1847 schrieb der Staatswissenschaftler Robert Mohl über die Auswanderungsflut:
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Wir werfen nicht erst lange die Frage auf, ob Auswanderung für Deutschland notwendig sei und ob sie nicht etwa durch Verbesserung inländischer Zustände ganz verhindert werden könnte. Für uns ist die Antwort hierauf unzweifelhaft. Wir halten eine bedeutende, regelmäßige Auswanderung für Deutschland unerläßlich. Nicht etwa, daß wir den dadurch an geistigem und sachlichem Kapital zugehenden Schaden nicht einsähen und bedauerten. Ebenfalls nicht, als ob wir nicht wüßten, daß noch sehr vieles zur Verbesserung der staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des deutschen Volkes geschehen könnte und sollte und daß dann für manchen der Grund zur Auswanderung wegfiele. Allein wir sind überzeugt, daß in vielen Teilen Deutschlands die Bevölkerung so groß, die Möglichkeiten eines genügenden Unterhaltes dagegen, namentlich für das künftige noch zahlreichere Geschlecht, jeden Falles so beschränkt ist, daß eine regelmäßige Zurückführung der überschüssigen Bevölkerung auf ein den jeweiligen Umständen entsprechendes Maß sowohl für die Bleibenden als für die Wegziehenden ein Bedürfnis und ein Glück ist. Man gebe sich immerhin die äußerste Mühe für Verbesserung, man befreie den Boden von seinen Lasten, fördere eine richtige Teilung desselben, schütze die Gewerbe gegen übermächtige Konkurrenz des Auslandes, erleichtere den Verkehr auf alle Art: die Zurückbleibenden haben dies alles notwendig; und wenn auch noch so viele gehen, noch weit mehrere sind großer Nachhilfe im Lande höchst bedürftig. Erst wenn ihrer nicht mehr zu viele für die Kräfte und die Ernährungsfähigkeit des Landes, diese aber in möglichst glücklichen Zustand gebracht sind, ist der richtige Zustand vorhanden; nicht aber, wenn man mit äußerster Anstrengung alle im Lande beieinander behält und sie dann gegen die letzte Not zu bewahren sucht. Also, wie gesagt, eine regelmäßige und eine bedeutende Auswanderung aus Deutschland sehen wir als einen notwendigen und naturgemäßen, also nützlichen Zustand an.
Für uns also handelt es sich nur von möglichst guter Bestellung und Leitung dieser Auswanderung. Und wahrlich, die Aufgabe ist eine schwierige. Vielleicht keiner Angelegenheit tritt die Zersplitterung Deutschlands so schmerzlich und hemmend entgegen als eben hier; und doppelt traurig ist daher, daß man sich auch nicht, in Ermanglung des Ganzen, wenigstens an den Zollverein halten kann, da dieser in seiner Ausgangsphase, dem Steuervereine, steckenbleibt. Wie nötig aber aus Gründen der Menschlichkeit, der Nationallehre und des Vorteils eine umfassende und ausreichende Hilfe wäre, braucht doch in der Tat nicht noch einmal gesagt zu werden. Aus Deutschland wandern jährlich 60000 Menschen aus; dieselben nehmen an geistigen und körperlichen Kräften ein höchst bedeutendes Kapital mit sich; der bare Geldverlust an Reisekosten und mitgehender Habe ist zum mindesten auf 15 bis 20 Millionen Gulden jährlich anzuschlagen: wir aber haben davon weder im Innern Erleichterung, noch im Auslande irgendeinen materiellen oder sittlichen Gewinn, im Gegenteile vielmehr Schmach und Mißachtung. Nirgends ist dafür gesorgt, daß nur solche gehen, welche man am leichtesten entbehren kann. Es ist die Auswanderung lediglich dem Zufalle und der Laune der ungebildetsten Volksklassen überlassen, weshalb denn auch nur allzuhäufig Bürger gehen, welche dem Vaterlande zu dessen und zu ihrem eignen Wohl erhalten werden könnten, wenn ihnen durch den Wegzug Überflüssigerer Luft verschafft würde; während umgekehrt die Proletarier, die Mißvergnügten und die Gefährlichen bleiben aus Mangel an Anstoß und an Reisemitteln. Für die Wegziehenden, seien sie nun wer sie wollen, ist so gut als gar nicht gesorgt. Abgerechnet einige allgemeine Warnungen und schlecht befolgte Vorschriften gegen offenbaren Betrug, überläßt man die in der Regel durch Unkenntnis der Sprachen und der Verhältnisse fremder Länder sowie des bei einer Seefahrt zu Beachtenden ganz Schutz- und Hilflosen lediglich ihrem Schicksale. Sie mögen also durch schlecht gewählte Reisewege ihr geringes Vermögen schon unterwegs aufzehren, durch Seelenverkäufer geplündert, vielleicht betrügerisch in tödliche Himmelsstriche geführt, auf den Schiffen bis zum Erliegen mißhandelt werden. Es ist ihnen freigestellt, in dem Lande ihrer Wahl sich an unpassenden Orten umherzutreiben, bis sie ins tiefste Elend versinken und selbst die Familien auseinander gerissen werden; es wird ihnen keine Weisung gegeben, wo sie bereits angesiedelte Landsleute zu suchen haben, in deren Nähe sie sich leichter zurechtfinden könnten; sie haben sich in dem fremden Lande und Weltteile anzukaufen oder sonst anzusiedeln ohne Kenntnis von dessen Gesetzen über Grundbesitz oder von dessen örtlichen Bedürfnissen an Arbeit und Gewerben. Glücklich, wer irgendwie und irgendwo durchkommt; desto schlimmer für diejenigen, welche zugrunde gehen. Ist es aber dann ein Wunder, wenn unsere früheren Mitbürger, anstatt daß sie in ihren neuen Aufenthaltsorten der Heimat mit Liebe gedächten, ihre geistigen und sachlichen Bedürfnisse vorzugsweise aus Deutschland bezögen, deutsche Art und Bildung erhielten, wohl gar zu verbreiten suchten, in einer neuen Welt das ursprüngliche germanische Element befestigten und ihm so den gebührenden Anteil an der bevorstehenden weiteren Entwicklung der menschlichen Gesittigung verschafften, sich mit Hast losreißen von der Gesellschaft, welche sie unbekümmert in die weite feindliche Welt gestoßen hat; wenn sie möglichst schnell dem neuen Volke sich völlig einzuverleiben suchen und in der Verstreuung unter demselben die angeborene Nationalität verlieren? Und kann es anders sein, als daß die Fremden, wenn sie diese Haufen ratloser und ungebildeter Bettler Welle auf Welle ankommen sehen, eine tiefe Verachtung vor unseren Zuständen, vor uns selbst bekommen?“
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Aus: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 4, 1847, S. 320-326.
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