinierte Wasserversorgung aus innerstädtischem Quell- und Grundwasser und ergänzenden Zuleitungen durch ein Holzröhrensystem üblich. Abwässer und Fäkalien wurden entweder in Sickergruben oder über Abzugsrinnen in nahegelegene Gewässer geleitet.
Flußverschmutzung im Zusammenhang mit Industrialisierung und Verstädterung war zunächst in England aufgetreten. 1857 führte sie zum ‚great stink‘ der Themse, durch den sich sogar das Parlament gestört fühlte. Der Bericht einer daraufhin eingesetzten Kommission unterstrich erstmals die Notwendigkeit der Flußreinhaltung. Die Berichte der ‚Rivers Polution Commission‘ (1865, 1868) waren bis zur Jahrhundertwende Standardwerke über Flußverunreinigung. Vergleichbare Probleme gab es auf dem Festland bis dahin nur vereinzelt: In Belgien führte die Verschmutzung der Senne bei Brüssel seit 1859 zu Beschwerden, 1869 kam es in der Seine bei Argenteuil zu einem großen Fischsterben.
Die Zustände der deutschen Flüsse waren, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, bis in die 1870er Jahre hinein nicht mit denen englischer vergleichbar, und eine Gefährdung schien wegen der geringeren Industrialisierung und der größeren Wasserführung deutscher Flüsse in weiter Ferne zu liegen. Die Erwartung trog: Das Wachstum der Städte ließ die Versorgung mit Trinkwasser und die Entsorgung der Abwässer zum Problem werden. Die Wassernot hatte auch städtebauliche Gründe: Das Auffüllen der Befestigungsgräben im Zuge der Stadterweiterungen beseitigte einen Wasserspeicher, der die Brunnen füllte. Das vermehrte Abteufen, das die Ergiebigkeit der Brunnen steigern sollte, erhöhte die Verseuchung durch Latrinen und Gossen und damit die Gefahr von Epidemien. Unter diesem Druck begann um die Mitte des 19. Jahrhunderts (Berlin 1852, Altona 1854, Magdeburg 1858) die Einrichtung zentraler Wasserversorgungssysteme, die die traditionellen innerstädtischen Brunnen langsam verdrängten. Neben Projekten für ein geschlossenes Versorgungsnetz, das sich auf Flußwasser und Fernzuleitungen stützte, gab es Positionen, die die Trinkwasserbrunnen sanieren und den Mehrbedarf mit einer eigenen Zuleitung für Brauchwasser abdecken wollten. Diese Ansätze wären vielleicht realistisch gewesen, hätte nicht die Schwemmkanalisation, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt wurde, den Wasserbedarf noch zusätzlich gesteigert. Sie führte Abwässer und Exkremente rasch ab, hatte jedoch Folgeprobleme: Der Abwasserfluß benötigt große Wassermengen, um Stockungen in den Kanälen zu vermeiden, die Beseitigung erfolgte um den Preis der Flußverschmutzung. So begann die Auseinandersetzung um die Flußverunreinigung trotz der ebenfalls bedeutsamen industriellen Einleitung (1877 beklagten sich in Sachsen 140 Orte über Flußverschmutzung: nur 7 % der 273 genannten Ursachen wurden Kommunen angelastet, 93 % Betrieben) in den 1870er Jahren als Fortsetzung der Debatte um die Städtereinigung.“
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