Aus: Lothar Machtan/René Ott, Erwerbsarbeit als Gesundheitsrisiko. Zum historischen Umgang mit einem virulenten Problem, in: Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Franz-Josef Brüggemeier und Thomas Rommelspacher, München 1987, S. 124f:
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„Arbeit ist so untrennbar mit Gefährdung der Gesundheit verbunden, daß in vorindustriellen Zeiten arbeitsbedingte und allgemein-lebensweltliche Risiken lediglich in einigen Sonderfällen – wie Berg- und Hüttenwesen, Schifahrt und Berufsmilitär – unterschieden wurden. Erst im 18. Jahrhundert, bei sich verstärkender Arbeitsteilung und dem Aufkommen neuer Berufe, entdeckte man (und das waren zunächst nur wenige Ärzte) die Gesundheitsschädlichkeit einer immer größeren Zahl von Berufstätigen, wie z.B. Spiegelbelegen mit Quecksilber, Schleifen von Stahl und dergleichen!
Das ‚Fabrikwesen‘, die beginnende Industrialisierung, vermehrte die vorhandenen Gefahren, da neue, unfallträchtige Maschinen sowie neue Werk- und Hilfsstoffe eingesetzt wurden. Auch das Binnenklima der Fabriken: Rauch, Staub, Gas, Feuchtigkeit und Hitze oder Kälte, ungenügende Beleuchtung oder grelles Licht, Lärm, das Fehlen sanitärer Anlagen und die zu enge Aufstellung der Maschinen gefährdeten die Arbeiter. Zudem bedeutete Fabrikarbeit eine höhere Belastung gegenüber etwa bäuerlicher oder handwerklicher Arbeit wegen ihrer Monotonie, ihres meist repetitiven Charakters und des mit ihr verbundenen Kontroll- und Disziplinarwesens.
Die Arbeits- und Lohnverhältnisse trugen kaum weniger zur Gesundheitsgefährdung bei: 12- bis 16stündige Arbeitszeiten, Arbeitshetze und ein fremdbestimmter Arbeitsrhythmus schwächten die physischen und psychischen Abwehrkräfte, z.B. die Aufmerksamkeit gegenüber Gefahrenquellen. Außerdem litt die arbeitende Bevölkerung aufgrund niedriger Löhne an mangelhafter Ernährung und Kleidung, elenden Wohnverhältnissen, aber auch an den Folgen der industriellen Zusammenballungen wie fehlender Stadthygiene und dergleichen.
Solche Verhältnisse konnten sich entwickeln, weil der frühindustrielle Unternehmer über seinen Betrieb eine volle, nur von den Normen des Straf- und bürgerlichen Rechts eingegrenzte Dispositionsfreiheit besaß und der Staat nur sehr zögernd und wenig wirksam in diese eingriff. So konnte der Fabrikant seinen Betrieb ganz im S inne des Kosten-Nutzen-Prinzips ausrichten, gleichgültig, wie gesundheitsgefährlich seine Anordnungen für die Arbeiter waren. Menschliche Arbeitskraft war für ihn eine Ressource, deren Gebrauch mit der Lohnzahlung abgegolten war, und die genauso vernutzt werden konnte wie die Ressourcen Luft, Wasser, Boden und Rohstoffe.
Im Zunfthandwerk des Spätmittelalters galt der Grundsatz: ‚Hat der Meister den Gesellen gehalten in Gesundheit, so hat er ihn auch in Krankheit zu erhalten‘, nunmehr jedoch waren die arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren zum privaten Risiko des Arbeiters geworden. Die traditionellen Auffangmechanismen, z.B. die Selbsthilfeorganisationen der Handwerker, griffen entweder nicht, weil die Fabrikarbeiter außerhalb der Zünfte standen, oder sie waren bald hoffnungslos überfordert – wie das kommunale Armenwesen, das meist nur noch die äußerste Not lindern konnte. Außerhalb des Bergbaus und des Hüttenwesens, wo durch die Knappschaftskassen ein gewisser Schutz vorhanden war, kamen nur vereinzelte Fabrikkrankenkassen für die Heilkosten auf, kaum aber für den Lohnausfall. Sowohl wegen der Dürftigkeit dieser Leistungen als auch wegen einer Abneigung gegen unternehmerische Bevormundung gründeten mancherorts Arbeiter eigene, selbstverwaltete Hilfskassen.“
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