Aus: Bernd Wagner, Armut, Krankheit und Gesundheitswesen im vorindustriellen Bielefeld, in: 77. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 1988/1989, S. 102f:
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„Gehörte Armut noch im 18. Jahrhundert zum festen Bestandteil jeder Stadt, an deren Bewältigung sich der ‚Wohltätigkeitssinn‘ der kommunalen Verwaltung und der ‚Stadtbürger‘ messen ließ, so hatte der vormärzliche Pauperismus eine neue Qualität: Neben den in Armut lebenden Unterschichten war auch der ‚alte Mittelstand‘ gefährdet, in die Hilfsbedürftigkeit abzugleiten. Die Auseinandersetzung der kommunalen Verwaltung und des aufgeklärten und wohlhabenden Bürgertums mit der durch die Massenarmut provozierten ‚sozialen Frage‘ führte in Bielefeld letztlich zur Errichtung eines Krankenhauses, in dem ärmere und in Not geratene Bevölkerungsschichten gepflegt werden sollten. Folgende Entwicklungslinien lassen sich dabei ausmachen:
1. Das bereits im 18. Jahrhundert einsetzende Bevölkerungswachstum schlug sich disproportional auf die Bevölkerungsschichten nieder; die Unterschichten wuchsen weitaus stärker als die Mittel- und Oberschichten. Selbst in der wirtschaftlichen Aufschwungphase in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als Bielefeld in den Ruf kam, eine reiche Kaufmannstadt zu sein, lebten große Teile der Bevölkerung in Not. Die ‚soziale Ungleichheit‘ manifestierte sich vor allem in den Wohnverhältnissen und in der Ernährungslage. Bereits die Zeitgenossen erkannten, daß die vorherrschenden Lebensbedingungen der Unterschichten Krankheiten in einem hohen Maße disponierten; bei den Unterschichten wurde eine hohe Morbidität wahrgenommen. Obgleich das Leben in der Grauzone der Armut weite Bevölkerungsschichten einschloß, konzentrierte sich das kommunale und bürgerliche Engagement zunächst auf die Klientel der Armenverwaltung, auf die ‚Etatsarmen‘ der Stadt. Für sie standen seit 1807 Armenärzte zur Verfügung, die ihre Hilfe kostenfrei anbieten mußten.
2. Mit dem Einsetzen der strukturellen Krisen in der Textilindustrie seit den 1820er Jahren und den agrarischen Krisen vom ‚type ancien" wuchs die Anzahl der am Rande des Existenzminimums lebenden Menschen zusehends. Heuerlings- und Spinnerfamilien und manchmal auch Weberfamilien waren gleicherweise von Armut und Not betroffen wie Gesellen und verarmte Handwerksmeister. Obgleich bei weitem nicht alle unter ärmlichen Verhältnissen lebenden Einwohner Bielefelds sich an die kommunale Armenverwaltung wandten, konzentrierte sich die Stadt weiterhin auf die überschaubare Gruppe der ‚Etatsarmen‘. Mit der Einrichtung von Spinnschulen [seit 1825] sollten ihnen nicht nur Arbeit verschafft, sondern auch die Fähigkeit vermittelt werden, qualitativ hochwertige Erzeugnisse herzustellen. Diese Maßnahme war jedoch aufgrund der Konkurrenz durch das Maschinengarn zum Scheitern verurteilt. Die Spinnstuben waren letztlich nicht mehr als sozial-disziplinierende Anstalten, die die Insassen von der Straße und damit von der Bettelei fernhielten.
3. Erst die Konfrontation mit der Choleraepidemie von 1831/32 hatte zur Folge, daß Krankheiten der Unterschichten zusehends in das Blickfeld der wohlhabenden Bevölkerung gerieten. Die Erfahrung, daß Reichtum nicht vor Krankheiten schützen kann, wurde in die Forderung transformiert, ein Krankenhaus zu errichten. Das Interesse der wohlhabenden Einwohner, sich vor weiteren Epidemien zu schützen, stand aber noch jenem der Armenverwaltung gegenüber, die Kosten für die ‚Etatsarmen‘ zu minimieren. Letztere sah in der Errichtung einer Armenanstalt [Arbeits- und Krankenhaus] die Lösung des Armutsproblems. Erst die Intervention des Bielefelder Arztes J.C. Beckhaus, der sich auf das Interesse des preußischen Staates berufen konnte, wirksame Maßnahmen gegen ansteckende Krankheiten durchzuführen, hatte in Bielefeld einen Einstellungswandel zur Folge. Nun ging es nicht mehr darum, die anerkannten Stadtarmen zu versorgen, sondern es sollte jenen Einwohnern, deren Lebensbedingungen Krankheiten in einem hohen Maße disponierten, die Möglichkeit eingeräumt werden, sich unter ärztlicher Obhut stationär behandeln zu lassen. Das war aber nur möglich, wenn das projektierte Krankenhaus von dem Stigma, ein Armenhaus zu sein, befreit wurde. In der Planungsphase der Anstalt wurde eben das erreicht, indem neben der Armenkommission auch der Magistrat als Verwalter des Krankenhauses in Erscheinung trat. Durch diesen Schritt konnte sich auch der ‚alte Mittelstand‘ an das Krankenhaus wenden, ohne Gefahr zu laufen, seine ‚Ehre‘ zu verlieren.“
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